Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
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ÄSTHETIKUM - Auf der Suche nach einem Mittel der Wahrnehmung...

 Gedankenstrich 49

Der 49. Gedankenstrich hat eine dialektische Komplexität und greift eine auch ethisch anmutende Thematik auf. Diese Komplexität hat es meiner Meinung nach verdient, den Gedankenstrich 49 auf eine gesonderte Seite zu legen, wobei hier ganz hypertext-ästhetisch auch auf diesen Themenkomplex ein Blick "von außen" geworfen werden kann. Wir können das auch als formale Selbstdistanzierungen des Cogito betrachten. So führt uns der Hypertext zu einem Moment des Hyper-Cogito. So lässt sich hier auf eine Art schriftlich philosophieren, wie sie in der Linearität des Buches vielleicht nicht unmöglich, so doch schwerer realisierbar ist. Kaum tritt ein anderer dem Cogito gegenüber, mehr fragend denn behauptend, wobei generell in Fragen auch implizite Behauptungen und stille Voraussetzungen enthalten sind, schon reagiert das Cogito angezickt: «Auf deine Frage: «Warum sollte projiziertes Leben im Hirn, was der Ausbeutung dient falsch [sein]?» Hier dreht sich mir ganz ehrlich der Magen um...» Diese Reaktion ist moralisch, wenn nicht gar moraliensauer. Bei einer etwas distanzierten Betrachtung stößt sie mir sehr sauer auf! Sei's drum! Genau aus diesem Grunde sind wir in einer Hypertextdialektik und können aus verschiedenen Ebenen auf unsere Sätze blicken. Ich meine, diese Methode bei Ludwig Wittgenstein erlebt und erlernt zu haben - seine wunderschönen Selbstdistanzierungen in den "Philosophischen Untersuchungen" zum "Tractatus". So lebendig Wittgenstein in den PU wird, er nimmt es uns nicht ab, uns selbst in die Details der Kulturphilosophie zu vertiefen. Wir haben mit seinem Vorgehen eine geschärfte Methode, aber in der Anwendung muss nicht sie sich, sondern wir uns in erster Linie bewähren, wie ein gutes Samurai-Schwert keinen Samurai-Kämpfer macht. Ganz aus Versehen kann man sich ins eigene Fleisch schneiden.

Da steht diese Frage im Raum: «Also hat der Hund im Zwinger falsch gelebt? Oder gar nicht gelebt, weil es im falschen Leben stattgefunden hat? Muss er denn das ideale Leben anstreben, indem er von der Leine/Dem Zwinger losgelöst wird?» Da ich eine Erzählung eines Hundefreundes wiedergab, als er einen Bauernhof gekauft habe, habe er dort einen Hund im Zwinger vorgefunden, der an einer Langen Leine an einen Pflock gebunden war und ganz offensichtlich verwahrlost und vernachlässigt sein Leben fristete; als er den Hund freigemacht habe, habe sich dieser nur im Kreis bewegen können und kaum geradeaus laufen. Hatte der Hund also im Zwinger falsch gelebt? Wittgenstein würde nach der Formulierung in der Alltagssprache verlangen; wir würden wohl eher davon sprechen, dass der Hund «falsch gehalten wurde». Denn es war nicht seine eigene und bewusste Entscheidung an einen Pflock gebunden seine Jahre im Zwinger zu verbringen. Und er hatte auch keine Alternative, die er hätte selbst wählen oder eben unterlassen können. Er führte ein unfreies Leben. Können wir in diesem Fall überhaupt sagen: «er führte»? Richtig und treffender wäre es doch zu sagen: «er hatte ein unfreies Leben»; denn kann man überhaupt ein unfreies Leben selbst «führen»?

