Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
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Gedankenstriche-Map
Gedankenstriche Teil II ab 185


Auf der Suche nach einem Mittel der Wahrnehmung...

Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern,
sondern des Menschen Verhältnis zur Welt.

 Gedankenstrich 61

Da liegt mein Freund und Seelengefährte Diego Li am Rheinufer in Homberg wie am Strand und schaut in die Welt hinaus. Der Gedankenstrich 61 besteht im Google-Dokument «365-Gedankenstriche» aus Fragen und Antworten, die auf ask.fm stattgefunden haben und von mir dokumentiert wurden. Ich möchte sie hier nicht noch einmal wiederholen. Sinniere lieber am Strand meines Seelenflusses liegend und die Welt betrachtend wie Diego Li, wovon ja die erwähnten Fragen und Antworten ein klitzekleiner Teil sind; aber auf die Größe der Teile, die im Denken der Manifestationen noch eine Rolle spielt, kommt es eigentlich in der lebendigen Denkwirklichkeit nicht an. Ich bin bei der Kynosophie angelangt. In den Hunden sehe ich einen Knotenpunkt diverser Linien wie Kultur-Natur, Leben-Reglement, Anthropozentrismus und Holismus und ähnliche Aspekte in binären Begriffen gefasster Phänomene. Ich bin durch Diogenes' Zynismus auf die Kynosophie gekommen, einen klar definierten Startpunkt (wie auf dem Zahlenstrahl eine natürliche Zahl) vermag ich nicht anzugeben, vielleicht gibt es ihn nicht. Der Gedankenstrich 61 hier fühlt sich an wie ein Stolperstein. Die Nummerierung suggeriert eine Linearität, die es weder gibt, noch geben sollte: ZERFAHRENHEIT, Rhizomatik, Monismus sollten mein Schreiben charakterisieren, alle diese Bezeichnungen schließen Linearität aus. Auch der Ausdruck "Gedankenstrich" steht nicht für Linearität, sondern für die Kennzeichnung eines Punktes in einer losen Sammlung, obwohl von "Strich" die Rede ist.Der Strich aber ist ein Zeichen, er steht für etwas anderes und nicht für Linearität. 61 ist ein Gedankenstrich unter vielen. Und die Bezugnahme auf das Google-Dokument «365-Gedankenstriche» deutet ja auch an, dass verschiedene Ebenen ineinanderfließen. Verschiedene Texte für sich und zusammen gelesen werden können; parallel sind, deckungsgleich manchmal und doch verschieden. Der momentane Versuch einer Selbstbesinnung ist eigentlich ein Zeichen für den Selbstverlust oder für den Verlust der Selbstkontrolle des vernünftigen Ichs. Nein, des VERNÜNFTELNDEN Ichs. Es steht für das Überborden der Intuition und der Emotionen, die ihr Flussbett verlassen und die Landschaft überschwämmen. Rationalisten können dies als ein Zeichen des Eingeständnisses interpretieren, dass mir ein vernüntiges Philosophieren nicht gelingt. Ich bin lange in eure Schulen gegangen, liebe Rationalisten, um dies antizipieren zu können. Aber nicht umsonst suche ich doch meinen inneren Selbsterhalt im Namen "Hölderling", und muss nun sagen:
Ach! wär ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich töricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben. Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne.
Diese Hyperion-Stelle, es ist der Anfang des Romans, muss ich für mich selbst neu ausdeuten. Gewiss nicht als Literaturwissenschaftler, Literaturwissenschaft ist mein Geschäft nicht! Obwohl sich jeder lieber mit der Wissenschaftlichkeit schmückt als mit der Einheit seines Selbst mit der Natur sprich mit dem Leben! Es macht wenig Sinn, von der "Natur" zu sprechen. Wir vergeben uns da sehr viel Erkenntnisspielraum. Denn es geht nicht um das Gegensatzpaar Natur-Kultur! Alles Kultur und Vernunft ist letztlich Leben. Es geht um das Leben. Ich kann auch den Schopenhauerschen Begriff aufgreifen und mit ins Spiel bringen: es geht um den LEBENSWILLEN. Schopenhauer ist gewiss kein Vitalist, er hat keine Lebensphilosophie, er hat die «Aphorismen zur Lebensweisheit» und eine negierende Einstellung zum Leben, was Nietzsche aus meiner Sicht sehr zurecht kritisiert und ablehnt. Schopenhauer schlägt sich auf die Seite der «Leibesverächter», aber eigentlich der Lebensverächter. Ich teile weder die Machtphilosophie Nietzsches noch Schopenshauers Nihilismus noch bin ich mit Hölderlin eins. Schopenhauer wird Opfer des Salons seiner Mutter, Hölderlin seiner Mutter Opfer in ihrem Sicherheitsbestreben für ihren Sohn «Hölderle»; Schopenhauer und Hölderlin können kein eigenes tragfähiges Konzept gegen das mütterliche setzen, obwohl Schopenhauer den Stil seiner Mutter zutiefst verachtet. In der Verachtung des mütterlichen Salons wird er ein Opfer des Salons. Er kann sich nicht darüber mit einem eigenen Lebenskonzept erheben... und nun sage ich als Kynosoph: obwohl er einen Hund "besaß"! Aber womöglich ist genau das der Fehler: das Wort "besitzen"! Er lebte nicht in Willenseinheit mit seinem Hund, er lebte nicht in einem lebendigen Dialog mit ihm und das macht womöglich die Kynosophie aus. Aber auch mir stellt die Sprache Fallen, was ich an dem Wort «besaß» gerade eben erkannt habe. Und in wievielen Fallen bin ich verfangen, die ich nicht erkenne?

Wie auch immer ich beginne damit, die Ideen zu explizieren. Wenn ich mich mit der Kynosophie dem Intuitionalismus und Vitalismus zuwende, zuvor für die Romantik eine Lanze brach, wenn ich von "Spiritualität" spreche, und mich dem Idealismus zuzuwenden scheine, was ich nicht in Anhängerschaft mache, sondern in skeptischer Aufmerksamkeit, und im Grunde dafür plädiere, Spiritualität und Idealismus voneinander getrennt zu begreifen, von der Theologie zu befreien, wie einst das junge Trio Hegel, Schelling, Hölderlin im Tübinger Stift es versucht haben mit ihrer Hinwendung zur Antike. In Theologie und Fideismus war ich nie! Das Pfarramt stand mir als bürgerliche Existenzabsicherung nie in Aussicht - nicht einmal von der überbesorgten Mutter in die Laufbahn gedrängt.

