Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
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Gedankenstriche-Map
Gedankenstriche Teil II ab 185


Auf der Suche nach einem Mittel der Wahrnehmung...

 Gedankenstrich 91

Das Staunen über das Selbstverständliche
Über Benjamin, Kafka und die Wahrheit...

motiviert durch Axel Grubes Beitrag auf youtube

Franz Kafka ist sicher ein sehr außergewöhnlicher Autor.

Ob er Briefe schrieb, Kurzgeschichten, Erzählungen, Parabeln, Fabeln, Roman(fragment)e - immer hatte er seinen eigenen, ganz eigenartigen Stil, seine eigene Form in einer absoluten Eigenwilligkeit. So ist es zweifellos berechtigt, eine ganze ästhetische Kategorie nach ihm zu benennen: kafkaesk. Bei alldem ist Franz Kafka unpretentiös! Er hat nicht den Ehrgeiz, Aufmerksamkeit zu erheischen, er ist kein Effekthascher. Seine Literatur gehört einfach zu seinem Leben, wie seine Ohren, Augen, Nase, Hände, Beine zu seinem Körper. Sie ist, wie sie ist, und kann viel anders nicht sein. Sie macht Kafka zu einer literarischen Existenz - sie macht Kafka kafkaesk. Es handelt sich um ein Individuum, nichts ist so bestätigt, wie Kafkas Einzigartigkeit, in den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Er ist 1883 in Prag geboren, zur Jahrhundertwende ist er 17 Jahre alt, ein junger erwachsener Mensch, der Ausdruck "Teenie" würde ihn kränkend verniedlichen. Im Grunde sollte sich niemand diesen Ausdruck für sich ab 14 Jahren gefallen lassen. Denn da endet das Kindliche und es beginnt der Prozess! In einem Gedicht formuliert es Beckett in etwa so für die menschliche Existenz: sie kommen; andere und gleiche, bei jeder (Person, Persönlichkeit) ist es anders und ist es gleich. Ich hatte den Gedanken, dass der existenzialistische Satz, dass das Sein, also die Existenz der Essenz, also dem Sinn vorausgehe, etwas genauer zu fassen sei, was im Existenzialismus durch den Zusatz des Begriffs "Engagement" geschieht. Ich würde aber, um es abzukürzen, statt von "Existenz" von "Leben" sprechen. Ein Leben ohne Engagement gibt es nicht; auch Pflanzen engagieren sich, streuen Samen, bilden Wurzeln, senden Düfte aus, wachsen und blühen, tragen Früchte usw. jede auf ihre Weise individuell und nach ihrer kategorialen Art. Vieles hängt von Rahmenbedingungen wie Standort, Klima usw. ab, das Leben hat aber auch eine jedem Lebewesen innewohnende antreibende Kraft, den Elan Vital. Was aus diesem Antrieb erwächst, ist Engagement, Aktivität, Wille oder wie man es sonst nennen mag - man kann der Worte viele machen, sollte sich aber nur nicht in einen rationalistischen, begriffsfetischistischen Streit der Sprachverwirrung babilonischer Art begeben. Das endet in Rechthaberei und Verwirrung. Dostojewskij beschreibt es sehr schön in seinem Roman "Die Dämonen", und Wikipedia sagt, Franz Kafka sei u.a. von Dostojewskij beeinflusst. Vielleicht kann man auch sagen: beeindruckt, wie Dostojewskij Seite um Seite mit so viel Leben füllen kann, wenn er erzählt. Kafka steht da, wo nach Philosophiehistorikern die Philosophie beginnt: Albert von Schirnding sagt: "Am Anfang war das Staunen" - so fängt die Philosophie an, und bei Kafkas Staunen über das Leben, die Welt, wird die Philosophie kafkaesk. Was Menschen zu sein und zu praktizieren belieben, versetzt Kafka in Staunen. Das kann auch ein Postschalter oder eine Behörde sein.