Die Nähe zu MATRIX-Metaphorik ist hier unverkennbar. Erst wenn einem Menschen die MATRIX-Situation bewusst geworden ist, kann man ihm eine blaue oder eine rote Pille zur Auswahl stellen. In der totalen Illusion ist nichts selbstverständlicher als die Illusion als Realität. Nur wenn sie zu flimmern und flackern beginnt, fängt die Realität an sich zu wandeln und ihren illusionären Charakter preiszugeben. Vorher ist die Realität, wie sie einfach ist, selbstverständlich und über das Selbstverständliche spricht man nicht, verliert keine Worte, wozu sollte man darüber sprechen? Wenn man anfängt, Selbstverständlichkeiten zu erwähnen, haben sie schon in gewisser Weise begonnen, diesen Status des Selbstverständlichen zu verlieren. Gadamer sagt, das Selbstverständliche sei unsichtbar und meine Nachbarin Gabi sagte vor ein paar Tagen: «das Selbstverständliche sollte selbstverständlich sein». Die Bedeutung des Wortes hat sich verschoben, hat an Nuancen gewonnen. Vor allem der Konjunktiv in Gabis Satz ist vielsagend.

Diese hier verhandelte MATRIX-Thematik findet sich mit genialer Treffsicherheit in Platons Höhlengleichnis. Ich habe schon Stimmen gehört, die dieses Gleichnis als eine Vorwegnahme der cinematographischen Projektion bezeichnen. Das klingt geistreich, ist aber ungeheuer flach! Jeder weiß, dass es sich im Kino um eine Projektion handelt - es ist so selbstverständlich, dass kein Mensch im Kino das seinem Nachbarn sagen würde. Nur rationalistische Intellektuelle entdecken einen Esprit darin.

Weder Bilal noch ich meinen Kino, wenn wir von "Projektionen im Hirn" sprechen; es geht uns um durch gezielte Stimulation manipulativ erzeugte Realität im Hirn, die sich nur im Hirn abspielt - es ist quasi eine Phantomrealität, die so gut simuliert ist, dass sie selbstverständlich für "die" Realität schlechthin gehalten wird. Und genau darum geht es auch Platon mit seinem Höhlengleichnis.

 Gedankenstrich 50

Es ist ein Klassiker der Philosophie und wird nicht nur in fast jeder Einführung in die Philosophie bzw. ins Studium der Philosophie behandelt, es ist auch sonst vielmals zitiert und erwähnt worden - es ist berühmt: Platons Höhlengleichnis in seinem Werk "Der Staat". Doch ist dies nicht der Grund, warum ich es auch noch einmal erwähnen will - es wäre ja eher umgekehrt ein Grund, das Höhlengleichnis als sattsam bekannt und gut kommentiert und interpretiert einfach vorauszusetzen. Es begründet die Grundlage der Ideenlehre, fasst die platonische «Metaphysik» sozusagen in einem Bild zusammen, es ist eine erste so weitreichend ahnungsvolle Medien- und Projektionstheorie u.v.a. mehr! Vielleicht kann ich gar nicht originiell sein in dem, was ich über das Höhlengleichnis und daran angelehnt zu sagen gedenke, aber um Originalität soll es nun nicht gehen, um meine Individualität vielleicht schon. Mit dem Höhlengleichnis ist es womöglich wie mit der Liebe - alle sprechen und haben einen Begriff davon und doch ist es jedem Individuum ein vitales Bedürfnis. Das Höhlengleichnis ist mir ein individuelles, persönliches vitales Bedürfnis aus den Gründen, die ich nun dazulegen versuchen werde.

Wie bei dem vorangegangenen Gedankenstrich (49) wird auch dieser Gedankenstrich 50 nicht ohne eine Vertiefung auskommen. Vielleicht kann ich den einen oder anderen hier ebenfalls zu einem Dialog einladen; beginne aber die Betrachtung des Höhlengleichnisses aus dem oben genannten Grund als einen Monolog. Es ist auch da wie mit der Liebe - alleine darüber zu sprechen, macht nicht so viel Freude, wie mit Freunden sich zu unterhalten oder am besten die Liebe zu (er-)leben.