Mich treiben andere Zwänge. Wer oder was nötigt mich? Es ist ein altes in mich implementiertes linkes, marxistisches Pflichtgefühlt. Ein seltsames Konglomerat aus Furcht vor Verrat, d.h. als Verräter zu gelten, ein Überläufer zu sein auf der einen Seite, auf der anderen: Liebe und Verbundenheit. Ein «religiöses Gefühl gegenüber der Ideologie», soziales Gerechtigkeitsempfinden, verschwörerisches Zusammenhalten und umstürzlerische Aktivitäten zu entfalten mit der Furcht gepaart, von dieser Ideologie als Konterrevolutionär und Reaktionär verstoßen zu werden. Eine völlige ideologische Heimatlosigkeit.

Ich bin aufgrund meiner Sozialisation und Bildung nicht anders als andere Menschen in den Dualismen «Materialismus vs. Idealismus»; «Aufklärung vs. Romantik» oder «Aufklärung vs. Mystizismus»; «Rationalismus vs. Irrationalismus»; «Vernunft vs. Aberglaube» verfangen bzw. nicht ganz frei davon und habe mir wie an einem Brombeerstrauch Schrammen, Kratzer, Dornen eingefangen, die im Fleisch stecken und bei Berührung schmerzen. Und doch ist es völlig falsch, zu sagen. «ach wäre ich doch nie in eure Schulen gegangen». Mein Engagement für den Marxismus in der Kommunistischen Partei, mein politisches Leben an der Ruhr-Universität, meine Begeisterung für die Idee der Basisdemokratie, meine Arbeit als Referent für Kritische Wissenschaften im AStA haben nicht nur Spuren hinterlassen, sie haben mich doch geprägt! Und manchmal ist es vielleicht ein wenig seltsam, wie weit ich die Dinge von meinem momentanen Denken und Wirken fernhalte, semantisch verdränge und diese doch in der Tonart und Färbung meiner Gedanken mich wieder einholen. Und da ist dann plötzlich eine Antwort auf ask.fm/Klugdiarrhoe, die sich so anhört: Kann man sich kennenlernen?
20. Oktober 2022
Nein. Man bleibt sich selbst ewig unbekannt. Die Forderung am Eingang zum Orakel von Delphi: «Erkenne dich selbst!» ist göttlicher Zynismus. Denn die Götter wissen um die menschliche Unfähigkeit.

Man hört eigentlich meine Verbitterung über die um mich waltende Dummheit, die wie Eiseskälte mich durchdringt: «Kann man sich kennenlernen?» ist gewiss nicht philosophisch gemeint, sondern ein dümmlicher Flirtversuch im Shoutout unglücklich formuliert und meint «Können wir uns kennenlernen»! Ich aber fröstle vor der Kälte, obwohl die Frage an keine bestimmte Person gerichtet, sondern ins Blaue geschrieben ist, wie ein Fragment einer Bekanntschaftsanzeige. Und ich sitze davor am Ende meiner Bemühungen, die ich am beginnenden Lebensanbend noch nicht abgeschlossen haben will, und lasse meine Verbitterung über die Dummheit, die ich bekämpfen und aus der Welt vertreiben wollte, in eine bildungsphraseologische Antwort fließen:
  • Orakel von Delphi
  • Erkenne dich selbst
  • Ödipus-Tragödie, der nur die schreckliche Schuld am Ende unausweichlich erkennen muss
  • Noch gestern im Gespräch mit einem neugewonnenen Kollegen im Garten: meine Leugnung einer metaphysischen Schuld, als er in seiner mir vorgetragenen Ballade von «Verzeihung» spricht
  • Und in der Nacht greife ich auf Youtube zu Jochen Kirchhoffs Vortrag über Arthur Schopenhauer «Arthur Schopenhauer als Mystiker» und stelle plötzlich im Halbdämmer fest, worin der Kardinalfehler besteht - natürlich! Ich hätte es viel deutlicher und klarer sehen müssen - viel früher! Aber es ist und bleibt weder klar noch deutlich: der Kardinalfehler in Kirchhoffs Vortrag ist die AKZEPTANZ ARTHUR SCHOPENHAUERS ALS PHILOSOPHISCHE AUTORITÄT!
  • Daraus folgend nun die Frage: Wo bleibt das Kantische SAPERE AUDE! der Aufklärung??? In gegenwärtigern Mündern wird es so zitiert: «Kant sagt: Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» und nicht einfach: «Ich bediene mich meines eigenen Verstandes!» Die Vernunft existiert im Medienzeitalter lediglich als Phrase.
    Aufklärung gilt als eine abgeschlossene Epoche und ist ganz entgegen ihrem notwendigen Wesen nicht als ständiger kritischer Prozess gedacht. "Kritik" wird häufig als "Nörgelei" und "Schlechtmachen" verstanden und nicht als eine sachbezogene und in diesem Sinne objektive Analyse. Alle halten sich für aufgeklärt und vorherrschend ist aber ein religiös wahnhafter Glaube an gängige Wissenschaft und an Medien. Die Formel «es ist wissenschaftlich erwiesen» ist wie eine Zauberformel, die aus jeder Behauptung eine Wahrheit zaubert.
    Der positivistische Wahn, schon in Adorno/Horkheimer «Dialektik der Aufklärung» kritisiert, hat seitdem in rund 80 Jahren kein bisschen nachgelassen. Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit in Kombination mit Machbarkeitswahn haben keinen provitalen Lebensbezug zugelassen: Mensch, Gesellschaft, Umwelt systematisch zerstört, den Menschen zu einer total parasitären Spezies auf dem Globus werden lassen.

    Da steht heute das SAPERE AUDE!
Der Vortrag von Jochen Kirchhoff zieht sich über sechzig Minuten: Schopenhauer dies, Schopenhauer jenes, Schopenhauer hätte sich selbst nie als Mystiker bezeichnen lassen, hätte alle, die dies taten mit wüsten Beschimpfungen bedacht usw. usf. Und ich kann mich noch an ein Gespräch in meiner Jugend mit meinem Klassenkameraden und Mentor Klaus Kronmüller erinnern, der mich vor Schopenhauers Mystik und Buddhismus warnte und mir sagte, ich hinke meiner Zeit um zwei Jahrhunderte hinterher! Wir waren noch keine 18 Jahre alt und verbummelten den Sportunterricht mit Diskussionen im Außenbereich der Waiblingener Rundsporthalle, wofür mir der Sportlehrer später eine Fünf im Zeugnis gab, mit der Bemerkung, ich sei der erste Schüler, der dies bei ihm geschafft habe.

