Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
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Gedankenstriche-Map


Auf der Suche nach einem Mittel der Wahrnehmung...

Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern,
sondern des Menschen Verhältnis zur Welt.

 Gedankenstrich 1

Ich fange neu an, da jedem Neuanfang ein Zauber innewohnt und das Alte darin auch dialektisch aufgehoben wird. Meine Terminologie ist nicht sehr eigenwillig, sondern doch mehr meiner Schulung und Selbstschulung geschuldet, wo sie schwerfällig erscheint oder unzugänglich, bitte ich einfach um Kommentare und Rückfragen oder Rückmeldungen. Überhaupt ist die Philosophie ein dialogischer Prozess, der Funke entsteht und springt durch Reibung über. Disput und Streit erhitzen die Gemüter und erzeugen jene Wärme, ohne die Leben gar nicht möglich wäre. Ich möchte, dass von meinem Wirken Leben und kulturelle Vitalität ausgehen, Freude, Lust und Aufregung! Ein Konsens ist nicht einer Meinung sein und auch nicht die Meinung eines Einzelnen. Zusammen kommt man nur durch die Differenz.

Ich möchte ein einfaches Beispiel aus meinem Leben geben: ich teilte die Arbeitsfelder für unsere Gesellschaft für Kunst und Kulturelle Bildung, die wir gegründet haben, schematisch auf, stellte das den Kolleginnen vor. Ein Feld trug den Namen: "Performative Präsentationen". Eine Kollegin bat mich um Erläuterung, sie habe den Ausdruck noch nie gehört. Ich erläuterte und erklärte. Sie sagte nichts. Monate später, als ich sie in der Schweiz in Brissago besuchte und wir einen Spaziergang machten, sagte sie, es sei nicht einfach mit mir und auch nicht mit meinen Theorien und Fachausdrücken. Monate lang habe sie noch über "Performative Präsentationen" gegrübelt und habe noch immer nicht das Gefühl, es vollständig verstanden zu haben. Das tat mir sehr leid; denn mittlerweile hatte ich auf ihre damalige Frage auch eine punktgenaue Antwort gefunden: "Veranstaltungen"! Natürlich kam die berechtigte Frage, warum sagst du das nicht gleich so? Ich war im wahrsten Sinne des Wortes GEDANKENVERLOREN! Ich wollte unser Arbeitsfeld gegen ein einfaches Eventmanagement abheben; es sollte nicht um beliebige Veranstaltungen gehen, sondern um jene, die unser Kunstverständnis und unsere Kulturarbeit zum Ausdruck bringen, die die Philosophie der GLOBALKULTUR performieren, konkret künstlerisch und real erlebbar, also rezipierbar präsentieren, deshalb "performative Präsentationen". Der Kollegin fiel es wie Schuppen von den Augen! Denn sie hatte es für selbstverständlich genommen, dass wir nicht Veranstaltungs- und Eventmanagement betreiben, sondern unsere Veranstaltungsangebote Ausdruck unserer Firmenphilosophie werden. Da fiel es mir also auch wie Schuppen von den Augen.

Als Sprachphilosoph ist mir das Phänomen bekannt: wir müssen uns davor hüten, sprachliche Missverständnisse und Selbstmissverständnisse für den Ausdruck von wirklichen und begriffenen Verhältnissen zu halten. Im Zusammenhang mit Ludwig Wittgenstein wird von "linguistic turn" gesprochen und Friedrich Nietzsche sprach von "Sprachverführungen". Dann aber begegnet mir das Phänomen in meinem direkten unmittelbaren Leben. In diesem Fall aber war es wohl eher eine Gedankenverlorenheit. Umso genauer möchte ich auf Sprache achten.

 Gedankenstrich 2

Immer mal wieder durchbricht der Strahl der Finsternis wie etwa eine Anti-Sonne meine hermetischen Versuche mein Glück zu wahren. «Hello Darkness, my Old friend» kann ich dazu nur sagen. Die Finsternis erstrahlt in einer Anti-Welt wie die Sonne in unserer und durch jede Ritze und Fuge durchdringt sie den Schutzwall. Mein Leben neigt sich seinem Ende, später Nachmittag, würde ich sagen, ohne wissen zu können, welche Tagesstunde ich noch erleben werde.