 Gedankenstrich 92

Ich steige aus aus dem Universiätren, was heuchlerisch "akademisch" genannt wird. Nein, die Universitäten waren damals schon nicht akademisch, als ich vor vierzig Jahren mich immatrikulierte; sie waren kurz davor, vor dem Utilitaristischen und Merkantilen, dem Ökonomismus zusammenzubrechen, als ich jung und naiv das einsturzgefährdete betrat. Kein Warnschild deutete auf die Einsturzgefahr: «Betreten für Idealisten, Romantiker, Narren verboten! Dichter haften für ihre Träume!» Am Ende der Poesie: das Scheinstudium! «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen», sagt Albert Camus. Und ich denke: «Und Franz Kafka als einen unglücklichen?»

Und ich frage mich: warum? Ohne damit unbedingt Camus widersprechen zu wollen. Das Rebellische an und für sich erscheint mir etwas zu wenig. Es gibt noch etwas hinter dem Rebellischen. Camus erzählt es so:
Als er aber diese Welt noch einmal geschaut, das Wasser und die Sonne, die warmen Steine und das Meer wieder geschmeckt hatte, wollte er nicht mehr ins Schattenreich zurück. Alle Aufforderungen, Zornausbrüche und Warnungen fruchteten nichts. [...] sein Hass gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustandebringt. Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt. [...] wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloss legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganz menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände.
Und Kafka sagt, es gebe ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nannten, sei ein Zögern. Ein Zögern und keine Lust! Der Schluss des Camus-Zitates erinnert an ein Bild des sozialistischen Realismus. Die Figur wird heroisiert. Das Absurde aber braucht eigentlich keine Helden und schon gar keine Heroisierung der Opfer. Was wir uns mit Hilfe von Sisyphos vorstellen können, ist seine große Lebenslust:, die bei Kafka schwindsüchtig wird. Bei Camus aber ist der, der «...diese Welt noch einmal geschaut», das Meer, die Sonne, die Luft bleibt "natürlich" diesem Leben treu. Was soll er in der Unterwelt? Im Totenreich? Sisyphos' Welt ist nicht die der Büros, Telefone, Milchglasscheiben, endlosen Flure, Schreibmaschinen, Antragsformulare und Formalismen, der Paragraphen und ihrer endlos ausdeutenden Kommentare, Vorschriften, Anordnungen, Verordnungen und Hierarchien. Ihn interessiert die Liebe seiner Frau sekundär. Hinter dem Rebellischen steckt die Energie der Lebenslust. Das ist es, was ihn motiviert, woran ich nichts Absurdes erkenne. Lust und Leben können sehr gut eine Synthese bilden. Diese Synthese aber wird durch Mächte, die nicht wohlwollend sind, gestört, die Störung wächst zum Schicksal heran und unterwirft das Leben absurden Rahmenbedingungen: im Gleichnis dem Rollen des Felsen in der Unterwelt und Camus zieht selbst die Parallele zur Arbeitswelt der Moderne, der Fabriken, des Industrieproletariats. Dafür hatte schon Charlie Chaplin in seinem Film "Modern Times" mit dem Tramp in der Fabrik, erst am Fließband, dann zwischen den Zahnrädern unaufhörlich schraubend, ein treffliches Bild geschaffen. Nicht der Tramp an sich ist schon absurd, das Absurde entsteht in Relation des Individuums zu seinem sozial-ökonomischen Kontext.
Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd.
Da trifft Camus die Unterscheidung zwischen dem Absurden und dem Tragischen. Tragisch werde die absurde Lage nur, wenn sich der arbeitende Mensch seiner Situation bewusst werde. Doch das Tragische beinhaltet den unausweichlichen Untergang des absurden Helden, der im Absurden lebenden Menschen. Was aber ist tatsächlich unausweichlich? Gibt es nicht den Spruch: «etwas Besseres als den Tod finden wir überall»? Und ist es nicht so, dass das Proletariat nichts zu verlieren hat als seine Ketten? Hier muss noch einmal über die Verachtung des Schicksals nachgedacht werden, wenn Camus behauptet, es gebe kein Schicksal, was nicht durch Verachtung überwunden werden könne.