Wir haben heute keinen Kontakt mehr - schon seit Jahrzehnten nicht! Ein Briefwechsel scheiterte sehr misslich von meiner Seite, weil ich große Schwierigkeiten hatte, Kronmüllers Handschrift zu lesen. Und seitdem Schweigen! Aber zweifellos war er mein Mentor in der Jugend und der wichtigste Impulsgeber bei der Richtung, die mein Leben einschlug. Nun haben wir gelebt, wie wir gelebt haben, erlebt, was wir erlebt haben und verlebt, was wir verlebt haben! Nein, es ist nicht vorbei, es müsste ein lebensabendliches Treffen geben und ich würde so gerne wieder seine heftigen Kritiken an mir hören.

Es wäre ein Sapere aude ohne Autoritäten.

Kant, Nietzsche, Schopenhauer oder wer auch immer haben Leistungen erbracht, uns eine wichtige Tradition hinterlassen, nun aber müssen auch wir den Mut haben, die Hinterlassenschaften hinter uns zu lassen. Denn innerhalb der Philosophiegeschichte können wir unmöglich philosophieren, wie wir auch ohne die Kenntnis und Verinnerlichung dieser Geschichte nicht philosophieren können.

Mich erzürnt die absolute Hohlbirnigkeit der Beiträge und Fragen - vor allem der Shoutouts auf ask.fm, die auch mich erreichen und entrüsten, aber zugleich muss mir eines bewusst sein: Der Zorn hat etwas mit mir zu tun! Ich bin ein Teil der Dummheit dieser Welt, die Dummheit ist nicht nur um mich, sondern auch in mir - und das erzürnt!

Jochen Kirchhoff hingegen ist alte Schule der Philosophiehistorie: er referiert und vermischt in seinem Referat, sich hinter der Autorität eines vermeintlich Großen versteckend, eigene philosophische Gedanken, Haltungen, Meinungen, kurzum Inhalte mit denen desjenigen, über den er zu referieren...ja, vorgibt! Es ist ein Kirchhoffscher Schopenhauer-Brei und die klassische latente Haltung dahinter: keiner ist dem Interpretierten (in diesem Fall Schopenhauer) so nah wie ich, so dass ich sogar sagen kann, was Schopenhauer gesagt hätte, wenn er dies oder jenes über sich (in diesem Fall: «Schopenhauer als Mystiker») gehört hätte. Die implizite Genie-Annahme ist in der Struktur autoritär.

Mich ärgert nicht, dass man wenig über Schopenhauer erfährt oder über Kirchhoff. Mich ärgert der Mangel an philosophischer Praxis, an Tätigkeit, an Ringen um Erkenntnis, denn es geht nicht um «Schopenhauer als Mystiker», es geht um das Band, das die Welt im Innersten zusammenhält - vorausgesetzt, dass es ein solches überhaupt gibt oder irgendetwas gibt, was dieser Metapher semantisch nahe käme.

 Gedankenstrich 62

Du bist ein glücklicher Mensch

17. Oktober 2022
Das sage ich mir ja auch. Oder versuche ich es mir nur einzureden? Es gibt viele Dinge, die dafür sprechen... wofür? Dass ich es mir einrede? Das vermag ich noch nicht zu beurteilen. Vielleicht bin ich am Ende meiner Antwort selber etwas schlauer. Zunächst scheint vieles dafür zu sprechen, dass ich ein glücklicher Mensch bin. Ich habe einen einmaligen Hundefreund mit größter Sensibilität, Anhänglichkeit und Dickköpfigkeit, mit einem wundervollen eigenen Willen und doch Verbundenheit zu mir - so etwas erleben zu dürfen, ist schon ein ganz großes Geschenk des Lebens. Allein das macht mich schon unendlich glücklich und rührt mich immer und immer wieder zutiefst. Ich bin ein glücklicher Mensch, weil ich ein freies Künstlerleben führe mit allen dazugehörigen Abenteuerlichkeiten und sozialen Risiken. Ich bin kein Lohnsklave und werde auch durch keine Hartz-Behörde erniedrigt und geknechtet. Ich habe ein MagicMysteryHouse zur Wohnung und einen schönen Garten mit der Kulturlaube. Auch Freunde, die mir helfen, mich beraten und unterstützen sind da. Ich bin gesund und munter, habe genug zu essen und wohne in einem Teil der Welt, der von Krieg und Naturkatastrophen verschont ist. Mir kommt es fast so vor, dass es an Undankbarkeit grenzt, wenn ich in dieser Situation überhaupt daran zu zweifeln wage, dass ich glücklich bin.Die Situation ist womöglich glücklich, aber ich... ich bin es trotz all dieser optimalen Faktoren nicht. Von einer bodenlosen Melancholie erfasst, unternehme ich alles, um in kein Depressionsloch zu fallen. Aber so einfach ist es nicht.Ich sage mir: die Melancholie gehört als Gewürz zu meinem Glück. Ein Poet, ein Philosoph, ein Dichter, ein Künstler ohne Melancholie, kann doch das Leben gar nicht wertschätzen, die einzelnen Momente genießen, die Sensibilität in sich stärken und offen, empfindlich wie empfindsam sein! Gehört also nicht gerade die Melancholie zu meinem ganz persönlichen wunderbaren ästhetischen Glück? Ich konnte hier mit @DerBilal darüber diskutieren, ob es ein richtiges Leben im falschen gebe! Ist es nicht allein schon Glück, dass ich solche Diskussionen, Dialoge führen kann? Ist denn nicht gerade das "richtige" Leben zugleich das "glückliche"? Muss ich denn dann nicht ein glücklicher Mensch sein? Wer bestimmt denn, was "richtig" und "falsch" ist, fragte Bilal! Ist denn nicht jeder Organismus, der Stoffwechsel, Fortpflanzung und Wachstum zu betreiben vermag, "richtig" lebendig? Gibt es denn auch ein "falsches" lebendig sein? Oder muss man "richtig" und "falsch" moralisch sehen statt biologisch? Dann wird es noch fragwürdiger mit der Beurteilung! Wer darf das? Was aber, wenn man im falschen Leben gar kein richtiges Glück zu empfinden vermag und einfach traurig wird mit einer Trauer, die weit über das empathische Gerührtsein hinausgeht? Ich glaube, ich bin ein glücklicher Mensch, der das größte Glück darin sieht, sich unglücklich fühlen zu können und Trauer zu empfinden, tiefe Melancholie :'(

 Gedankenstrich 63

Wundert mich nicht das du Single bist.
12. November 2022

Korrekt lautet der Satz: «Wundert mich nicht, dass du Single bist».