Platon beschreibt die Menschen in seinem Gleichnis als in der Höhle gefesselte, die nur nach vorne auf eine Höhlenwand schauen können, auf der sie Schatten sehen. Hinter ihrem Rücken am Höhlenanstieg gibt es eine Mauer und weiter oben brennt ein Feuer; wenn Dinge an der Mauer entlang vorbeigetragen werden, wird aufgrund des Feuerlichtes Schatten von diesen Dingen an die Höhlenwand vor den Menschen geworfen, ohne dass man die Menschen sehen kann, die die Dinge auf ihren Köpfen tragen; sie bleiben von der Mauer verdeckt.

«Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene.» Wessen Gefangene sind das? fragte ich mich immer, wahrscheinlich war ich nicht so bereitwillig mich auf das Gleichnis einzulassen wie der brave Sokrates-Schüler Glaukon, der sich zwar allgemein verwundert über das Bild zeigt, aber im Gespräch keine Eigendynamik in seinem Denken und Sprechen entfaltet. Das machte für mich immer schon die platonischen Dialoge zu holzschnittartig. Mit diesen Schülern zu sprechen, ist nicht schwer. Das sind linientreue Vasallen des argumentierenden Sokrates. Sie bleiben immer nur auf der Argumentationslinie des Meisters. Es gibt keine Äußerung, die Sokrates irritieren und auf Abwege bringen könnte. Ich hatte immer schon das Bedürfnis, mich von diesen philosophischen Kunstdialogen zu entfernen. Sie waren mir zu artifiziell.

Gedankenstrich 50 a bis z Exkurse

 Gedankenstrich 51

Was ergibt sich aus der «Hyper-Poetik der Philosophie» oder aus dem «Hyper-Cogito» für eine Struktur? Wie wird philosophiert? Und was hat das für Konsequenzen? Die Dispute mit Bilal haben sich in gewisser Weise verselbständigt. Der 51. Gedankenstrich nimmt eine Metaperspketive ein, was natürlich ein Teil der Hyper-Poetik bleibt, ja mehr noch: was die Hyper-Poetik eigentlich ausmacht. Die Bilal-Dispute zeigen aber mustergültig, was einen lebendigen Dialog von einem platonischen Unterscheidet. Der platonische Dialog bleibt in der Linearität gefangen, verfolgt einen und nur einen Gedanken- und Argumentationsgang. Ein echter Dialog entwickelt schnell Rhizomableger und Rhizomverzweigungen; man kann auch sagen: ein echter Dialog «ufert aus». Dieses Verlassen der Linearität erscheint aus der Perspektive der linearen Argumentation des Gedankenganges als problematisch. Aber im Grunde hat sich da etwas befreit. Ich nenne dies die Befreiung des Denkens vom Gedanken. Ich muss das noch viel, viel weiter ausführen. Aber einen ersten Schritt der Ausführung macht der 51. Gedankenstrich. Was ist in diesem einen konkreten Fall «der Gedanke»? Wir nehmen zwei Komponenten des einen Gedankens. Aber es könnten auch zwei unterschiedliche Gedanken sein und zu anderen Komponenten gegliedert werden und zu anderen Gedankengängen führen: wir haben hier EINE konkrete Ausführung des Gedankens: 1. Komponente: wir leben in Lebensverhältnissen, die uns nicht bewusst sind und die womöglich unseren eigenen Lebensinteressen zuwiderlaufen. 2. Was aber ist nun «richtiges» und was «falsches» Leben? Wer bestimmt das und wie erkennen wir, was richtig und was falsch ist in unserem Leben, wenn uns die Verhältnisse nicht bewusst seind? Können wir dieses Erkennen als «Aufklärung» bezeichnen? Und wer klärt uns auf?

Bilals widerständiger, widerspenstiger Satz gibt uns einen Anhaltspunkt:
Es gibt kein definiertes Richtig oder Falsch.