 Gedankenstrich 93

Die Honig-Metapher hat es mir beim Vollmondtalk mit Nicole Herber angetan und ich bleibe daran gedanklich kleben. Mindestens einen Gedankenstrich lang! Wir sprachen über das "süße", "schöne", "gute" Leben. Und ich betonte schon am Anfang, dass die drei genannten Attribute nicht synonym zu verstehen seien. Das "Süße" muss nicht "schön" sein, das "Schöne" nicht "süß". Etwas außenvor blieb bei diesem Gedanken das "gute Leben". Darauf einzugehen, wird, so nötig es ist, die Länge eines Gedankenstrichs gewiss sprengen. Da spielen Assoziationen an das "erfüllte" oder in sozialer Sicherheit oder in Wohlstand gelebte Leben ebenso eine Rolle, wie die moralische Auffassung des Wortes "gut" im Sinne eines ethisch korrekt gelebten Lebens. Bei der Betrachtung der Attribute "süß" und "schön", sei das moralisch Gute erst einmal ausgeklammert. Denken wir an den Honig, können wir ihn süß und gesund nennen, seine Farbe und Erscheinung können schön sein und gut wäre der Honig im außermoralischen Sinne auch mit seinen Eigenschaften gesund, nahrhaft und vitalisierend. Ebenso gilt aber auch, dass wir von Honig allein nicht leben wollten und wir uns an ihm auch satt essen und seiner überdrüssig werden können. Wir können ihn an den Fingern auch als unangenehm klebrig empfinden, so dass er für uns durchaus auch negative Seiten hätte.

Davon abgesehen, können wir die Entstehung des Honigs, von der Arbeit der Imker angefangen bis hin zum Sammeln des Blütenstaubs und der Vertreibung der Dronen aus dem Nest in einem breiteren Kontext sehen und kommen nicht umhin festzuhalten, dass der Honig seinen Preis hat und für seine Entstehung Bienen wie Menschen ihren Tribut zahlen müssen. Über das honigsüße Leben zu sprechen, den "Honigmond" im Munde zu führen, aber die Prozesse der Herstellung aus dem Blick zu lassen, wäre ein schlimmer Fehler der Entfremdung und des entfremdeten Lebens, das wir leider in den westlichen Konsumgesellschaften zu führen gewohnt sind, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist und eines gewissen geistigen Arbeitsaufwandes bedarf, wenn wir das Selbstverständliche und Habituelle unserer Lebensweise hinterfragen wollen. Nicht nur hat der Mond eine dunkle Seite, sondern auch der Honig eine bittere bei seiner Entstehung bzw. Herstellung, und wenn wir es auf unsere Lebensweise etwas ausweiten: bis hin zur Gefährdung der Bienen als Gattung durch die Gifte, die in der Landwirtschaft verwendet werden. Der Vollmond kann eine mahnende Metapher sein, auch wenn er nur an einem Tag in seiner vollen Fülle Sichtbarkeit erlangt, auch dann ganz bedacht zu werden, wenn er uns alles andere erscheint als rund. Schon der erste Vollmondtalk stand unter dem Titel: "Von der Aktualität des Vollmonds in dreißig Tagen". Die Wahrheit ist, mit Hegel gesprochen, die Gesamtheit aller Aspekte der Welt, wobei ich sagen würde, dass wir uns dieser Gesamtheit nur annähern können, da sie changierend und dynamisch ist, und wie ein Kreis nie vollständig zu berechnen und zugleich auch mehr als die Summe der einzelnen Aspekte und Perspektiven.