Da muss ein Komma sein, das einen untergeordneten Nebensatz mit einem unterordnenden Bindewort («dass» mit Doppel-S) einleitet. Und dann eben dieses unterordnende Bindewort «dass» - nicht zu verwechseln mit dem bestimmten Artikel des Neutrums «das». Dieser würde einen Relativsatz einleiten, wie z.B.: «Das Wissen, das ich mir aneignete, ist kein Schulwissen».

Schau, was Hölderlin in seinem Hyperion-Roman schreibt:
«Ach! wär ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich töricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben.

Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne.»
Ich aber, ich vertrockne nicht, ich gehe mit einem weisen Hund lustwandelnd durch die Welt und philosophiere. Ja, ja, du hast richtig gelesen: mit einem weisen Hund, das betrifft seine Geistesgröße und nicht die Färbung seines Fells. Er ist aber auch zufällig weiß und nicht nur weise.

Diese Unterschiede sind besonders dann wichtig, wenn unsere Weisheit sich nicht auf Schulwissen reduzieren soll.

Ich sage nur: KYNOSOPHIE!


Wie würde sich die Gesellschaft verändern, wenn alle Menschen in einer Welt leben würden, in der Harmonie und Frieden herrschen und Konflikte und Kriege keine Rolle mehr spielen?
samseraph8541

2. April 2024

Konflikte und Kriege gehören nicht in eine Kategorie und sollten nicht in einem Atemzug genannt werden. Krieg ist organisierte und hochtechnisierte Gewalt!Mit Gewalt wurden nie Konflikte gelöst, und Gewalt entsteht auch nicht aus Konflikten, sondern hat andere Ursachen!Es wäre doch wunderbar, wenn Menschen endlich begreifen würden, dass sie alle in einer Welt leben miteinander und mit anderen Lebewesen! Harmonie bedeutet keinesfalls, dass es keine Konflikte gibt, keine Meinungsverschiedenheiden oder gegensätzliche Interessen, Ansichten, unterschiedliche Lebensweisen und Auffassungen! Harmonie entsteht aus der Synchronisation der Differenzen. Und das schafft man nicht mit Gewalt! Gewalt schafft nur Gewalt!Aber so tief ist der Krieg in unsere Psyche eingedrungen, dass wir kaum merken, dass Krieg und Konflikte nicht in einem Zusammenhang genannt werden können. Wir sehen doch: sie können! Ja, Irrtümer finden immer auch ihren sprachlichen Ausdruck. Aber sie bleiben Irrtümer.

Sollten wir nun über das Wort "Frieden" sprechen?

 Gedankenstrich 64

Da kommt ein Chris auf ask.fm und großkotzt anderen vor die Füße, was ich als eine nette Provokation empfinde:
Die Hauptsache besteht ja schlussendlich darin, dass ich was Besseres bin als alle anderen gewöhnlichen Menschen. Und jeder andere ist nunmal gewöhnlich. Nur ich eben nicht. Ich bin was Besseres :)

Meine Antwort darauf:

Jeder ist sich selbst der nächste, sagt man - irrtümlich ;) Individualismus, der in die Einsamkeit treibt und Wertungshierarchien huldigt, beraubt das Individuum auch der sozialen und empathischen Energie der Mitmenschen. Damit schädigt sich das Individuum selbst, aber auch die sozialen Bindungen und Gefüge. Ich habe kurz überlegt zu schreiben: «In deiner Welt ist das gewiss so!» Aber diese Antwort greift zu kurz, letztendlich hängt alles mit allem zusammen, was nicht ausschließt, dass das Ordinäre gewöhnlich und das Gewöhnliche ordinär und vieles so wertlos wird. Wir müssen die Phänomene unter dem Blickwinkel des Lebens und der Lebensfreude betrachten. Vielleicht hilft dir das bei einer differenzierteren Selbsteinschätzung.

Ich komme ein halbes Jahr später noch einmal darauf zurück und frage mich: Ist Narzissmus die Kehrseite des romantischen Individualismus womöglich eines Hölderlin? Wofür schlägt das Blaue Herz? Wonach sehnt es sich? Ist die Ästhetik der Freiheit auch DIE Ästhetik des Lebens?


Das Blaue Herz, das Symbol meiner Neo-Romantik, was weder "Neo" noch "Romantik" ist, weil der Ausdruck "Neo-Romantik" lediglich eine historische Etikettierung einer Epoche oder Strömung ist, die eigentlich "meine" nicht wirklich sein kann; denn ich bin noch inmitten meines Seins und Lebens, auch wenn ich mich hier und da daraus hinaus zu rationalisieren versuche.

Was eigentlich hinter der Etikette steckt, bekommt vielleicht eine Identität, aber Identität bedeutet nur, dass der Fluss an dieser Stelle unter diesem Blickwinkel nicht zu fließen scheint. Identität ist Schein. Das Sein ein Wandel, der sich unterschiedlich schnell vollzieht und sich von einem ganz anderen, späteren Zeitpunkt aus von anderen Subjekten etikettieren lässt.

«Dialektik ist nicht nur ein philosophischer Terminus», sagte mein Philosophielehrer schon in meiner Gymnasialzeit, «sondern eine Einstellung zum Leben». Einstellung zum Leben! Ich bin geneigt zu sagen: Einstellung muss auch Zugang sein, aber wie kann man von "Zugang" sprechen, wenn man doch schon, um denken und sprechen, um fragen und Zugang suchen zu können, leben muss? @DerBilal würde hier zurecht ein Paradox sehen: Jemand muss leben, um Zugang zum Leben suchen zu können. Ich würde sagen: «Zugang zum richtigen Leben!» Und Bilal würde fragen: «Wer entscheidet denn, was "richtiges" und "falsches" Leben ist. Leben ist in jedem Fall Leben!» Die Diskussion rührt nicht nur daher, dass Wörter verschiedene Bedeutungen haben und Bedeutungen sich auch unter verschiedenen Aspekten verschieben. Einmal ist biologische Funktion gemeint, ein andermal der Stil, die Lebensweise, dann wieder die moralische Bewertung der Lebensweise. Es ist ja auch der Drang nach Freiheit gewesen, der Bilal widersprechen ließ, weil er sich nicht vorschreiben lassen will, was an seinem Leben richtig oder falsch ist. Das blau schlagende Herz aber bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel: das "richtig" und "falsch" ist keine Beurteilung von Außen, sondern das Gefühl in einem selbst, das die Frage aufwirft: «Lebe ICH richtig? Oder was fühlt sich falsch an?» Das lässt sich auch so paraphrasieren: «Habe ich ein Gefühl der Erfüllung in meinem Leben? Ein existenzielles Wohlbefinden? Kann ich sagen: Genau so gefällt es mir?»