Ich und mein Bewusstsein nehme[n] unser Schicksal selbst in die Hand und tun, wonach uns ist. Wir leben wirklich.
(Bilal)

In der Tat kann jedes Richtig oder Falsch definiert werden und in jeder Definition wäre eine machtstrategische Beliebigkeit. Bilals «Es gibt kein definiertes Richtig oder Falsch» verstehe ich im Sinne einer objektiv-bestimmenden Definition, worin die Definition einfach der Sache folgend den Sachverhalt beschreibt, ohne selbst ihre theoretische Grundlage in das zu Definierende hineinzutragen. Können wir in so einer Weise überhaupt objektiv Dinge bestimmen oder heißt bestimmen nicht immer auch schon wie des Wortes Doppelsinn andeutet: diktieren, vorschreiben, kommandieren? Gegen dieses Definieren spricht Bilal und beruft sich auf seine eigene persönliche Autonomie und Selbstbestimmtheit. Aufklärung soll also nicht bestimmend sein und das Individuum mit seinen unantastbaren Persönlichkeitsrechten herumkommendieren. Sonst wäre Aufklärung moralisierend. Hinter der pädagogisch-demagogischen Frage: «Findest du richtig, was du hier tust?» steht natürlich in aller Deutlichkeit der moralisch erhobene Zeigefinger und deutet zugleich ein Machtgefälle an. Hiergegen erhebt sich die Stimme: «Ich und mein Bewusstsein nehme[n] unser Schicksal selbst in die Hand...» Könnten wir Kants «sapere aude» nicht genau in diesem Sinne deuten?

 Gedankenstrich 52

Ich meine, ich kann auch gut zuhören, zumal ich auch gerne zuhöre. Aber manchmal rede ich doch tatsächlich mehr als ich zuhöre, vor allem dann, wenn das Publikum kein Mikrofon hat. Ich reagiere aber sehr gerne auf Zwischenrufe. Improvisiertes Philosophieren vor Publikum hier Folge 1. Zwei weitere Folgen sind auf meiner Homepage und die 4. Folge kommt am 12. August pünktlich zum Vollmond. Wäre ich ein Wolf, könnte ich den Vollmond anheulen, als Philosoph muss ich ihn anquatschen. Worum geht es? Ich versuche einen Paradigmenwechsel in der Kultur in Gang zu setzen, zu beschleunigen oder zu initiieren - das hängt davon ab, wie man die Gesamtlage der Kultur einschätzt. Paradigmenwechsel ist nichts, was man individuell schaffen kann, nur weil es einem halt mal in den Sinn gekommen ist und man es für ganz toll und wichtig erachtet. Paradigmenwechsel ist ein gesellschaftliches Phänomen und hängt von der gesellschaftlichen Atmosphäre und Stimmungsentwicklung ab. Paradigmenwechsel sind irreversibel. Wechselt das Paradigma einmal, kehrt man zum alten Paradigma nicht mehr zurück.Den Begriff des Paradigmenwechsels habe ich von Thomas S. Kuhns wissenschaftshistorischem Buch «Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» entlehnt. Ich meine, man kann auch in der Kulturtheorie/Kulturphilosophie sehr viel damit anfangen, wenn man sich ein deutliches Bild davon gemacht hat, was man unter «Kultur» verstehen kann. Das ist nicht ganz einfach, weil man vieles in der Kultur als selbstverständlich hinnimmt und das Selbstverständliche einem nicht bewusst wird, sondern dem Bewusstsein verborgen bleibt. Das Selbstverständliche muss etwas von seiner Selbstverständlichkeit verlieren, um in den Blick zu rücken. (Vgl. Hans-Georg Gadamer)Ein Paradigma ist ein «Normalverhalten», das man selbstverständlich macht, wenn man eine bestimmte Sache betreibt; wenn man krank ist, geht man zum Arzt, zur Apotheke mit dem verschriebenen Rezept usw. oder wenn man etwas lernen will oder muss in die Schule, befolgt dort die Regeln, macht Prüfungen, erhält Zeugnisse; wenn man einen Film sehen will, geht man ins Kino oder ... und da findet schon eine Verschiebung statt: schaut man NETFLIX. Man kann sich also die große Auswahl der Filme nachhause holen auf den Bildschirm und muss nicht mehr in ein Multiplexkino, um eine Auswahl von 10-20 Kinofilmen zu haben. Thomas S. Kuhn hat das normalwissenschaftliche Verhalten von Menschen untersucht, die eben Wissenschaftler sein und Wissenschaft betreiben wollen. Sie alle folgen einem «Normalverhalten», das man auch beispielhaft lernen kann (daher der Ausdruck «Paradigma»). Und dann kommt es zu Entwicklungszuständen, die man mit «normalem Verhalten» nicht mehr in den Griff bekommt. Erst versucht man das noch mit etwas verändertem Verhalten aber immer noch nach der alten Form und dann irgendwann, wenn das auch nicht mehr klappt, ändert sich das Paradigma. Der Wechsel von klassischer Mechanik zur Quantenphysik zum Beispiel. Und mein Paradigmenwechsel?