 Gedankenstrich 94

Nachträge

Im Zusammenhang des Absurden, wie Camus Sisyphos beschreibt, worin er die Tragik sieht, die Rebellion, auch im Zusammenhang der im Gedankenstrich 87 zitierten Freundin (sie schreibt mir nicht mehr. Momentan warte ich mit wachsender Ungeduld auf ein paar Zeilen auf meine Mails an sie, denke an ihre Situation, an ihre Erlebnisse und an das, was sie mir in ihren letzten Mails schrieb, versuche alles andere auszumalen, vor allem Erklärungen, warum sie mir womöglich nicht antwortet, und dass meine Befürchtung, sie schreibe mir nicht, weil ich sie ungefragt zitiert habe, unberechtigt sei), im Zusammenhang mit der Honig-Metapher, bei der ich auch und ja, vornehmlich an die Arbeit der Bienen im Bienenstock gedacht habe, komme ich noch einmal auf mein Nein zurück. es ist, wenn überhaupt, dann nur ein dialektisches Nein gegen die Aussage, dass unsere Demokratie nicht das leistet, was sie in der Verfassung verspricht. Nein, und darin stimme ich ja der Freundin völlig zu, dass man «derzeit [...] nicht hoffen [kann], dass unsere Volksvertreter das Wohl der Menschen als oberstes Ziel sehen»; in der Tat ist keine Hoffnung auf diese Demokratie zu setzen. Der Parteienparlamentarismus hat die Idee der Demokratie ad absurdum geführt. Und nein, niemand zieht daraus die Konsequenzen, zu einer Vergrößerung der freiheitlichen Demokratie; entweder wird der Parlamentarismus verteidigt oder Richtung Autoritarismus weiter beschnitten. Wie wahr, dass derzeit wenig Anlass auf Hoffnung besteht, weshalb sich in mir Weltschmerz und Melancholie breit machen, ich nach menschlichem Zusammenhalt suche und sehr ängstlich bin, noch mehr enttäuscht zu werden. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber und es ist bewundernswert, wie Eugen Drewermann, den mir übrigens jene Freundin sehr ans Herz gelegt hat, gegen die Angst spricht. Seine Äußerungen, seine Reden für den Frieden und für Friedfertigkeit, sind nicht nur intellektuell zu rezipieren, sie müssen in uns ein politisches Feuer entfachen für eine Energie der Freiheit, die auch Angstfreiheit in sich einschließt. Vielleicht verschwindet mit der Angst auch die Melancholie, was nicht bedeutet, in einen blinden Aktionismus zu verfallen. Es gilt nicht darum, Dinge zu tun, von denen man sich "erfolg" verspricht, sondern dies zu tun, was man für richtig hält, ganz egal, wie die Erfolgsaussichten aussehen. Also werde ich einen Gedankenstrich nach dem andern setzen! Es gibt viel zu denken und viel zu streichen.

Ich kann das Vokabular des Parlamentarismus nicht guten Gewissens verwenden und z.B. von «unseren Volksvertretern» sprechen, nicht einmal in Ironie. Denn mir ist die Ironie noch viel zu nahe an dem, was sie ironisiert. Ich kann mit Hamlet in seinem Monolog sprechend sagen: Mir ist die Welt ekel, schal und flach! Ich sehe kein "wir", ich will auch nicht "Volk" sein, ich will mich nicht "vertreten" lassen und gebe bei Wahlen und auch sonst nicht meine "Stimme ab". Nein, ich spreche und schreibe, vernetze und diskutiere, ich ziehe meine Gedankenstriche und mit ihnen meine Kreise.



Mich hat niemand gefragt, was das heißen soll; dabei wäre es eine interaktive Leichtigkeit gewesen. Und ich hätte geantwortet und mich sehr gefreut, wenn es jemandem in den Sinn gekommen wäre; aber wer sollte das sein? Warum sollte sich jemand mit den Seiten eines unbekannten und daher unbedeutenden Philosophen, der nicht einmal einen ordentlichen institutionellen Abschluss hat, beschäftigen? Der Abschluss und die Trophäen der Verlagsnamen garantieren und verbürgen Qualität, nicht irgendein "unsichtbar sichtbarer Text im Netz" - da kann ja jeder schreiben! Aber wäre nicht gerade das dann für die Rezeption emanzipatorisch, wenn sich auch jeder sein eigenes Urteil ohne zuvor gesetzte Duftnoten und Signale bilden könnte? Wäre das nicht der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, anstatt "informiert" zu sein?

Wer bitte schön sollte auf die Idee kommen, sich vom Browser den Seitemquelltext anzeigen zu lassen, um dort zu sehen, was "unsichtbar" markiert plötzlich auch lesbar würde?