Sind das nur rationalistische Spinnereien ÜBER "das" Leben? Da ist eine Sehnsucht nach "richtigem", nach "lebendigem" Leben - das kann durch das Blaue Herz symbolisiert werden. Diese Sehnsucht hat man in sich oder man hat sie nicht. Sie kann nicht von einer anderen Person eingefordert werden. Friedrich Hölderlin ist für mich eine wunderbare Symbolfigur der Auseinandersetzungen in einem selbst um Freiheit und der inneren Kräfte nach Freiheit. Ich habe vor ein paar Tagen einen Roman unter dem Titel angefangen "Ästhetik..." und wusste später nicht mehr genau auswendig, ob "Ästhetik des Lebens". Geschrieben hatte ich: "Ästhetik der Freiheit". Vielleicht ist "richtiges" Leben "freies" Leben.

Es grüßt das Blaue Herz.

 Gedankenstrich 65

Sinn des Lebens?

4. Dezember 2022

Ich möchte den Begriff des "Transhumanismus" anders bestimmen, als er technokratisch bestimmt ist: Körper- und Lebensfunktionen "optimieren" und "Leistungsfähigkeit" durch Implantationen und technische Mittel steigern. Herzschrittmacher, bestimmte Elektrodenimplantationen ins Hirn, um Epilepsie auszuschalten oder zu vermindern, sind zwar auch technische Hilfsmittel, aber sie sollen pathologischen organischen Defekten entgegenwirken. Das ist selbst technokratisch mit "Transhumanismus" nicht gemeint. Vielmehr soll Technik in den Körper integriert, einen an sich gesunden Organismus leistungsstärker machen. Dieser Gedanke ist mir zuwider, weil ein Ausdruck menschlicher und technologischer Hybris.

Der Ausdruck "Transhumanismus" aber erscheint mir an sich interessant, wenn man ihn inhaltlich nur ganz anders füllt. Ich würde gerne darunter die Überwindung der humanistischen Ideologie durch die Optimierung ihrer besten Ideale verstehen wollen. Der Humanismus hat sich als bürgerliche Ideologie der Neuzeit und Moderne bis heute vollständig entlarvt und als phrasenhafte Heuchelei erwiesen. Rund 500 Jahre hohle Sprüche und Absichtserklärungen. Die erste Erklärung der Menschenrechte, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, die Abschaffung der Sklaverei und am Ende 2022 Fußballweltmeisterschaft in Katar. Das ist alles, was herausgekommen ist? Von Massenvernichtungen in der Geschichte seit dem ganz zu schweigen! Die historische Bilanz kurzum: erbärmlich! Also können wir den Begriff des Humanismus durchaus transzendieren dürfen und die Metamorphose einleiten mit der Frage nach den Gründen des Totalversagens des Humanismus und der Idee der Humanität. Die Forschung in diesem Sinne kann von mir aus gut und gerne "Transhumanismus" heißen. Die Überwindung der Ideologisierung der Menschlichkeit. Sie ist auch eine Überwindung des Anthropozentrismus. Der Kern der Sache ist, dass wir uns in evolutionärer Relativität als ein Teil dessen erkennen, was wir gerne ideologisch als "Natur" von uns abtrennen. Wir bilden uns ein, dass Geist, Denken, Vernunft und manchmal sogar Seele allein uns zukommt und schließen den logischen Gap in unserem selbstdefinitorischen Denken gar nicht erst bemerken, geschweige denn zu schließen versuchen: wenn der Mensch evolutionär entstanden und nicht von Gott erschaffen ist, dann sind Geist, Vernunft, Denken und Sprache ebenfalls Naturprodukte und womöglich gar nicht einzigartig in der Welt. Wir müssten konsequenter Weise aufhören, uns als die Krone der Schöpfung oder aber auch den evolutionären Kulminationspunkt zu betrachten und auch von unserem Anthropozentrismus abrücken. Das wäre die Grundlage einer Neudefinition unseres Verhältnisses zur Ökologie und auch zu uns selbst, was uns auch den Blick freigeben könnte für den Wert des Lebens, dass es nicht übersteigbar ist und sich eigentlich alles dem Leben nachrangig arrangiert. Das Leben ist das höchste Gut und kann keinem Sinn untergeordnet werden.

Und in diesem Zusammenhang taucht in mir die Frage auf, ob wir nicht eine paradigmatisch neue Bewusstseinskultur entwickeln müssen. Eine Frage, die philosophiehistorisch vielleicht nicht neu ist, ich denke da nicht zuletzt an Friedrich Nietzsche, aber sie kann neu gestellt und neu formuliert werden.

 Gedankenstrich 66

Lebst du vegan oder isst du gerne Menschenfleisch?
Lexi Doller
12. Dezember 2022

Ich kenne keinen Menschenmetzger, der Fleisch verkauft. Die Menschen schlachten sich einfach so ab für Macht, Geld, Gier und Ideale. Im Grunde verstehe ich den Ansatz, dass Tiere nicht weniger wert sind und eine Seele und Geist haben, der Mensch keinerlei Vorrechte besitzt als "Krone der Schöpfung" oder so etwas, außer denen, die er sich per Macht über Natur und Leben gewaltsam aneignet. Man kann auch rein vernünftig sich eine Ethik überlegen, die letztendlich zum Veganismus führt. Das Problem aber ist, dass diese rein vernünftige Ethik am Leben vorbei denkt, lebensfeindlich und körperverachtend ist. Leben und Askese sind harte Widersprüche, echte Antagonismen. Und ich bin als Lebensphilosoph auf der Seite des Lebens.

So weit meine ask.fm-öffentliche Antwort. Hier wird der Gedanke noch etwas ausgeführt. Es geht um die Paradoxie, in der sich die vegane Ethik befindet. Man kann aber auch andererseits sagen, dass das Leben an sich eine Paradoxie darstellt. Sie sollte aber nicht einfach und schon gar nicht zu vorschnell hingenommen werden.

