Auf der Suche nach einem Mittel der Wahrnehmung...
Gedankenstrich 81
Gedankenstrich 82
Gedankenstrich 83
Gedankenstrich 84
Gedankenstrich 85
Gedankenstrich 86
Gedankenstrich 87
Wie geht es dir
Google antwortet auf Sentimentalität u.a. damit:
«Sentimentalität ist eine Gemütsverfassung, die durch Rührung gekennzeichnet ist. Sie nimmt ihren äußeren Anlass zum Vorwand, um sich dann in sich selbst hineinzusteigern; also ein Schwelgen in meist wohligen, sehnsüchtigen, romantischen und leidenschaftlichen Gefühlen, aber auch Melancholie.» (Wikipedia)
Da fällt auch das Stichwort, was meine Gemütsverfassung am besten trifft, wenn ich auch gerne das Wort «Weltschmerz» benutze, um damit noch einmal extra zum Ausdruck zu bringen, dass mich die Weltlage schmerzt. Die "Weltlage" fängt bei Freunden und Kollegen an, wenn ich mal die Familie beiseite lasse, der Zustand der Politik, der Demokratie, der Staaten in der Welt, das Klima, die Kriege, die Wirtschaft, die Umweltzerstörung ziehen weitere Kreise. Es kam, wie es nicht kommen musste, er kommt, wie es nun wirklich weder sein darf noch sein kann, und man kann fragen: Wen wundert's? Warum wunderst du dich? Und warum nimmst du alles so schwer?
Darauf kann man antworten: Weil ich so sentimental bin!
Schauen wir auf die Definition: «Sie nimmt ihren äußeren Anlass zum Vorwand». Vorwand ist kein triftiger Grund, sondern nur vorgeschoben! So werden die äußeren Anlässe zur Trauer, Depression, Bedrücktheit, Unsicherheit und Gerührtheit vom Tisch gewischt. Dann lässt sich's auch leicht sagen: «Ach, du bist ja (nur) sentimental!» Und schon kann man auch von der Empfindsamkeit mehr Tatendrang, Zweckoptimismus und Ignoranz verlangen.
Ich bin aber in meiner ganzen Melancholie so stark wie Sisyphos! Ich kenne die Lage, die aussichtslos ist und ergebe mich nicht der Trauer, nicht der Empfindsamkeit, habe auch Wut und wenn nötig die nötige Aggression und Durchsetzungskraft, Mut zu handeln und Mut auszuhalten, was noch ausgehalten werden muss; ich versuche zwischen den Dingen, die ich ändern kann, noch nicht ändern kann und die unabänderlich sind, sauber zu unterscheiden. Nein, die äußeren Anlässe sind kein Vorwand! Sie sind die Realität, die auf mich und andere Subjekte ebenfalls einwirken und deshal wirklich wie wirksam sind.
In dieser Situation ist das erforderlich, was auch lange und systematisch durch den Positivismus und ökonomischen Materialismus pervertiert wurde: Vernunft. Vernunft, nicht als rationalistische Begriffshantiererei und Argumentationsjonglage (andere Wörter für "Klugscheißerei", sondern als empathische Pragmatik. Darüber denke ich nach, stehe zu meiner Sentimentalität, die zur Melancholie führt, lehne die Behauptung ab, dass äußere Anlässe nur als Vorwand dienen und rolle wie Sisyphos meinen Stein. Noch nie waren absurde Helden so wichtig wie heute.
«Die Welt könnte besser sein, wenn menschliches Macht- und Gewinnstreben weniger Bedeutung hätten. Die Regierungsform der Demokratie soll diese Bedeutung eigentlich einschränken, doch derzeit kann man nicht hoffen, dass unsere Volksvertreter das Wohl der Menschen als oberstes Ziel sehen»,
schreibt mir eine Freundin und ich sage: Nein!
Gedankenstrich 88
Es ist erstaunlich, welche geistige Nähe und thematischen Überschneidungen es zwischen dem Onomato-Verlag und mir gibt. Hier nicht nur ein Verweis auf die Seiten und Produktionen des Verlages, sondern auch auf die Gedankengänge des Verlegers Axel Grube... ein Gedankenstrich an mich selbst:
16. Juni 2023
Ethische Musikalität
»Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen läßt, die Ethik ist transzendental«. Dieser Satz von Ludwig Wittgenstein führt uns zu der Frage, wie eine Ethik in der Moderne überhaupt noch denkbar und auszuprägen ist, wenn wir, wie Hannah Arendt in ihrer Vortragsreihe »Some Questions about moral philosophy« beschreibt, erleben müssen, wie eine Gesellschaft die sich als in einer humanistischen Tradition stehend versteht, innerhalb von wenigen Jahren seine ethischen Grundsätze völlig aufgeben und verkehren kann.« (Axel Grube, onomato-Verlag im Text zum Video: https://youtu.be/Z9YfnnI3b0E)
Der Begriff der "ethischen Musikalität", überhaupt der Musikalität von Gedanken, Theorien erscheint mir in dem Zusammenhang der Forderung von Antonin Artaud im Theater das Leben hinter den Zeichen zu berühren, sehr interessant. Während Artaud die Affinität zum Tanz im Theater sucht, hat Grube die Affinität der Gedanken und des Denkens zur Musik. Das ist vergleichbar mit Nietzsches Musikalität in der Formel, die ihm als Überschrift zu einer Abhandlung dient: «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste Musik».