Um mich ein schäbiges Publikum, das entsteht und nicht ausbleiben kann, wenn das Individuum der Vermassung nicht aktiven Widerstand entgegensetzt. Euphorisierend wirkt auf mich, dass ich, um in meine Art des Philosophierens ein- und zu verführen 365-Gedankenstriche angekündigt habe: Poetische Hermeneutik - Studien und Recherchen. Ich könnte auch als Untertitel von "Gedankengängen im Labyrinth des Lebens" sprechen. Mal sehen. Vielleicht gibt es ja noch Anregungen. Ich werde diese Gedankenstriche hier auf ask beim schäbigen Publikum realisieren; denn im Grunde ist das Publikum in seiner Vermassung, wo Individuen sich eben nicht von Mode-Einflüssen befreien, ihren eigenen Rhythmus, ihr eigenes Leben, eigene Gedanken und Ziele finden, überall schäbig! Ob in Universitäten, Verwaltung, Ämtern, Krankenhäusern, Schulen...! Überall, wo sich der Mensch als ein handelndes Selbst und damit auch ein selbst Handelnder und Denkender, Wahrnehmender und Empfindender aufgibt! Das geht schneller als man denkt! Die Räume um uns, die Einrichtungen, die Freunde, Familienmitglieder, die Kollegen, die Regeln und Ordnung der Dinge - alles, was institutionalisiert ist, gefährdet das Individuum, stellt es in Frage oder direkt ins Abseits: Du kannst nach Feierabend wieder du selbst sein! Institutionalisierung und Entfremdung berauben das Individuum sich selbst. Aber ist das wirklich so? Was genau ist denn das Individuum, wenn es sich selbst überlassen ist und bleibt? Ein unteilbares Ganzes soll es sein, ist aber nichts Ganzes und nichts Halbes! Mit der Einführung des Subjekts ins Denken der Neuzeit hat es sich in die Kultur und ins gesellschaftliche Bewusstsein eingeschlichen und als Illusion eingenistet. Natürlich ist sich jedes Lebewesen seiner einzelnen und womöglich einzigen Existenz bewusst; es gibt kein Lebewesen, das gerne stirbt und keine Todesangst verspürt, aber aus der einzigen Existenz schälte sich das Individuum als eine majestätische Einzigartigkeit heraus und stolziert seitdem so kaiserlich ohne Kleider umher. Die politische, historische, gesellschaftliche Realität ist: des Menschen Leben und Persönlichkeit zählen nur auf den Lippenbekenntnissen viel. Nichts wird so schnell geopfert wie Persönlichkeit, Freiheit und Leben. Das darf uns gerade im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht entgehen! Bei aller subjektiven Tristesse, die mich befällt, möchte ich meine Widerständigkeit nicht aufgeben. Das Subjekt hat ein Recht auf Uneinsichtigkeit. Ach, wirklich?

 Gedankenstrich 3

Eine Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift, soll Marx gesagt haben. Das Bild weckt keine positiven Assoziationen mehr! Gewalt der Massen erinnert an eine Lawine. Und eine Idee, die zur Lawine wird oder eine Lawine auslöst, lädt als Vorstellung nicht ein. Aber im Grunde geht es eigentlich um die Ausstrahlung und Anziehungskraft einer Idee. Wann und wie wird sie so attraktiv, dass sie Menschen begeistert und bewegt im Sinne von rührt, berührt und motiviert? Das ist auch eine Frage für Pädagogen, denen es häufig um Ideen geht, die schon zu Wissen geronnen sind. Sie sind zu Fakten geworden, haben eine normative Kraft erhalten, gleichen einer Schneeballschlacht mit Eiskugeln und Steinen und sollen in der Institution "Schule" meist junge Menschen berühren und rühren. Ideen werden hier zur Gewalt, wenn sie zu Wissen geronnen, verhärtet, versteinert sind - die Schule eine Sonderform des Autoritarismus! Nietzsche sagt, Überzeugungen seien die gefährlichsten Feinde der Wahrheit. Die Superlative macht seine Aussage brüchig. Ja, Überzeugungen sind gewiss eine Gefahr für Wahrheit, erschweren das Wahrnehmen und Erkennen von neuen Informationen, verbiegen die Interpretation der Information zugunsten der Überzeugung. Überzeugungen sind eine Brille, die die Dinge einfärben oder unsichtbar machen. Soweit gehe ich mit Nietzsche. Aber die Superlative stört mich. Außerdem denke ich, dass Nietzsche der letzte wäre, der nicht unter einem anderen Gesichtspunkt auch neue und bessere Seiten an Überzeugungen sehen könnte. Überzeugungen können motivieren, Engagement bewirken, ein Feuer entfachen, eine Erkenntnis sein, die handeln lässt. Das ist weder von der Hand zu weisen noch negativ anzusehen. Ein anderer Feind der Wahrheit, der womöglich manchmal noch größer ist als Überzeugungen ist das Wissen. In der Moderne wird das Wissen sehr hoch gelobt; das ganze moderne System basiert auf Wissen und Information. Das Unwissen wird verdammt, gilt als finstere Uninformiertheit - die Gefahr aber lauert darin, dass all diese Begriffe verabsolutiert auftauchen und gebraucht werden. Die Koppelung von Wissen und Macht gehört wesentlich schon in die Frühphase des 20. Jahrhunderts im Übergang von monarchischen zu parlamentaristischen Strukturen in Staat und Politik. Die Beschaffenheit und Wandelbarkeit gerät aus dem Blick wie der Kontext (Bezugssystem), indem Dinge als Wissen fungieren können. Die Moderne hat darin ihr Wesentlichstes im Denken verraten und verkauft. Nämlich die Dialektik! Und damit verkehrt sie sich in ihr Gegenteil: sie wird in sich zu dem, was sie sonst als "finsteres Mittelalter" beschimpft und ablehnt! Dieses Phänomen müssen wir betrachten, begründen und genau darlegen. Ganz egal, wie viel Gedanken und Gedankenstriche das kostet. Ich kann es auch dramatisch formulieren: Es geht um Leben und Tod! Ich möchte vorerst der binären Logik frönen, bevor ich weiter denke: möchte die Kultur in eine morbide und vitale einteilen.