Wenn die ethische Maxime, niemandem Schaden zuzufügen und lieber Schaden zu erleiden ist, dann kann am Veganismus nichts ausgesetzt werden, es sei denn, ich würde meine Maxime, dass der Mensch keinesfalls die Krone der Schöpfung sei und sich die Welt untertan machen dürfe, wieder verwerfen. Dann könnte man dem Veganismus entgegenhalten, was für Menschen unter Menschen gelte, dürfe nicht auf die gesamte Natur angewandt werden, denn der Mensch sei etwas Besonderes und habe einen Sonderstatus. Diese Haltung teile ich ethisch nicht. Der Mensch ist ein Teil der Natur - nicht mehr, nicht weniger. Und ob er der glücklichste Wurf evolutionärer Entwicklung sei und die Spitze der Ausdifferenzierung, darf mehr als bezweifelt werden. Die technologisch-zivilsatorische Entwicklung ist lediglich eine Verengung des Blicks auf einen einzigen Entwicklungsgesichtspunkt, von dem aus alles andere bewertet und vor allem entwertet wird. Der Veganismus ist für die philosophische Erkenntnis besonders wichtig, weil er uns auf unsere barbarische, parasitäre und grausame Ernährungsweise und darüber hinaus auf unseren ebenso barbarischen und ausbeuterischen Umgang mit der Welt und ihren Lebensressourcen aufmerksam macht.

Er schlägt aber in sein Gegenteil um und wird selbst barbarisch und grausam in seiner Menschen- und Lebensfeindlichkeit, wo er zur reinen Verzichts- und Enthaltsamkeitsideologie wird. Jede dogmatische Versteinerung, jede radikale und rücksichtslose Verallgemeinerung, jede Verabsolutierung, hat tragische, lebensfeindliche Folgen. Auf Radio München ist dieses Phänomen als «Gewissenlose Moral» auf den Punkt gebracht:



Der Veganismus denkt nicht nur eine Ernährungweise und eine geistige Haltung zur Ernährung konsequent weiter. Die Konsequenz wird zur lebensverneinenden Ideologie mit einer hasserfüllten Eigendynamik. Das hat eine christliche Analogie, wenn nicht gar eine Tradition, aber auch eine, die sich im dogmatischen Marxismus wiederfindet und im bürokratischen Sozialismus des Ostblocks eine historische Chance zunichte gemacht hat. Fast ist es müßig, sich zu überlegen, ob nicht alles hätte auch anders kommen können. Eben nur fast deswegen, weil ich mir als Individuum durchaus noch Gedanken mache, wie ich als Gattunsgwesen Mensch individuell Würde bewahren kann, wie es Thomas Metzinger in seiner "Bewusstseinskultur" andenkt. Würde bewahren nicht mit sondern trotz meiner Gattungszugehörigkeit zur Menschheit.
Während sich die Gläubigen darin zu wahrer Glaubensstärke herausgefordert sehen, zeigt die Geschichte für Ungläubige den Wahnsinn einer fanatischen Selbstaufgabe. Es geht um das Verhältnis von Glauben und Vernunft, natürlicher Ethik und göttlichem Gebot.
Was den Veganismus unsympathisch macht, ist nicht, die Demonstration, dass man ohne tierische Produkte gesund leben kann. Das ist eine Bereicherung der Vilefalt an Möglichkeiten und Lebensweisen. Wer es mag, kann sich dem anschließen, ganz ohne die Philosophie bis in die letzten Axiome zu hinterfragen. Denn müsste man nicht in logischer Konsequenz auf den Verzehr jeglichen Lebens verzichten? Natürlich kann man diese Frage akademisch erörtern und festhalten, dass Früchte, Nüsse, nachwachsendes Gemüse verzehrt werden können, ohne dass dafür eine Pflanze sterben muss, was für Fleischkonsum unmöglich gelten kann. Man kann sich aber auch Verhaltensweisen und Lebensweisen anschließen, weil sie einem einfach sympathisch erscheinen. Mit dieser Haltung wird jedenfalls eine Dogmatisierung umgangen, die Glaubenssätze und Prinzipien über das Leben selbst stellen und die Haltung einnehmen: wer sie nicht annehmen und einhalten mag, soll des Todes sein. Mit dieser Position wird immer wieder Unheil angerichtet, so dass hier ein Umdenken und Paradigmenwechsel vonnöten sind. Ich verweise auch immer wieder gern auf den Vortrag von Paul Watzlawick: "Wenn die Lösung das Problem ist". Vielleicht ist der Paradigmenwechsel, so unbescheiden das Wort auch ist, kulturell nur möglich in Selbstbescheidung. Die Rücknahme der eigenen ideologischen, moralischen, politischen Haltung und Rücksichtsnahme auf andere Lebensweisen und Lebensformen. Leben und Lebenlassen, wo immer es nur möglich ist.

Diese Notwendigkeit ist überhaupt der rote Faden, der sich durch die Gedankenstriche zieht. Und im Gedankenstrich 100 ist dies noch einmal aus einer anderen Perspektive thematisiert. Es gilt, denkend, sprechend, künstlerisch performierend das Möglichste dafür zu tun. Nicht, dass ein einzelner Mensch bewusst und gezielt, einen kulturellen Paradigmenwechsel herbeiführen könnte, ebensowenig, wie ein einzelner Mensch sprechend eine ganze Sprache verändern kann; aber doch kommt es auch darauf an, wie er in der Sprache lebt und dies in seinen Äußerungen konkret und lebendig realisiert, welchen Ton er wählt und wie er mit anderen kommuniziert, welches Vokabular er benutzt usw. Kurzum: Nur weil unsere Realität mörderisch ist, müssen wir uns nicht mörderisch verhalten.