Es geht nicht in erster Linie um Ethik im herkömmlichen Sinne. Es geht nicht um die theoretische, philosophische reflektierende Begründung der Moralien und moralischer Grundsätze, Handlungs- und Urteilsweisen. Die "Moral" hat sowohl bei Nietzsche als auch im alltäglichen Sprachgebrauch eine vitalistische, lebensenergetische Komponente, eine, die man auch den "Willen" nennen könnte, wenn man "Wille" nicht mit bewusstem, intentionalen, zielgerichteten Streben und Handeln gleichsetzen wollte, sondern im Schopenhauerschen Sinne begreifen würde. Der Wille bei Schopenhauer ist eine dem Individuum übergeordnete aber in seinem Leben ihm innewohnende Energie. Diese Energie sieht Nietzsche als eine treibende Kraft zur Macht, als einen "Willen zur Macht". Dabei kann aber auch der Begriff der "Macht" nicht unerklärt bleiben, und diese Klärung in der Erklärung, könnte auch wiederum auf die Ethik verweisen. Die "Moral" hat neben der ethischen Seite auch die der Begeisterung, des Engagements, der Lebensfreude und der Lebenseinstellung. Eine "sinkende Kampfmoral" bezieht sich nicht unbedingt auf Ethisches, sondern meint, dass man den Mut verliert, die Motivation nachlässt, den Sieg zu erringen, eine gewisse Aussichtslosigkeit im eigenen Streben spürt und dadurch hoffnungslos wird. Jemanden moralisch zu unterstützen und wieder aufzubauen, bedeutet eben dann auch, die Motivation in ihm zu stärken und wieder aufzumuntern. Man stärkt die Motivation nicht dadurch, dass man ethisch moralischen Druck aufbaut, was mit der Geste des erhobenen Zeigefingers verbunden wäre und mit der Aufforderung: "du sollst", "du darfst nicht (aufgeben)!" Die Sinnfrage der gesunkenen Moral aber sucht andere Antworten als in der Geste des erhobenen Zeigefingers und in der der Ermahnung. Nimmt man den späteren Wittgenstein mit in die Betrachtungen hinzu, wird auch die Bedeutungsvielfalt deutlich.
Gedankenstrich 89
Ich schenke mir einen Gedankenstrich und nicht nur einen Gedankenstrich, sondern auch die erst euphorisch empfundene geistige Nähe zu Axel Grube und seinem onomato-Verlag. Das klingt wie eine schroffe Distanzierung, aber soll doch nur ein Zurechtrücken sein.
22. Juni 2023
Die Idee der «Musikalität von Gedanken bzw. Denken» ist sehr schön. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf ein vitales Phänomen, dass nämlich Gedanken auch einen Rhythmus, eine Tonart, eine eigene Melodie haben. Wir könnten natürlich auch von Farben der Gedanken sprechen oder vom Geruch. Wem es noch nicht auffällt, sei es noch einmal ausdrücklich gesagt: das ist ein typischer Gedanke aus der Romantik unter dem Begriff der SYNÄSTHESIE.
Axel Grube hat also mit der ethischen Musikalität nichts wahnsinnig Neues gedacht. Das muss auch nicht sein und das spricht auch nicht gegen einen Gedanken, dass andere ihn zuvor auch so oder ähnlich gedacht haben; eine meiner philosophischen Fragen richtet sich darauf, wie sich Gedanke zur Sprache verhält, genauer: zu seiner Versprachlichung. Schopenhauer hatte in seiner Schrift über die Schriftstellerei einen skeptischen Ton in dem Verhältnis Sprache-Gedanke von Goethe übernommen: «Das eigentliche Leben eines Gedankens dauert bis er an den Grenzpunkt der Worte angelangt ist: da petrificiert (Fossilien) er, ist fortan todt, aber unverwüstlich, gleich den versteinerten Tieren und Pflanzen der Vorwelt. [...] Sobald nämlich unser Denken Worte gefunden hat, ist es schon nicht mehr innig, noch im tiefsten Grunde ernst. Wo es anfängt, für andere dazusein, hört es auf, in uns zu leben; wie das Kind sich von der Mutter ablöst, wann es ins eigene Dasein tritt. Sagt doch auch der Dichter:
Ihr müsst mich nicht durch
Widerspruch verwirren!
Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren.»
Ich hatte dies schon im Gedankenstrich 81 zitiert. Ich mache bei dieser Gelegenheit einen Sprung von meinem Gedankenstrich 81 zu meinem Gedankenstrich 18, wo ich mich schon fragte, ob ich Schopenhauer untreu würde, wenn ich Hegels Sätze als Poesie mit Rhythmus, Melodie, Musik betrachtete. Auch da wird auf die Musikalität des Denkens und der Gedanken angespielt, als ich noch gar nichts vom onomato-Verlag wusste.
Es gibt, und darauf kommt es nun wirklich an, etwas Wichtigeres als individuelle Formulierungen und individuell originäre Gedanken. Das könnte man auch als eine Form des Idealismus betrachten: Subjekte formulieren Gedanken, die ihnen als Idee übergeordnet sind. Positivistisch, materialistisch lässt sich fragen und diese Frage hat durchaus etwas Polemisches (einen polemischen Unterton, um wieder auf die Musikalität zu kommen) an sich: wo befinden sich denn diese Ideen, wenn nicht in Büchern, Köpfen und Gedanken der Menschen?
Meine Antwort darauf ist erst einmal: wo auch immer! Das lenkt von dem erst benannten Phänomen ab, dass verschiedene Subjekte Urheber eines Gedankens sein können, dem eine Idee zugrundeliegt, die sie unterschiedlich als Gedanken formulieren, der im Grunde denselben gedanklichen sprich ideellen Kern hat. Man muss also gar nicht die Texte des anderen kennen und gelesen haben, um auf dieselben Gedanken zu kommen; man kann auch die Musikalität des Denkens entdecken, ohne die romantische Synästhesie zu kennen.
Gedankenstrich 90
Axel Grube zitiert Walter Benjamin: »Kafka mußte die Wahrheit preisgeben, um die Tradierbarkeit zu retten ...« und ich schaue mir nicht nur die Melodie der Gedanken an, die mir etwas zu salbungsvoll erscheint. Ist das reine Geschmackssache?
22. Juni 2023
Ich will versuchen, mehreren Linien von Brüchen im Eis zu folgen, die dort entstehen, wo die Eispickelspitze zuerst aufschlägt, sagt doch Franz Kafka: «Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns». Mein Seelenleben als Arktis? Da ist also der Name Kafka, in meiner Schulzeit musste er nicht gelesen werden, vielleicht waren einige und ich deshalb so begierig, Franz, den Schatten in den nächtlichen Straßen der Großstadt als keimende provinzielle Kleinstadtintellektuelle zu lesen. Zu "lesen"? Nein, zu konsumieren! Kafka war eigentlich eine literarische Drogenerfahrung. Sätze wie «»Was wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen, verfluchten Prozeß dadurch zu einem raschen Ende bringen, daß Sie mit uns, den Wächtern, über Legitimation und Verhaftbefehl diskutieren? Wir sind niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wir sind, trotzdem aber sind wir fähig, einzusehen, daß die hohen Behörden, in deren Dienst wir stehen, ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K.»
Sagt K. das störrisch, kritisch, sagt er es in einer Auflehnung, als wollte er noch hinzufügen: «als Bankangestellter im höheren Dienst kenne ich mich mit Gesetzen gut aus»? Da steht vom Wächter ausgesprochen in der morgendlichen Diskussion, an jenem Morgen, an dem das gewohnte Frühstück ausbleibt, einer der Wächter. Gibt es einen schriftlichen Haftbefehl? Wird er K. gezeigt? Hat er eine Chance, den Wortlaut der Beschuldigung zu hören? Nein. »Unsere Behörde [...] wird [...] von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist das Gesetz.«
Man muss also, könnte die Botschaft lauten, die Schuld bei sich suchen. Für Anfänger Freudianer galt: K. wird mit dem grausam gewordenen Über-Ich konfrontiert. Es ist der Apparat in einem selbst, der als Mühlen der Justiz zu mahlen beginnt. Das Gesetz ist in diesem Fall wie ein Naturgesetz, wie die Gravitation, Massenanziehung oder so etwas: eine Schuldanziehung! Man gleitet angesichts dessen nicht in den salbungsvollen Ton eines Eingeweihten, eines philosophierenden Esoterikers, sondern fragt Franz Kafka: «Hast du nicht auch einen Text geschrieben, der "Vor dem Gesetz" heißt?» Und "vor dem Gesetz" ist nicht temporal gemeint! Etwa wie: «Vor dem Gesetz herrschte totales Chaos»! Vielmehr steht man nicht von Angesicht zu Angesicht vor einem Richter als Menschen, sondern vor einem Pult, das höher ist als der Turm zu Babel.