 Gedankenstrich 4

Es kann so dramatisch verstanden werden, aber es hat auch ein undramatisches Moment. Bleiben wir gelassen: es geht um Dynamik, Wachstum, Veränderung oder Erstarrung, Versteinerung. In der Dynamik, in der Bewegung aber ist auch immer die Relativität. Die Bezugssysteme müssen im Auge behalten werden. Eigentlich ist es die dynamische Moderne, die sich ganz neuzeitlich von Verabsolutierungen des Wissens verabschieden wollte. Die verwalteten Dogmen sollten dem Mittelalter angehören und hinter uns gelassen werden. Rationalistische Scholastik, syllogistisch rationalistische Begriffsspielereien, Gottesbeweise, Theodizee-Argumentationen sollten im modernen Denken keinen Platz mehr haben, an die Stelle des spekulativen Denkens, das sich in Begriffskonstruktionen aufhielt und mit logischen Spitzfindigkeiten gegen Kritik und Widerlegung zu immunisieren suchte und zur Not auf die Daumenschrauben der Wissens- und Wahrheitsverwaltung namens Inquisition zurückgriff, sollte die empirische Wissenschaft treten. Nicht die autoritären Schriften sollten mehr gedeutet und ausgelegt werden; es ging darum, die Erkenntnisse nicht aus dem Studium der heiligen Schriften zu gewinnen, sondern aus der systematischen bzw. systematisierten Weltbeobachtung. Literarisch steht Bertolt Brechts "Leben des Galilei" als bezeichnende Beschreibung dieser Wende, des großen Paradigmenwechsels, was ich übrigens persönlich für einen großartigen, wunderbaren und vitalen Paradigmenwechsel halte. Was aber ist aus diesem großen wie großartigen Ereignis der Wissenschaftsgeschichte geworden? Das müssen wir uns nach 75 Jahren des Erscheinens der "Dialektik der Aufklärung" noch einmal fragen. Es geht nicht um die Geschichte von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sondern um die existenzielle Frage nach einer Kultur des demokratischen Denkens. Denn schon in Brechts "Leben des Galilei" wird klar thematisiert, dass wir nicht nur über Welt- und Sternenbeobachtung sprechen, sondern über ein tiefgreifendes Ereignis mit gesellschaftlichen und politischen Folgen. Es wird alles dynamisiert, es kommt alles in bewegung und so manch eine Machtstellung ins Rutschen - vor allem die der Kirche als der obersten Wahrheitsverwalterin mit Daumenschrauben und Scheiterhaufen! Es ist klar, dass solche Machtgefüge sich nicht von einem Tag auf den anderen in Luft auflösen, nur weil einige kräftige Argumente spitz sie anstupsen. DIe macht dankt nicht mit dem Spruch ab: «Oh, ich wurde widerlegt!» Denn über eines muss man sich im Klaren sein: Macht lässt sich nicht widerlegen, macht lässt sich nur besiegen! Und das nur: wenn man genügend Gegengewalt aufbaut. Das aber kann in eine dialektische Falle führen, die Bertolt Brecht gespürt haben muss, als er in Buckow elegisch wurde. Der Tod von René Descartes aber und seine Todesangst zuvor vor der kirchlichen Inquisition ist ein beachtenswerter Kriminalfall der europäischen Geistesgeschichte. Es ist Ironie, dass mit den "Meditationen" die neuzeitliche Philosophie beginnt.

 Gedankenstrich 5

Es ist Nacht, mein letzter Blick in den klaren Himmel liegt Stunden zurück, meine Autorenhomepage www.uribuelbuel.de ist aktualisiert, plötzlich formuliere ich eine poetische Definition für "Wissen" - Gedankenstrich 5 - Kulturphilosophische Betrachtungen