 Gedankenstrich 67



Was kann man von mir lernen
22.Dezember 2022

Ich erzähle und erkläre viel und gern. Denn durch Lehren lerne ich selbst, überdenke und strukturiere mein Wissen, mache mir neue Gedanken und entdecke neue Aspekte. Ich bin für die anderen Subjekte nicht verantwortlich. Sie sind deswegen Subjekte, weil sie selbst entscheiden können, was sie von wem lernen wollen. Mich kann man fragen, wenn ich antworte, kann man sich seine eigenen Schlüsse ziehen. Meine Gebiete sind Kulturphilosophie, Kulturarbeit, Literatur, kreatives Schreiben. Eine Zeitlang habe ich mich mit Methoden der Geisteswissenschaften beschäftigt, letztendlich vermittle ich aber kein universitäres Wissen. Medien, Universitäten, Hochschulen, Wissenschaften - Adorno sprach auch von der "Kulturindustrie" und hatte mehr den populären Unterhaltungssektor des Films, der Musik und der Bestseller Literatur im Blick - ich würde lieber von der "Aufklärungsindustrie" sprechen und konstatieren, dass sie mir schier nichts zu bieten hat - anderen denkenden Subjekten übrigens auch nicht! Die Aufklärungsindustrie ist eine Verblödungsindustrie und selbst schon stark verblödet. Im Grunde aber komme ich mit meinen Aussagen über Adornos Erkenntnisse nicht hinaus. Mit der "Dialektik der Aufklärung" ist über die moderne Kultur schon sehr viel gesagt. Das ist rund siebzig Jahre her, und die grundsätzliche Frage dringendster Art ist: was können wir heute ändern? Und unter diese Frage subsumiert würde ich noch fragen: warum hat sich in 70 Jahren nichts Wesentliches verändert? Warum gab es keinen radikalen Kurswechsel? Aber ich habe selbst auch keine Antwort darauf: nur die Technik des Antwortens, die einfach die historischen Ereignisse aufzählt, ist vollkommen unzureichend, um nicht zu sagen: blöd! Es ist tautologisch, dass die Dinge so sind, wie sie geworden sind. Diese historische Kausalität ist aber an jedem Punkt ihrer Entwicklung voller Alternativen gewesen, die mit dem Eintreffen einer Möglichkeit belanglos werden. Nur der Spruch "hätte, hätte, Fahrradkette" bleibt übrig, und die Beschreibung der Kausalitäten verstellt den Blick auf die Offenheit und Freiheit der Zukunft, die es als feststehende Entität gar nicht gibt. Mit Kausalitäten und Kausalerklärungen kann man einen Teil des Erfahrungsschatzes als Wissen verwenden, aber man kann niemals komplett das Leben und die zukünftigen Ereignisse voraussagen. Die Zukunft ist nicht kausal determiniert, sondern erweckt nur im Nachhinein den Eindruck, als wären die Ereignisse unausweichlich notwendig so gekommen, wie sie gekommen sind. Angesichts der Vielfalt des Lebens sind Historismus und Kausalrationalität nicht in der Lage, Zukunft zu bestimmen und der Vielfalt des Lebens gerecht zu werden. Sie sind weder ganz außer Kraft noch sind sie absolut gültig. Meistens kann man pragmatisch der Kausalität folgen, eine unausweichliche historische Notwendigkeit ergibt sich daraus nicht. Deshalb führt auch der Marxismus gerade wegen der richtigen Wirtschaftsanalysen zum Kontrollzwang und Totalitarismus.

 Gedankenstrich 68

Zeit ist das kostbarste, das wir auf dieser Erde haben. Wir wissen nicht, wieviel wir davon in diesem Leben besitzen. Wie möchtest du dich im kommenden Jahr fühlen? Und gibst du dem genug Raum? Auch: welchen Gedanken in dir gibst du zu viel Raum und welchen zu wenig?

30. Dezember 2022

Herzenskind


«Zeit ist das kostbarste, das wir auf dieser Erde haben.»

Nein! Die Wertbemessungen sind immer relativ und ihre Verobjektivierung äußerst illusionär. Und Zeit «besitzt» man nicht wie man Münzen besitzt. Das Leben ist das Wundervollste auf dieser Erde und womöglich im Kosmos überhaupt - mir ist es ganz wichtig, vom «Wundervollen» zu sprechen und nicht vom «Kostbaren». Die Rede vom «Kostbaren», von «Wert» oder vom «Besitz» ist mir einfach durch und durch kapitalistisch verseucht. Nun soll das Leben selbst, dessen Ausdruck Zeit indirekt ist, durchkapitalisiert werden. Dagegen verwehre ich mich und akzeptiere die Prämissen deiner Frage überhaupt nicht! Ich werde mich fühlen, wie es sich durch das Leben ergibt. Vorkurzem hatte ich den Gedanken, dass mein melancholischer Weltschmerz daher rührt, dass es um die Welt durch den Menschen schlecht bestellt ist und auch im 21. Jahrhundert unserer Zeitrechnung das Leben nicht die freundlichen Formen annimmt, die es annehmen könnte, wenn der Mensch anders wäre. Bestialisches Morden, Investitionen in Waffen, Waffen und nochmal Waffen und Kriege, Neid, Gier, Machtstreben, Besitzwerden einfach nicht übrwunden. Darüber muss man als sensibler und politischer Mensch Schmerz erfinden, was eben meinen Weltschmerz ausmacht. Ich wäre eine elende Dumpfbacke und ein stumpfsinniges Wesen, empfände ich keinen Weltschmerz. Ich möchte demnächst zum Thema machen, dass der Mensch kein Gefühl für sein eigenes Handeln und Treiben hat. Warum sind die schönen und guten Zustände auf der Welt utopischer Natur? Die Antwort ist: weil der Mensch ein Mensch ist - wo er ist, wird das Schöne zur Utopie. Es ist phantastisch vorstellbar, aber nicht lebbar und nicht erlebbar als eine systemische Entwicklung und als ein systemisches Phänomen. Nur mehr oder weniger vereinzelte Individuen erschaffen sich und anderen schöne Momente und Zusammenhänge. Das System hingegen ist lebensfeindlich organisiert und seine Lebensfeindlichkeit wächst exponentiell. Ich würde dem gerne Impulse entgegen setzen. Es ist nicht einfach und diesem Gedanken gebe ich zu viel Raum! Und zu wenig Raum haben schöne Pläne zur Poetisierung der Welt. Mir widerstrebt zudem die Formulierung, dass man sich fühlen möchte. Man fühlt sich einfach; nur wenn man sein eigenes Selbst verloren hat, meldet sich ein Ich, das sagt: ich möchte mich am liebsten so und so fühlen. Eigentlich kann das Ich das nur formulieren, weil es andere Gefühle hat. Aber dieses Eigentliche entzieht sich der Erkenntnis, versteckt sich im Nebel der Entfremdung. Und aus diesem Nebel tauchen gespenstisch Phrasenfragmente des Systems auf: «Zeit ist das Kostbarste, das wir auf dieser Erde haben». Nein, ehrlich und unverblümt kapitalistisch ist der Spruch «Zeit ist Geld». Nun soll das zum Kostbarsten auf der Erde umgemünzt werden. Da mache ich nicht mit.