Wozu diese Medienkompetenz, wenn man sich doch so schön an die gescheinheiligten Bücher auf Buchmessen und Bestsellerlisten halten kann? Zu viel Formspielerei mit HTML kann Philosophie nicht sein! Das kann ja jeder!

"Heutzutage" gehört längst der Vergangenheit an, als Camus 1942 seinen Essay veröffentlichte. Ein Versuch über das Absurde. 80 Jahre später erlebt der Werktätige, dass ganze Fabrikanlagen, Produktionsstätten und Produktionsstraßen einfach ins Ausland verschoben werden können, wenn dort die Löhne niedriger sind. Aus der Idee, dass Proletarier aller Länder sich vereinigen sollten, ist nichts geworden und dass Solidarität die «Zärtlichkeit der Völker» sei, ist nur ein Gerücht. Wer "Zärtlichkeit" auch nur hört, denkt an Sex. Willkommen im 21. Jahrhundert! Das Absurde ist nicht mehr absurd. Es ist Normalität pur und was als absurd auffällt, ist, wenn jemand essentialistisch auf Substanz und Wesentliches besteht. Show, Selbstdarstellung, selbstverliebte Eitelkeit: gut Aussehen ist alles! Natürlich war es keinen Fehler, den platonisch-aristotelischen Essentialismus zu kritisieren; aber dass sich diese Kritik sich dialektisch in ihr Gegenteil verkehren könnte, hat niemand mitbedacht. Vielleicht Adorno, der eine Kritik der Kulturindustrie zu formulieren wusste, was nun auch seine achtzig jahre auf dem Buckel hat. Nein, die Dialektik der Aufklärung hat nicht an Aktualität verloren, sie wurde bittere herrschende Realität, die alles vernichtet hat, was das Denken des 20. Jahrhunderts ausmachen konnte. Selbst die Existentialisten hatten den Habitus der substantiellen Ernsthaftigkeit. Ihre Philosophie wollte wirken und Wirklichkeit gestalten. Heute wird gewirkt und Wirklichkeit gestaltet, wenn die Präsenz auf den Bestsellerlisten, Talkshows, Medien und modischer Öffentlichkeit gesichert ist. Die Agitatoren machen Show: die besten Beispiele dafür sind Aladin El-Mafaalani und Richard David Precht. Sie bedienen Marktsegmente der Öffentlichkeit, spielen Rollen, sind Maskerade einer Intellektualität, die substanzlos ist. Sollte so die Kritik am platonisch-aristotelischen Denken enden? Wer hätte das je gedacht? Da nimmt einer einen Spontispruch aus den 80er Jahren und macht ihn zum Buchtitel, füllt den Buchdeckel mit Textseiten und fertig: Wer bin ich, wenn ja, wieviele? Du bist die Unendlichkeit multipliziert mit Null! Dabei kann überhaupt nicht gesagt werden, dass einiges oder vieles falsch sei, was die Schauspieler des Geistes von sich geben; wichtig ist, dass es nicht echt ist! Da gibt es eben die Kategorie neben "wahr" und "falsch", "echt" oder "unecht". Ein Mord auf der Bühne ist unecht, sei er noch so motiviert dargestellt. Die Fiktion wird zur Philosophie, Soziologie oder Medientheorie. Nichts davon ist wirklich im Sinne von wirksam. Wer auf Wirkung besteht, auf Veränderung, auf Verbesserung, kann sich zu Platon ins Grab legen, wenn er denn weiß, wo es ist. Für mich ist das größte und einzig wirkliche Rätsel der Philosophie, wie so viel Denken so folgenlos bleiben konnte. Das Absurde denken und das Absurde erleben sind zwei Paar Stiefel und in beide Paare passe ich nicht.