Welche Wege können Ideen noch nehmen, um zu motivieren, ohne dass der Motivationsbegriff pervertiert wie im Zusammenhang von Schule, Wissen und Macht? Das Schulparadox ist vielleicht, dass Pädagogen bewegen wollen, die Schule aber vornehmlich zur Kanalisation dient. Schule will nicht bewegen, sondern kanalisieren. Und nur innerhalb des Kanalrohrs soll der Fluss des Geistes, der Ideen, erfolgen. Wo es zu Verstopfungen kommt, wird das Rohr wieder frei gemacht, was den Anschein hat, als wolle die Schule bewegen im Sinne von motivieren. Es ist nur eine bestimmte Art von Bewegung, worauf es der Schule ankommt. Nicht Ideen sollen ergreifen und motivieren, Wissen soll zum Beruf führen! Nirgendwo wird einem Menschen so heftig eingehämmert, dass Wissen Macht ist wie in der Schule. Sie macht das Lernen zur Lebens- ja, zur Überlebensfrage und zum Weg in Richtung gesellschaftlicher Stellung, Anerkennung und Erfolg. Bildung wird zum Statussymbol, scheinbar klar bemessene Leistung zum Garanten des Erfolgs. Mehr oder weniger latent schleicht eine Berufehierarchie ins Denken und Selbstbewusstsein von Individuen. In der Pyramide sind die Akademiker an der Spitze, unter den Akademikern die Ärzte, dann die Juristen gefolgt von den Ingenieuren, die wiederum unter sich eine Rangliste haben, worin Elektrotechnik und Maschinenbau anführen und Architekten eher in den unteren Bereich gehören. Dann kommen die Handwerksberufe mit dem Meisterbrief und der Zugehörigkeit zu einer Berufsinnung und so geht die Abstufung weiter vom Gesellen zum Lehrling, der durch eine Umbenennung in "Auszubildende" euphemisiert wird. Dabei zeigt die Endung -ing in "Lehrling" ziemlich ehrlich an, wo diese Personen in der Hierarchie zu platzieren sind. Sie gehören zum unteren Mittelfeld der Berufe, befinden sich aber in einer Laufbahn, die mindestens mit dem Abschluss der Ausbildungsphase zu einem Beruf führt. Dann wird man, so auch der Sprachgebrauch, "wer"! Wer einen Beruf erlernt hat, hat nicht diesen Beruf inne, sondern wird mit dem Verb "sein" damit identifiziert: Man ist "Krankenpfleger", "Schreiner", "Mechaniker" usw. So wird der Beruf sprachlich essentialisiert, gehört also zum Wesenskern der Persönlichkeit. Ohne einen Berufsabschluss zählt der Mensch in der modernen Industrie- oder Informationsgesellschaft herzlich wenig und hat kaum Ansehen. Demgegenüber zitierte mein Philosophieprofessor ganz gerne den Anarcho-Spruch: «Wissen ist Macht. Ich weiß nix, macht nix!» Er meinte es nicht gar so ernst, benutzte den Spruch eher dafür, um zu verdeutlichen, dass eine streng skeptische philosophische Haltung zu Problemen in der gesellschaftlichen Anerkennung führen konnte. Aber auch jugendlicher Trotz, der sich dem gesellschaftlichen Gefüge nicht unterordnen wollte, genoss darin seine philosophische Sympathie. Wir können im 18. Jahrhundert diesen Trotz in großer Leidenschaft von Friedrich Hölderlin ausgedrückt finden, was Roger Willemsen ergreifend rezitiert:

 Gedankenstrich 6

Kulturphilosophische Betttrachtungen: Ich schlief, ich schlief. Aus tiefem Traum bin ich erwacht...

«Willkommen zur pathetischen 11:55-Frage: tätest du immer nur, was du dürftest und meistens, was du solltest, könntest du dir trotzdem sicher sein, dass du genau wüsstest, was du wirklich wolltest?» Dürfte, sollte, wollte, könnte - spreng die Ketten in deinem Kopf! Einzig sicher ist die Tat! Aber nun kommt, was unbedingt dazugehört: Das ist kein Aufruf zum blinden Aktionismus. Den Bogen Spannen, das Ziel anvisieren, die Luft anhalten und dann erst abschießen - das alles gehört zur Tat! Nicht zum Aktionismus! Also bedenke und nimm dir die Zeit zum Bedenken! Was kümmert dich Sollen, Dürfen und Sichersein? Hier möchte ich den Gedankenstrich weiterziehen - zu interessant ist die Frage, als dass sie es verdient hätte, kurz und etwas polemisch erledigt zu werden. Da fragt mich @Schlagtot alias Skunkenrufe und nun auch IN FRAGRANTI und sich auch zuvor AEROSOUL nennend, ob ich mir sicher sein könnte, genau zu wissen, was ich wollte. Ich komme plötzlich auf eine ganz andere Idee: aus wirren Träumen erwachend begegnet Uri Nachtigall, die dann plötzlich auch mit Herr Bülbül angeredet wird, der schönen Richterin. Und sie geht ein bisschen auf Fragen der Identität ein. Wir sind immer viele und jedes Ich ist ein Avatar des Selbst in einem mehr oder weniger selbstbestimmten Spiel und Kontext. Sie würde sich gerne noch länger mit dem Philosophen darüber unterhalten, aber sie ist in tiefer Sorge um ihren Mann und auf der Suche nach ihm. Sie habe übrigens Uri Nachtigalls Paradiesologie gelesen. Aber lassen wir die Paradiesologie! Von Dürfen und Sollen ganz zu schweigen, dieser Teil der Frage lenkt den Blick vom Wesentlichen ab, das eben nicht im Verhältnis von Pflicht und Neigung besteht, sondern sich um den Begriff des Willens dreht. Bei einem Hundespaziergang unterhielt ich mich mit einem Bekannten, der mich fragte: Gibt es eine Pflicht, die auch du befürworten würdest? Ich kam ernsthaft ins Grübeln. Der Bekannte selbst rettete mich zwar aus meiner Antwortnot, weil ich in meinen Ideen über eine radikale Steuerreform die Steuerpflicht nicht abschaffen wollte, aber eine echte philosophische Lösung war dies nicht. Denn auch meine Haltung gegenüber der Steuerpflicht hat ja einen philosophischen Hintergrund, den ich vorerst nicht mitgedacht hatte. Aber nicht Mitdenken und Bedenken ist ja so ziemlich das Unphilosophischste, was man machen kann und bei kulturphilosophischen Betrachtungen unverzeihlich! Aber ich mache nun nicht den Fehler, einen Fehler schön zu reden. Vielleicht lässt er sich ja dialektisch in einer neuen Erkenntnis aufheben, so dass wir erkennen und sagen können: gut, dass man Fehler macht, diese erkennt und zu ihnen steht. Doch soll es nun gar nicht um Pflicht oder Neigung gehen, sondern um Gewissheit darüber, ob man wirklich weiß, was man will. Über wie viel Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit kann ein Subjekt in seinem Wollen verfügen? Was genau haben wir von Schopenhauer gelernt? Die Welt ist a) Vorstellung b) Wille