Dein türken-geplappere und diese zu starke Selbstüberzeugung kommt mit Sicherheit nicht gut bei einer Frau an. Wie oft willst du diese Fragen noch aus Verzweiflung stellen? Merkst du nicht, dass keiner drauf eingehen möchte? Scheinst wohl ein richtig unreifes Bürschchen zu sein. Unterlass es einf.

30. Juli 2022
Endlich mal einer, der es gut mit mir meint :))) Ich wollte gerade meinen Paradigmenwechsel in der Kultur erklären... stellte mir selbst unter diesem Titel eine Frage, weil mir der Platz in der vorangegangenen Antwort nicht reichte. Natürlich finde ich diese Einleitung zum Paradigmenwechsel viel schöner.Worum geht es? Das Motto ist: Man muss den Gedanken von der Schrift befreien, das Denken vom Gedanken und das Leben vom Denken. Aber soll das Denken denn nun abgeschafft werden? Dann kommen nur noch Shoutouts zustande - ask demonstriert es uns tagtäglich. Dagegen ist die obige Frage ja schon fast ein Roman.

 Gedankenstrich 53

Ich plädiere für eine grundlegende Reform des Philosophiestudiums. Aber da dies eine hochschulinterne Angelegenheit ist und ich nicht der Hochschule angehöre, möchte ich einen externen Weg wählen und von der Akademisierung der Philosophie sprechen. Ich meine, dass Kunstakademien auch die Kunst des Philosophierens zu ihrem Feld machen könnten. Man könnte natürlich auch eine Akademie der Kunst des Philosophierens gründen und eine institutionelle Souveränität anstreben. In diesem Zusammenhang aber kann und muss die Frage gestellt werden: was möchte dieses hier schreibende Cogito eigentlich ernsthaft? Es möchte wahrgenommen werden, Wirksamkeit entfalten, gesellschaftliche, kulturelle Wirkung erzielen. Das Cogito möchte eigentlich nicht mehr und weniger als Mensch sein bzw. soziales Wesen sein, denn der Mensch ist gewiss nicht das einzige soziale Lebewesen, ich denke dabei durchaus auch an meine Erfahrungen und Erlebnisse mit Hunden. Hier geht es zum Einen um einen konkreten Inhalt: die Praxis der Philosophie, des Philosophierens und des Philosophiestudiums, zum anderen geht es um das wahrnehmende, erkennende und kommunizierende Cogito in seiner sozialen Dimension. In meinem Fall aber ist es zugleich auch ein Cogito, das Kreativität entfaltet und in seiner Phantasie die Realität der Hochschulpraxis umgestaltet. Man kann diese phantastische Umgestaltung als irreal oder vollkommen unrealistisch bezeichnen oder aber als ein fiktionales Gedankenspiel nehmen und dadurch als Bereicherung empfinden. Ich bewege mich gerade in den Außenbezirken des Individuums und muss mich selbst fragen, ob es sich um das Individuum als Cogito, als Subjekt oder in seiner Ganzheit als Individuum handelt, das aus verschiedenen als "Cogito", "Subjekt", "soziales Wesen", "Psyche" usw. bezeichneten Aspekten besteht. Bei allen Aspekten, die man erwähnen kann, bringt aber der Ausdruck "Individuum" eine einzigartige Konnotation mit ins Spiel, die das Alleinstellungsmerkmal des Cogitos ausmacht. Das Individuum ist ein alleinstehendes Wesen und damit auch eines, das um seine labile Stellung weiß, dass das Einzigsein in Alleinsein und Alleinsein in Einsamkeit kippen kann. So kann das Cogito im Bewusstsein dieses Zustandes als Hintergrundrauschen versuchen, sich ein Immunsystem aufzubauen. Denn es ahnt die Frage: «wer bist du, dass du so zu sprechen anhebst?» Darauf ist wohl die befreiendste Antwort: «Nur Narr, nur Dichter».