 Gedankenstrich 96

Ein Strich zu morgendlichen Gedanken

6. Juli 2023

Es wird gesagt und scheint ja wahr zu sein, Geld regiere die Welt. Doch hängen Aussagen immer von der Perspektive ab, also vom Standpunkt der Person und von einigen Faktoren mehr, wie z.B. Erziehung, Psyche, Hintergrundwissen, Erfahrungen usw. usf. Nichts ist "einfach" - aber was bedeutet "einfach"? Etwa "unkompliziert", "leicht"? Ja, auch. Aber die Vielschichtigkeit der Welt, der Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Erfahrungen, Gefühle kann das Leben doch auch leicht machen. Vielfalt, Vieldeutigkeit, Vielschichtigkeit kann doch die Zunahme von Möglichkeiten bedeuten, ein Zuwachs von Handlungs- und Entscheidungsräumen und selten würde etwas dem binären Urteil erliegen: richtig oder falsch! Viele Wege könnten nach Rom führen, für ein Problem könnte es verschiedene Lösungen geben und alle könnten auf ihre Weise richtig sein. Die Vielfalt der Möglichkeiten wäre so, dass auch Entscheidungen nach "richtig" und "falsch" nicht falsch wären, aber eben nicht die einzigen. Und irgendwann könnte man den Satz des Philosophen Paul Feyerabend ganz entspannt deuten und mit ihm sagen: anything goes. Man müsste nicht ängstlich auf das "anything" starren: was könnte denn das schon wieder hier und da im konkreten Fall bedeuten und was könnte damit auf mich zukommen? Man könnte ganz entspannt sagen: it goes! Oder: Es läuft! Es klappt, es funktioniert, es läuft, es lebt! In so einem Kontext verliert für mich sogar das Wort "funktioniert" sein Schrecken aus dem technologischen, mechanischen Diskurs, wo eben das Monokausale herrscht: eine Ursache - eine Wirkung. Alles wird vereindeutigt und auf einen einzig möglichen Zusammenhang reduziert. Es entsteht der Terror des Entweder-Oder! Und "Terror" ist das nächste Stichwort.Ich komme damit auf den Ausgang zurück: Geld regiert die Welt mit der Existenzangst! Und folglich regiert die Angst die Welt, bestimmt das Handeln, Denken und Urteilen der Menschen. Und eigentlich ist die Reihenfolge nicht: erst denken, dann urteilen, sondern es wird einfach geurteilt, beurteilt, verurteilt und dann zur Rechtfertigung argumentiert und für dieses Nachrationalisieren nachgedacht. Erst kommt die Position, dann kommt die Begründung. Und die Begründung enthält nicht die Gründe, die zu der Position geführt haben. Zu der Position ist man gekommen, weil sie die sozial sichere schien. Angst überträgt sich, Angst ist individuell und sozial zugleich. Und Angst ist der Grund für viele Positionierungen, für Haltungen, die man einnimmt. Wenn aber Angst und Geld die Welt regieren, kommt hinzu, dass man Mut, Erleichterung, Glück, Liebe, Kreativität sich nicht kaufen kann, das System schließt sich nicht zu einem lebendigen und lebensfähigen Organismus, sondern hat an dieser Stelle eine offene Wunde. Lebensglück lässt sich nicht kaufen, aber Angst lässt uns immer mehr an die Mechanik der Sozial-Ökonomie klammern. Aus "anything goes", wird das empörte: "das geht aber gar nicht!" Wäre es nicht schön, wenn gerade am Morgen die Zwänge nicht drückten?