 Gedankenstrich 7

Der Skunkenruf eines schönen Tages um 11:55 Uhr, es ist fünf vor Zwölf und höchste Eisenbahn, um den Point of No-Return nicht zu verpassen! Wir sollten immer im Revidierbaren denken, damit uns der Dogmatismus nicht zum Verhängnis wird. Es ist jener Dogmatismus, der womöglich das einzig Interkulturelle in der Menschheitsgeschichte ist, wo doch heute allenthalben nach Interkulturalität gefragt, gesucht und geforscht wird. Grenzenlos ausgebreitet haben sich die katholische Kirche und der Despotismus! Der Waffenhandel und militärische Drohgebärden und Bombardements gehen auch immer! Wobei ich betonen möchte, obwohl ich beides in einem Satz nenne, ich sie nicht gleichsetzen möchte: den grenzenlosen Katholizismus und Rom und den grenzenlosen Militarismus, ganz ohne Zentrum. Warum haben sich nicht kleinere und größere Inseln antiautoritärer anarchistischer Kommunen in der Welt ausgebreitet? Diese Frage ist weder polemisch noch rhetorisch gemeint und hier findet keine Gegenrede zur Idee des Anarchismus statt! Fragen und Phänomene sind es, die in der Luft liegen! Was ist grenzenlos? Militarismus, Autoritarismus, Technokratie, Bürokratie! Der erste Teil der 5 vor 12 Frage! «tätest du immer nur, was du dürftest und meistens, was du solltest» wir sind im Kern der Freiheitsphilosophie! Aber eigentlich würde der Hölderling gerne ungestüm seine Aufmerksamkeit auf den Willen richten! Also auf den zweiten Teil des Fragesatzes, der insgesamt eine Implikation formuliert, die 5 vor 12 nicht fragwürdiger sein kann! Natürlich habe ich einen Strich durch die Frage gezogen, aber nicht dass er mir noch zu einem Bruchstrich umgedeutet wird! Eine darlegende ausführlichere Analyse könnte eine beruhigende Wirkung haben. Dabei wollte der freche Lehrling Hölderling auch etwas über sein Verhältnis zum Meister erzählen, nun aber muss das hintenan stehen. Und vielleicht bildet es so den Klangkörper für die angeschlagenen Gedankentöne. Ich betone noch einmal um des heiteren Wortspiels wegen: die Gedanken sind angeschlagen und tönen vor sich hin. Und nicht das Cogito! Es tönt nicht, sondern denkt eisern... möchte ich fast sagen, aber das klingt so furchtbar mechanistisch, als würde das Cogito aus einer Nadelwalze bestehen. Aber wir sind ja schon nicht nur im Zeitalter der elektronischen Algorithmen und schwingenden Siliziumatome, sondern wie eh und je auf dem Boden der grauen evolutionär gewachsenen grauen Zellen mit ihren biochemischen Prozessen in ihren synaptischen Spaltereien! Wohin also führt dieser Gedankenstrich? In die Eingeweide des Denkens über die Freiheit in der Gebundenheit an Bilder, metaphern und Sprache überhaupt? Es gehört schon eine gehörige Portion Poesie dazu, um sich aus den Fesseln der Sprache zu winden, ein linguistic turn wird nicht reichen! Also stelle ich noch einmal unumwunden die klassische Anarcho-Frage neu - wer bestimmt denn über "Dürfen" und "Sollen"? Ich fühle mich noch immer als ein selbstbestimmtes Subjekt!