Aber nun habe ich über die Bedingungen des Subjekts beim Denken gesprochen und noch nicht unterbreitet, was ich eigentlich zu unterbreiten gedachte: ein neues Philosophiestudium, das als Wort schon alle seine Bestandteile äußerst ernst nimmt. Und auch dieses Wort "äußerst" muss ernst genommen werden im Sinne von "extrem". Vielleicht ist es ein extremistischer Vorschlag, der hier als neues Philosophiestudium unterbreitet wird - als "neues Philosophiestudium" deshalb, weil die "Reform", von der oben noch die Rede war, die Implikation mit sich bringt, dass verändert werden soll, was schon besteht und sich institutionell verfestigt hat. Und zu dieser Veränderung fehlt mir die Legitimation. So sehr mir aber auch die Legitimation fehlt und die institutionalisierte Macht, das Bedürfnis, meine Gedanken aufgrund meiner Überlegungen und ihnen vorangegangenen Erfahrungen mitzuteilen, ist unvermindert vorhanden. Soweit zu den Bedingungen des Cogitos, das sprechend einen Vorschlag zu unterbreiten gedenkt: Das Philosophiestudium anders betrieben.

 Gedankenstrich 54

In Gedankenstrich 53 glitt ich ein bisschen in das Feld der Bedingungen meines Denkens: ein Außenseiter, nicht ermächtigt, institutionelle Reformen vorzuschlagen! Aber «nicht ermächtigt» heißt natürlich nicht «nicht berechtigt». In der Demokratie braucht man für philosophische Vorschläge, die die Hochschule betreffen, der Legitimation aber nicht der Berechtigung. Denn das Recht auf freie Meinungsäußerung genügt, um über die Praxis der Hochschulen in Sachen Philosophie sprechen zu können. Ein anerkanntes Gewicht in Form von legitimierter Rede und der Macht, Gehör einzufordern, hat dieses Reden nicht. Soweit also eine grobe Skizze der Rahmenbedingungen dieses Denkens und Redens. Nun versuche ich, in die Inhalte einzusteigen. Der erste Gedankenschritt ist der heraklitische Satz, dass Vielwisserei noch keinen Verstand mache. In der Liebe zur Weisheit, denn nichts Geringeres kann die Philosophie sein, kann es nicht darum gehen, Wissen anzuhäufen, sondern vielmehr geht es um das Verstehen und Verständnis, was nicht dasselbe ist! Verstehen und Verständnis bedürfen aber des empathischen freien Denkens. Und damit formuliert sich eine Philosophie des Philosophierens. Wenn wir ihr einen schulphilosophischen Namen geben wollen, können wir sagen: es ist eine im Gegensatz zum Rationalismus sensualistische Philosophie, die eben die Empathie mit in ihren Begriff, was mehr Verständnis und Selbstverständnis als "Begriff" im rationalistischen Sinne ist, einholt.