 Gedankenstrich 97

Eine Zwischenbilanz - Zusammenfassung - Resümee

Es ist noch nicht einmal ein Drittel der versprochenen 365 Gedankenstriche erreicht. Aber eines ist mir so wichtig und so klar wie noch nie: das defizitäre Denken ist entmutigend, belastend, energieraubend und ich wollte schreiben: "devitalisierend", aber warum nicht klar benennen? Nur aus Furcht vor einem Tabu? Das defizitäre Denken ist ein Werkzeug des Elan Mortal und ist tödlich! Wenn man sagt, dass das Aufzeigen des Mangels angesichts des vorliegenden Zieles, die Entfernung bis zum Erreichen im Auge zu behalten, soll zu Taten und Anstrengungen aufpeitschen, dann ist das wohl wahr! Es ist eine Sklavenhalter- und Galeerenlogik. Wahre Motivation kommt aus der Begeisterung, sie ist vitalisierend, erfrischend - zu Deutsch: belebend! Da wird nicht vorangetrieben und ausgepeitscht, sie kommt von innen, ist Begeisterung und trägt und erfüllt sich selbst. Ein Drittel von 365 wäre rund 122. Ich erlaube mir ein vorläufiges Resümee schon bei Gedankenstrich 97, zumal die Gedanken ja nicht nach einem Jahr einfach aufhören zu streichen und ihre Kreise zu ziehen. Hierzu halte ich die wichtige Energie-Affirmation fest:
«Lass alles, was du heute tust, genug sein. Lass dein Urteil darüber los, was du "solltest" oder "könntest", und erlaube dir heute, einfach zu sein. Bleibe offen dafür, vom Universum geführt, unterstützt und beschützt zu werden. Öffne deinen Geist und dein Herz für das Leben.»
Darin ist natürlich implizit enthalten, dass Geist und Herz nicht automatisch und an und für sich schon für das Leben offen sind. Die Bedeutung dieser Bemerkung ist nicht zu unterschätzen. Denn wir müssen uns aus dem Ei, das in den Kapitalismus gelegt ist, der gar nicht möchte, dass dem Ei etwas entschlüpft, befreien, die Finsternis, die durch die Kalkschale erzeugt ist, worin wir ein wenig heranreifen konnten, durchbrechen und uns transformieren. Das ist zwar ein vitaler, aber kein leichter Prozess und frisch entschlüpft müssen wir darauf achten, dass wir nicht als Küken in der Kosten-Nutzen-Maschinerie, in den Mühlen der Rentabilität, des Profits und Utilitarismus geschreddert werden. Und vielleicht kann ich mich auch als ein zu schützendes und schutzbedürftiges Küken von außen betrachtend mit meinen Ängsten und Verzagtheiten annehmen, um mein Urteil besser loszulassen, was ich "sollte" und "könnte".

Ich gehe auf den 100. Gedankenstrich zu: ist das nicht wunderbar? Und ich habe ihn mir für das Grundthema der Vollmond Talks reserviert.


 Gedankenstrich 98



 Gedankenstrich 99

Sollten die Menschen sich mehr darum kümmern, das richtige zu tun oder die Dinge richtig zu machen?
Ich finde diese Differenzierung äußerst interessant und sehr aufmerksam beobachtet. Dafür muss ich Dir meinen Dank aussprechen.

Es löst in mir eine Menge Assoziationen aus: Das Richtige tun Wollen führt zu einer moralischen Zerstreutheit; zur Suche danach, was das Richtige wohl sein mag; und dann eben auch in wessen Augen es das Richtige ist. Sich darum kümmern, das Richtige zu tun, beinhaltet für mich auch den Moment der Unsicherheit: man weiß eben gar nicht genau, was das Richtige ist, also muss ich mich erst einmal links und rechts zu orientieren, suchen, was dann auch zur Unkonzentriertheit und Zerstreutheit führt. Es fehlt einem dabei die innere Sicherheit und Gewissheit, was manchmal auch ganz gut wäre, wenn man nur nicht zu selbstsicher und von sich überzeugt handelte; aber rührt Selbstkritik nicht auch aus der Selbstsicherheit? Nur wer tatsächlich den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, kann auch selbstkritisch sein.

Ich sehe aber in der Formulierung «sich darum kümmern» eine Unsicherheit versteckt. Diese verhindert sowohl Kritik nach außen wie nach Innen. Kritikfähigkeit erwächst aus Selbstvertrauen und dem eben erwähnten Mut. «Sich darum kümmern» deutet eher darauf hin, dass einem die Felle davon schwimmen oder davon zu schwimmen drohen; man hat einiges schon nicht mehr in der Hand - in diesem Fall: die Erkenntnis über das Richtige.

Im zweiten Teil der Frage geht es um die Dinge: sie scheinen erkannt, feststehend, tatsächlich als deutlich erkennbare Realität vor einem; die normative Kraft des Faktischen kann das Handeln leiten; sie stellen sich als Aufgabe und enthalten die Notwendigkeiten in sich, die es zu erkennen und dementsprechend zu handeln gilt, also die «Dinge richtig zu machen». Das hat einen objektiven Charakter, man muss nicht nach links und rechts schauen, nicht Orientierung suchen, sondern hat die Dinge vor sich und muss sich darauf konzentrieren, das Richtige steckt in den Dingen und ihrer Funktionsweise.