 Gedankenstrich 8

Eine Dame sagte beim Hundespaziergang, der ich ab und an begegne: "So erzieht man keine Hunde!" Natürlich wäre die erste Frage: Wer ist "man" und wer bestimmt, was "man" tut oder nicht tut? Aber mir schießt durch den Kopf, dass ich keine Lust auf Diskussion habe und die Dame bestimmt schon auf diese nicht gestellte naheliegende Frage auch schon eine Antwort hat: «Es gibt dem Individuum und seinem Gutdünken übergestellte Regeln, junger Mann!» oder so etwas ähnliches. Mich juckt es in den Fingern und auf der Zungenspitze, etwas anderes zu sagen: «Ach, Frau Oberst, wissen Sie? Sie haben es hier mit einem Anarchisten zu tun und Ihre Belehrung ist vergebliche Liebesmüh! Ich erziehe keine Hunde, ich liebe sie!» Aber ich lächle schweigend und mein Triumph ist, dass ich die gestrenge Lady "Frau Oberst" getauft habe. Am nächsten Tag treffe ich einen Hundefreund, der auf den Hund seines Enkels aufpasst. Als mein kleiner Freund mich fragend anschaut, sage ich: «Alle, alle. Jetzt gibt's keine Leckerlis!», weil der Kleine alle 25m so fragend schaut. Der Mann springt freundlich ein. «Ist nicht schlimm! Ich habe noch welche!» Und lächelnd greift er in die Tasche und fragt, ob er geben darf. Aber ja, sehr gerne! Und dann kläre ich ihn über mein Verhalten auf und sage, dass ich das nächste Mal in die Tasche fassen werde, was auch etwa 25m später der Fall sein wird. Und zwischendurch erzähle ich ihm von Frau Oberst und er lacht sich schelmisch kaputt über den Namen, den ich der alten gestrengen Dame verpasst habe. Ich habe das Gefühl, ich habe nun einem Menschen eine klitzekleine Freude gemacht und mir obendrein Ärger erspart. Manche Diskussionen führt man durch Schweigen. Ich sammle bei meinen Hundespaziergängen Weisheiten, Ideen, Erkenntnisse und schöne Dialoge. Der Hundespaziergang ist das offene Geheimnis des zynischen Philosophen. Aber mir geht auch immer wieder durch den Kopf, dass ich auf den Begriff der "Naturverfallenheit des Menschen" aus der "Dialektik der Aufklärung" noch eingehen muss. Nicht, weil "man" das halt in der Philosophie macht, sondern weil es mir ein seelisches Bedürfnis ist. Mit rhetorisch wundervoll ausformulierter Skepsis gegen Technokratie, Bürokratie, Kapitalismus und Wissenschaft in der Gestalt des Positivismus beladen, ist für mich die Einleitung zu diesem Werk, das mittlerweile 75 Jahre alt ist - meine Güte! Dreiviertel Jahrhundert alt! ein Faszinosum. Als ich meine Sätze zur Poetischen Hermeneutik formulierte, die einen Gedankentanz ergeben sollten, ergriff mich dieses Faszinosum so, dass ich Marx nicht in die Liste der acht auf mich einflussreichsten Philosophen nehmen musste, weil ich Adorno und Horkheimer als eine Einheit als sehr einflussreich empfand. Im SOKRATES-Roman ist immer mal wieder von der "Paradiesologie" die Rede - ein Buch aus dem Archiv ungeschriebener Texte! Darin müsste sich ein Kapitel gänzlich nur mit dem Begriff der "Naturverfallenheit" beschäftigen.

 Gedankenstrich 9

Ein Definitionsversuch in Andeutungen...

Ich möchte nicht "Kultur" präskriptiv definieren und festnageln: Das und jenes ist Kultur und alles andere nicht... das wäre der Tenor des Autoritären, womit der Kultur keinen Gefallen tut. Erst recht nicht, wenn es sich um die Kultur einer demokratischen, sozial gerechten und offenen Gesellschaft handeln soll. Versuche mich besser von vielen Seiten und differenziert wie vorsichtig an unser Kulturverständnis und eventuell an mögliche grundlegende Änderungen dieses Verständnisses anzunähern - wissend, dass die offene Gesellschaft und freiheitliches Denken viele Feinde haben und einige davon an ganz unerwarteten Stellen sitzen und wirksam werden. Ein schönes Beispiel dafür ist die Aufklärung und die ihr innewohnende Dialektik, worin sich Aufklärung in ihr Gegenteil, in Autoritarismus verkehrt. Dieser Vorgang muss kritisch beleuchtet werden, ebenso die These von der Dialektik der Aufklärung an sich - stimmt sie überhaupt? Und wie sehen die Phänomene, die dafür sprechen könnten, konkret aus? Die Arbeit an diesen Phänomenen kann nur durch detaillierte Beschreibung geleistet werden und höchstwahrscheinlich ist es von einem allein gar nicht ordentlich zu leisten. Im Grunde muss ich einen offenen Diskurs anstoßen und genau auf diesen Diskurs und auf die Vielzahl von Perspektiven und Stimmen setzen. Aber sind nicht ohnehin ganz ohne mein und anderer Leute Zutun Vielfalt der Meinungen in der Welt? Irgendwo spricht, schreibt, erzählt, spekuliert jemand immer über Kultur und vermehrt die Stimmenvielfalt. Gewiss ist das so, der Diskurs aber entsteht erst, wenn die Dinge aufeinander bezogen und unter welchem Gesichtspunkt auch immer gesammelt werden. Ein einfaches Beispiel dafür ist eine Google-Anfrage. Schnell wird unter dem Gesichtspunkt der Anfrage zusammengestellt, was in irgendeiner Weise mit der Anfrage zu tun haben könnte. Und nun kann innerhalb dieser Zusammenstellung sortiert werden, es besteht dabei auch die Möglichkeit, dass neue Assoziationen zustande kommen. Aspekte auftauchen, die nicht in die unmittelbare Nähe der Suchanfrage gehören und dennoch "interessant" sind. Was aber bedeutet "interessant"? Und wann wird etwas interessant? Es geschieht vor dem Hintergrund und durch Aktivität eines präformierenden und selbst präformierten Bewusstseins, das selbst initialisiert, formatiert und in seinen Strukturen gestaltet ist. Interesse setzt Kontext und Subtext voraus. Und die Zusammenhänge, die eine Rolle spielen und Einfluss üben, stellen in ihrer Komplexität den Diskurs dar. Ein vernetzendes, sortierendes, assoziierendes Bewusstsein, das zudem auch evaluiert, distinguiert, zwangsläufig perspektiviert gehört ebenso dazu wie jene strukturellen Regeln, die wiederum diesem Bewusstsein zugrunde liegen und es zu dem machen, was es ist und wie es wirkt. Das Subjekt ist nicht autonom, und das Ganze nicht chaotisch; Ganzes und Einzelnes bilden Muster, weisen Regeln und Regelmäßigkeiten auf. Wäre es möglich, diese Regelmäßigkeiten als Kultur zu begreifen?