 Gedankenstrich 55

Eine Kulturphilosophie ohne Metaphysik und ohne eine metaphysische Grundlegung widerspricht ihrem Begriff. Kultur braucht zwingend mehr als die physische Existenz, so wie der Körper auch bei Vorhandensein aller Organe tot sein kann. Wir können uns fragen: was ist das Leben? Ich weiß nicht, ob wir dann sofort alle in dieselbe Richtung denken. Welche Richtung soll das sein? Oder könnte das sein? Sollen wir das beschreiben und davon abstrahieren bzw. verallgemeinern, was unsere eigene Lebenserfahrung ausmacht? Sollen wir dann ein paar weise klingende Sätze von mehr oder minder bekannten Philosophen hinzufügen? Und damit eine mehr oder minder beliebige Antwort zu der Reihe vieler Antwortversuche hinzufügen, angesichts derer einen schon das Gefühl der Resignation beschleicht? All das ginge in eine Richtung, die das zu beschreiben versucht, was Biografien ausmacht. So können wir das besprechen, was im Zusammenhang Individuum, Gesellschaft, Arbeit, Politik, Geschichte, Familie steht. So kommen wir zu einem Lebensbegriff, den ich stark von einem narzisstischen Anthropozentrismus geprägt finde. Der Mensch kreist um sich selbst und betrachtet immerzu, was er und seine Gattung selbst evoziert haben. Arbeit, Geschichte, Gesellschaft, Familie? Nein! Wir können ja auch, um nach einer Antwort zu suchen, uns fragen, was die erste Amöbe lebendig machte bzw. wie die erste Amöbe lebendig wurde?! Wissen wir es? Nein! Und lassen wir uns nicht von einer gentechnikorientierten Biologie nicht in die Irre führen. Denn mit Gentechnik kann man zwar Lebensformen manipulieren, aber kein Leben aus unlebendiger Materie schaffen. Kommen wir ab vom Thema, wenn wir sagen, dass das Leben für die Materie das ist, was die Metaphysik für die Kultur? Eigentlich können wir es mutiger formulieren: das Leben selbst ist Metaphysik. Das Leben transzendiert alles Physische. Es transzendiert alles Physische bedeutet ja nicht, es kommt ohne das Physische aus! Vielmehr geht das Leben immer ein inniges Verhältnis mit dem Nichtlebendigen ein. Kultur hat etwas mit diesem Verhältnis zu tun: sie ordnet, reguliert, ritualisiert. Und sie setzt auf das Surplus ihrer Tätigkeiten. Auch dieses Surplus gehört zur Metaphysik. Um aber der Metaphysik gerecht zu werden, muss man die Beschränkungen des Rationalismus über sie verlassen. Keine Theorie kann Alleinvertretungsanspruch auf die richtige Darstellung erheben. Vielmehr können sich viele Theorien wie Perlen an einer Schnur zu einer Kette reihen, deren Betrachtung insgesamt immer mehr ist als die Summe der einzelnen Perlen. Pluralismus ist eine Erkenntnisnotwendigkeit. Jede Theorie neigt natürlich zur Abrundung ihrer selbst und dadurch auch zur Abgrenzung von anderen Theorien. Die einzelnen Perlen schließen andere Perlen aus sich aus. Aber dies zu verabsolutieren führt zu keiner Kette. Die Akzeptanz der Gemeinsamkeit ist erkenntnisstiftend. Ein Kennzeichen des Rationalismus ist, dass er auf Abgrenzung und Kontroverse geht. Rationalistische Diskussionen haben häufig die Form eines Ja-Aber. Im Grunde darf das auch nicht weiter verwundern, denn das Wesen des Rationalismus ist der Begriff, der von Abgrenzung und Unterscheidung lebt. Ähnlichkeiten, Analogien, Übergänge, Metamorphosen strapazieren den Begriff als Extreme. Aber immer wieder kommt die Philosophie dahin, sich dieses Problems anzunehmen. Aus dem Rationalismus kommend zum Beispiel die Hegelsche Dialektik. Wir können aber auch an Fluxuskunst denken oder an Foucaults Begriff von Macht, was durch Menschen und Verhältnisse durchfließt wie ein Strom.

 Gedankenstrich 56

Sollte nicht konsequenterweise mehr Fragwürdiges gefragt werden?