 Gedankenstrich 69

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CutieMonkey

11. Januar 2023

Gleich vorweg: ich bin gerührt und beeindruckt. Wann habe ich das letzte Mal einen persönlichen Gedankenstrich erhalten? Es ist gewiss ein paar Jahre her, es wird, so möchte ich meinen, vor 2018 der Fall gewesen - 2018 der Fall meines Falles :'(

Vier Jahre später mein Entschluss, nachdem es mir durch Berg und Tal wieder besser geht, ich mich verwandelt, aber gut fühle, enttäuscht im Sinne von: all der Lügen und Täuschungen, die mich umgaben und zu ersticken drohten, entledigt und irgendwo zwischen meinem Ich als Ego und Selbst als meine Seele angekommen, die große Freundschaft und schiere Seelenverwandtschaft zu meinem vierbeinigen Freund entdeckt, entwickelt, angenommen, geherzt und gepflegt, die Welt begonnen mit anderen Augen zu sehen, zu einer neuen Philosophie gefunden, mich entwickelt habe, -vier Jahre später also 2022 der Entschluss, meine philosophischen Gedanken lose - so stringent wie nötig und so locker wie möglich in 365 Gedankenstrichen zu formulieren, schenkst du, Garnele @cutieMonkey mir einen persönlichen Gedankenstrich zu Beginn des Jahres 2023. Sehr rührend, sehr bewegend und ich an der Stelle in meinem Leben, an dem es mich herausfordert, endlich, ich selbst zu sein ganz und gar, mich nicht mehr zu verlieren im Spiegelkabinett fremder Ideale und Werte, sondern aus diesem Labyrinth herauszutreten, in dem ich immer gegen Verzerrungen meines Selbst gelaufen bin. Aber auch und genau das gehörte zu mir und genau mit diesem fand ich meinen Seelenfreund Diego Li, es wäre sinnlos, müßig darüber nachzudenken, ob nicht auch andere Wege zu diesem Ergebnis geführt hätten; ich bin einen verdammt glücklichen Lebensweg gegangen und muss nun dieses Glück als solches erkennen, annehmen, würdigen und zu meinem Selbst stehen.

Dazu gehört eben doch auch, dass ich nicht einen persönlichen Gedankenstrich erhalten kann, und dann nichts Persönliches darunter schreiben! Wir sind alle in unserer Individualität und in unserem Werdegang wertvoll, wenn wir nur unseren Wert erkennen und aus dem Labyrinth der Fremdideale hinaustreten. Ich kann Kleingärtner, Kynosoph, Literat, Philosoph, romantischer Künstler, Bühnen-Garten-Philosoph, Autor von einem Endlosroman und kulturphilosophischen Betrachtungen oder der Konzipient einer Firma für Kunst und Kulturelle Bildung sein, sentimental und leidenschaftlicher Spaziergänger mit Hund in der Kultivierung des Müßiggangs und großer Melancholiker angesichts der Brutalität der technokratischen Welt. Ich werde nicht im Stausee meiner Tränen ertrinken! Weinen tut gut, entlastet, und die Tränen reinigen die Augen.

Das ist eine Aufklärung der ganz anderen Art - nicht à la Kant, der dem Subjekt - wie vies! die Unmündigkeit als Schuld in die Schuhe schiebt: Aufklärung als die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit! Nein, die Menschen haben sich nicht selbst in die Welt gesetzt, wurden nicht selbst frühkindlich geprägt und traumatisiert! Fremdverschuldet ist sie und selber schuld, wer sich nicht befreit!

 Gedankenstrich 70

Ich lese deine Texte hier immer sehr gerne. Bin leider nicht in der Verfassung zum Dialog. Anfang Januar hast du Geburtstag oder? Herzlichen Glückwunsch, Uri!


16. Januar 2023
Wow! Vielen herzlichen Dank! Momentan kann ich jede Aufmunterung brauchen - ich bin sehr melancholisch und sentimental, vielleicht werde ich alt, vielleicht ist aber auch der Zustand der Welt und durchaus auch der hiesigen Gesellschaft und Politik so, dass man als alternder, wundgeriebener Kulturschaffender, Philosoph und Engagierter auch Schmerzen haben muss. Nichts geht leicht und vieles tut in der Seele weh. Ich kann auch Glückwünsche gut brauchen, mit etwas Glück könnte doch die Welt viele gute Ansätze, die vorhanden sind, schneller wachsen lassen als all das Destruktive, Machtgierige und Militaristische. Ich muss nicht schwarzmalen; ich sehe das Schöne, Gute und Edle in der Welt auch, es ist auch hilfreich, aber ob es ausreichend sein wird, muss sich noch erweisen.

Momentan beschäftige ich mich viel mit Joseph Beuys, Deine Etikettierung, er sei Anthroposoph gewesen, ist nicht mehr als wildes Plakatieren beim Wahlkampf um das Studierendenparlament.

Entschuldigung! :'( Das sind genau meine negativen Eigenschaften, dass ich schnell, zu schnell zu polemischen und harten Worten greife, anstatt sensibler in die Diskussion und den Dialog zu steigen. Du schreibst ja schon in der Frage «Bin leider nicht in der Verfassung zum Dialog.» Mein Herumgepoltere bei den mir falsch erscheinenden Ansichten schreckt vielleicht viele ab; meine Güte! Haben wir nicht alle schon mal falsche Meinungen, schräge Ansichten vertreten und die Position verteidigt, je heftiger die Diskussionen und polemischen Angriffe wurden?! Aus dieser Erfahrung bin ich schon etwas sensibler geworden, aber nicht genug. Da geht noch was!

Der Unterschied zwischen "Dialog" und "Diskussion" sollte sein, dass der Dialog die Empfindungsseite viel stärker berücksichtigt - auch oder gerade in dem Sinne, dass auf Gefühle mehr Rücksicht genommen wird. In Deinem Satz steckt das Wort "leider" und, dass du nicht in der "Verfassung" bist. Mit anderen Worten, es geht Dir nicht gut oder nicht gut genug, um kräftig einer Polemik polemisch zu widersprechen.

In so eine unsinnige wie freundschaftlich unangebrachte Verteidigungssituation sollte ich Dich nicht drängen. Das ist nicht nur Altersweisheit, so sensibel sollte man in jedem Alter sein. Nur Kleinkinder haben damit echte Probleme und ihnen sei es nun wirklich nachgesehen.

Ich freue mich immer ganz ehrlich und aufrichtig über Deine Reaktionen auf meine Texte, ich nehme auch gerne Deine Fragen zur Kenntnis und greife sie für meine Ausführungen auf. Du hast mich immer so gut begleitet; ich möchte, dass es Dir gut geht und Du in einer glücklichen Verfassung bist, egal, ob wir dialogisieren, diskutieren oder auch mal polemisieren, wenn beide es lustig finden und Spaß daran haben. Viele herzliche Grüße an Dich und auf bessere Zeiten und Gefühle. Nachsicht und Gelassenheit sind Schwestern der Toleranz und es bleibt dabei: Ohne Liebe ist alles nichts <3 Auch Joseph Beuys klingende Schelle mit Filz, Fett und Hut.

Gedankenstriche 71-80
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
• Waterloostraße 18 • 45472 Mülheim a.d. Ruhr