 Gedankenstrich 10

Ja, mach nur einen Plan...

Eine fülle von Gedanken hat sich angesammelt, liegt neu an, gehört nicht zu jenen, für die ich recherchiert, Notizen gemacht und geschrieben habe. Mit dem Projekt der "365 Gedankenstriche", was natürlich suggerieren soll, dass jeden Tag im neuen Jahr ein Gedanke geschrieben und ein Gedankenstrich gefüllt wird, kommen aber auch neue Gedanken, Ideen, Einfälle, der Prozess läuft weiter. Die Rechnung mit dem einen Gedankengang pro Tag, der zu einem Gedankenstrich vertextet wird, ist im Januar natürlich nicht aufgegangen. Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu Vorhaben, das ist, glaube ich, mittlerweile nicht nur mir bekannt. Auch darüber wird zu schreiben sein, aber ich nehme es mir lieber nicht vor, denn mir ist das zu behandelnde Thema bzw. Phänomen zu ernst und wichtig dazu. Eine Andeutung soll fallen: es geht um das Leben, um Planungen im Leben, um Projekte und Ziele, damit auch um die Themen der Zweckrationalität und Teleologie. Ich halte nicht jede Planung für teleologischen Ursprungs. Aber genau diese feinen Unterschiede herauszuarbeiten, stellt die Herausforderung und den Gedanken und irgendwann den Inhalt höchstwahrscheinlich einiger Gedankenstriche dar. Also mache ich mal die Rubrik auf: Leben-Plan-Projekt-Teleologie! Und sofort schreit in mir die Poesie und Musik eines großartigen Dichters, der im Land der heroischen Planschmiede gelandet und in Elegien verfallen ist: «Ja, mach nur einen Plan, sei ein großes Licht. Mach dann einen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht.» Die krächzenden Disharmonien von Kurt Weill sind meine Lebens- und Seelenmelodie - vielleicht nicht immer und nicht nur, schon gar nicht ausschließlich, aber durchaus wesentlich und keineswegs marginal.

Schon im Zusammenhang mit der Poetischen Hermeneutik habe ich angefangen, mich mit Brechts "Buckower Elegien" zu beschäftigen. Man kennt sie, zum Teil ist es Schullektüre, aber das Wort "Schullektüre" könnte mich schon wieder auf einen anderen Strang bringen: Schullektüren verleiden Menschen Texte, statt sie ihnen näherzubringen. Und das hat nicht oder nicht ausschließlich etwas damit zu tun, dass in der Schule Texte detailliert analysiert werden. Analyse schließt nicht per se Sensibilität und Empfindungen aus. Auch das ist nur ein Klischee. Wir sollten uns unserer Klischees bewusst werden und uns ihrer entledigen, wenn wir der Kultur auf die Spur kommen wollen, die uns vitalisiert und nicht das Vitale in uns in Zeichensystemen und autoritären Codierungen sublimiert. Ich weiß nicht, ob 365 Gedankenstriche ausreichen, um dies evident darzulegen. Aber einen Versuch ist es wert. Außerdem muss nun genau im Zusammenhang mit dem Viereck "Leben-Plan-Projekt-Teleologie" die Frage erlaubt sein, was mich denn auf 365 Gedankenstriche beschränkt? Was hat die Anzahl der Tage eines Jahres so Wichtiges zu bedeuten, dass Gedankengänge sich nach ihr richten müssten? Wenn sich eine erst heuristisch gemeinte Hilfestellung verselbständigte, hätten wir 5x365...