Aber ist das tatsächöich so? Sind die Dinge, die sich einem als Aufgabe stellen, auch die richtigen Dinge? Wer hat sie als Fakten geschaffen und vor mich gestellt? In welche Maschinerie der objektiven Notwendigkeiten oder Sachzwänge gerate ich? Die Dinge sind auf eine bestimmte Weise zu tun, aber sind sie denn überhaupt zu tun? Wenn man sich nur darauf konzentriert, die Dinge richtig zu machen, gerät schnell aus dem Auge, dass es vielleicht besser wäre, Dinge zu unterlassen, weil sie eben falsch sind. Hier lauert die Banalität des Bösen!

Ein Beispiel: Ein Atomkraftwerk zu bauen, erfordert eben die Kenntnis der Funktion, Pläne, erfordert ein Knowhow, man muss sich bemühen, die Dinge richtig zu machen. Aber ist es überhaupt das Richtige, auf Atomkraftwerke zu setzen? Wäre es da nicht besser, erst einmal mutig selbst zu ermitteln, ob das Ding, das ich richtig machen möchte, auch das Richtige ist?

Sehr wertvoll ist auf jeden Fall, diese Unterscheidung getroffen zu haben. Dafür mein Dank!


 Gedankenstrich 100

Der rote Faden der Vollmondtalks oder besser:
Das Grundthema


Im nächtlichen Umherirren im Walde, was natürlich einem Romantiker niemals ein "Umherirren" sein kann, sondern ein Lustwandeln ist, während er von sich sagen kann: «Ich ging im Walde so vor mich hin und nichts zu suchen, war mein Sinn», schweifen die Gedanken scheinbar ab, nicht nur in die Ferne ins Land der Träume, Sehnsüchte, Utopien, sondern auch entrückt der logischen Kette der Argumente des deduktiven und induktiven, implikativen, konjunktiven und adjunktiven Aufeinanderfolgens und Ineinander- und Auseinanderschließens der begrifflichen Verknüpfungen. So ist das Lustwandeln des Dichters, des Romantikers, des Naturbewunderers, des Narren schlechthin, der hinter den Gedanken, der Sprache, der Texte, literatur und Kunst das Leben berühren möchte, wie einst Artaud formulierte: hinter den Zeichen das Leben berühren, während der Mensch mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen ganz anderen Geschäften nachgeht oder eben zur nachtschlafenden Zeit ruht, damit er morgens in der Frühe wieder gut bei Kräften und Sinnen sei. Träume sind für die, die von Romantikern als Philister beschimpft werden, nicht einmal im Schlaf vonnöten. Sie schlafen tief und fest, wie sie tagsüber tief und fest im Sattel des alltäglichen Geschäftes sitzen und sich Narren, Dichter, Künstler und andere Verrückte in die Psychiatrie verbannen. Die Normalität soll schalten und walten, aber hinter der Normalität schaltet und waltet die normierende Macht des Profits, des Utilitarismus, der Technokratie mit Hebeln und Schrauben, wo es stets das Leben zu kanalsieren gilt und dem Vitalen das Wasser abgegraben wird. Das ist der Zustand unserer Welt, menschengeformt, menschennormiert und schier global restlos monokultiviert. Das Klagen ist nicht neu, ebensowenig das Beklagte. Die Moderne der Neuzeit brach vor etwa dreihundert Jahren an und nun im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist unübersehbar, dass der Zenit überschritten ist.

Natürlich sehe ich die Dinge als ein Individuum, wie sollte es auch anders sein? Und ich betrachte sie in Gedanken global und werde wieder zurückgeworfen auf individuelle Gefühle in meinem Fall der Melancholie.


Gedankenstriche 101 bis 110
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
• Waterloostraße 18 • 45472 Mülheim a.d. Ruhr