 Gedankenstrich 11

Warum suche ich im automatischen Schreiben, im freien Gedankentanz, das Heil für die Form meines Philosophierens? Vielleicht möchte ich meinen Anschluss an die Surrealisten finden - und zwar nicht künstlerisch, sondern denkerisch, in der dialektischen Aufhebung des Widerspruchs zwischen Kunst und Philosophie, Phantasieren und Denken, im Leben, als Synthese beider.
Wenn man es rationalistisch betrachtet, hätte dies nicht unbedingt zu folgenden Sätzen führen müssen, die ich auf meinem Tageszettel notierte, aber ein Gedankentanz mit Gedankenstrichen ist kein logischer Marsch durch die Argumentationen. Im Land der heroischen Planschmiede wurden Perspektiven voller Utopien und Ideale in Stahl gegossen zu Panzern und für zivile Sklaven in Pappautos mit knütterigen Zweitaktmotoren! Utopien sind flexibel und können auch in der Stalinallee verenden; aber in Tat und Wahrheit verendeten sie an anderen Orten. An jenen, die zur Stalinallee führten. Wir können den Untergang des Marxismus auch in einer dialektischen Elegie betrachten, wie man eine überstandene Krankheit und die Schmerzen und Stimmungen darin im Nachhinein auch als eine schöne Erfahrung ansehen kann, die man doch nicht missen möchte, weil sie überstanden und eben darum nicht mehr ist! Der reale Sozialismus mit allen historischen Entwicklungen in der Folge der Oktoberrevolution als eine Krankheit zu betrachten, ist allerdings sehr oberflächlich. Dazu müsste man auf der anderen Seite den Fall der Gesundheit gegenüberstellen, was ich für reinen ideologischen Quatsch halte! Es ist ein Spalt im Brett vor dem Kopf, aber immerhin schonmal etwas, wenn man diese Phase der Menschheitsgeschichte als eine bestimmte Form der Fehlfunktion der Moderne sieht. Der Sowjetkommunismus sollte auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Weltanschauung stehen und durch und durch rational sein. Das war der eigene Anspruch und der von Marx und Engels, endlich die Philosophie und Politik auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Der Sozialismus sollte sich von der Utopie zur Wissenschaft entwickeln. Die Rationalität und Wissenschaftlichkeit aber wurde dogmatisiert und enthob sich ihren Grundlagen zugunsten einer Form des Irrewerdens der Vernunft an sich selbst, wie es auch die mittelalterliche kirchliche Scholastik praktiziert hatte. Manche sehen die Anlage dazu schon bei Marx und Engels selbst. Vielleicht ist es aber auch nur eine akademische Frage, die zu beantworten schön wäre. Die Paranoia der Vernunft! Inquisition, Hierarchie und Dogmatik verbanden sich mit modernen Mitteln der Bürokratie und dominierten ein auf diese Weise konstituiertes Imperium. Das leider ist historisch! Und damit auch noch immer real. Sinnsprüche auf Plakatwänden, Militärumzüge, kultartige Parteiversammlungen, strenge Zensur und Kontrolle der Individuen können nur punktuell und angedeutet die menschlich-politische aber auch philosophische Katastrophe skizzieren. Doch ich suche lieber eine sinnvolle Lebensbejahung.

 Gedankenstrich 12

Ich will mich nicht in Historizismen verlieren. Schlimm und schwer genug die aktuell erlebbaren Lebenslabyrinthe. Da fragt mich Simona, die eine links-aufklärerische Position auf ask.fm einnimmt und auf Fragen und Probleme der globalen Politik aufmerksam zu machen sucht, während ich dabei bin, meiner Romanfigur den Satz in den Mund zu legen «Das Ich ist ein Avatar unseres Selbst»: Wie lautet deine moralische Hauptregel und von wem ist sie inspiriert?
Simona

Und ich antworte:
Meine moralische Hauptregel lautet: Lebe deine Lust und finde das Leben! Sie ist von der Idee des Universellen in Ableitung von Hölderlins Poetik inspiriert. Und wunderbar fügt sich alles Stein für Stein zu einem kosmischen Bild zusammen. Diesen Satz werde ich noch variieren. Da gibt es in meinem Kopf nun die zu reflektierende Information, dass für Friedrich Nietzsche Hölderlin eine lebensbegleitende Lektüre war. Die Fäden, die sich in meiner poetischen Hermeneutik unsichtbar ziehen verleiten mich zum Gedankentanz. Ein Sprung und ich erkenne den vitaphoben, lebensfeindlichen, morbiden Strang des Rationalismus, der sich auf den Lehrstühlen universitärer Apparate und Schulwisserei breit macht und die hauchdünnen, seidenen, schier unsichtbaren Fäden, die luftig und leicht eine lebensfreundliche Philosophie in jede Zelle des Körpers einpflanzen. Ich brauche keinen kategorischen Imperativ. Ich weiß, dass Lust und Leben und Lust am Leben vitalisierende Wellen nach allen Seiten aussenden.

Und da steht nun der Satz an Simona: «Und wunderbar fügt sich alles Stein für Stein zu einem kosmischen Bild zusammen.» Willkommen im deutschen Idealismus! Bewegt sich der Ex-Marxist Uri reaktionär rückwärts? Ich sprach den Satz: Ich bin kein Marxist, denke lieber selber. Haben nicht viele andere auch sich vom Marxismus entfernend wieder zu reaktionär bürgerlichen Positionen und Posten gefunden? Die Sache mit den Posten wird noch Thema sein müssen, wenn ich an Hölderlin-Biographien und Interpretationen denke. Ich aber befinde mich nicht auf der Folie der Normalität. Mein Schulfreund und jugendlicher Mentor pflegte zu unserer Schulzeit zu sagen: «Links denkt sich's und rechts Lebt sich's besser, Bülbül! Wer mit 18 noch kein Kommunist ist, hat kein Herz, und wer es mit 30 noch ist, keinen Verstand!» Ich gehe auf die 60 und kann von mir getrost sagen, wie mein Vater zu sagen pflegte: «Ich habe meinen Verstand mit Käsebrot verspeist!» Mein Vater negierte diesen Satz natürlich. Ich aber verspeise lieber meinen Verstand als mein Herz. Auch das sehen Kannibalen anders. Ich aber, ich sitze in meinem Kleingarten und denke über den epikureischen Garten nach, formuliere im Geiste Sätze für die Paradiesologie, die ich nicht aufschreibe und sehe in Kant den großen verknöcherten Dogmatiker aller philiströsen Erkenntnisphilosophie. Ich umschiffe diesen Fels in der Brandung und wundere mich letztendlich nicht mehr, warum es mich nicht voller Begeisterung in den Schoß des universitären Dienstes zog.

Gedankenstriche 13-24
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
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