Ich glaube, wir leben in der Priorität der Unwürdigkeit. Verlogenheit, Täuschung, Ignoranz, Irrtümer, Machtgläubigkeit, der zivilisatorischen Selbstüberschätzung, Skrupellosigkeit, Mangel an Subjektivität, Empathie, Inkonsequenz! Letzteres muss ich ja nun unbedingt erwähnen, da du das Wort ja schon in der Frage aufgebracht hast. Der Rausch bedeutet ja nicht nur den Kontrollverlust des Ichs, sondern insgesamt das Verlorengehen einer Person einschließlich ihrer Persönlichkeit, wenn der Rausch zur Sucht wird. Konsumrausch, Medienrausch, Smartphoneabhängigkeit, Rausch an egomanischen, narzisstischen Selbstdarstellungen in sozialen Medien, kann ich ja als "Selfierausch" abkürzen - das Handy filtert dir auch dein Erscheinungsbild zurecht und ja, dann kann man endlich in Erscheinung treten - jedes Glühwürmchen ein Star! Politik, Demokratie, Freiheit - Schnee von gestern! Und doch besteht gerade das Wesen der Kultur aus dem Glauben, dass etwas Unsichtbares wieder zutage treten kann: Man pflanzt Samen in die Erde und der Acker sieht öde und leer aus, bis das Korn sprießt. Kultur ist die Fähigkeit im Vertrauen auf das Kommende die Momente der Öde auszuhalten. Ich schreibe es dir anlässlich deiner Frage und schreibe es zugleich mir selbst hinter die Ohren. Der Philosoph muss der Bauer sein, der das Acker der Gesellschaft bearbeitet - und zwar nach den immanenten Regeln des Lebens: Jahreszeiten, Klima, Düngung. Und ich meine hier die vorindustrielle Landwirtschaft, den heiligen Kreislauf der Dinge. Nicht die Massentierhaltung und nicht die gigantischen Flächen der Monokulturen und nicht Rodungen der Wälder für kurzfristig profitable Plantagen. Der Philosoph muss zu sich selbst erwachen und jedes zu sich selbst erwachte Individuum muss zum Philosophen mutieren. Dann kann auch die Fragwürdigkeit ihre Würde wieder gewinnen und aufhören rationalistische Pseudokritik zu sein. Von Konsequenzen ganz zu schweigen. Das Schweigen ist die Phase, in der das Korn noch unsichtbar ist. Nicht umsonst heißt es: «Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben!» Aber hätten wir geschwiegen, wäre dieser Dialog nicht zustande gekommen.

 Gedankenstrich 57

Adornos Sprache ist ein Unikat, seine Gedankengänge gelebte Dialektik mit einer bewundernswerten Rhetorik, aber... ABER... auch diese Rhetorik erliegt auf der formalen Metaebene ihrer eigenen Dialektik, denn sie wird einschläfernd. Nichtsdestotrotz hat Adorno eine Sensibilität und einen Sensualismus gegen jeglichen Rationalismus, der sich praktisch in Technokratie und Bürokratie niederschlägt. Genau an dieser Stelle ist mir die Friedhofsszene aus Hamlet so wichtig: Das Gefühl für das eigene Tun! Man verliert sich in der entfremdeten Welt in der Entfremdung, sieht die Konsequenzen des eigenen Handelns nicht und wirkt an den Systemverbrechen mit, deren Größe man nicht selbst bestimmt. Eichmann in der Nazizeit, Joschka Fischer als Außenminister oder nun diese Annalena Baerbock: Mit Waffenlieferungen den Krieg in der Ukraine beenden, als wäre eine Supermacht wie Russland kriegerisch zu schlagen! Aber ich schweife ab - das kann ich jetzt nur so gut, weil ich am Laptop sitze und WhatsApp-Web benutze. Aber das sind Dinge, die mich zutiefst bewegen und ich bin aufgrund meiner Erlebnisse im Kulturbetrieb dünnhäutig, weiß aber, dass ich einen Schulbetrieb niemals überlebt hätte - ich war im Landesschulbeirat Ba-Wü zu Zeiten von Mayer-Vorfelder als Kultusminister, habe die Schulverwaltung und Politik bereits zwischen 16-18 kennenlernen dürfen, und nichts wurde mir abstoßender als Schule und natürlich Militär; erst später sah ich, dass auch die Medizin ein solchen Feld des Grauens ist und darin die Psychiatrie, nicht zu verwechseln mit Psychologie. Ich möchte mir künstlerisch und philosophisch an meinem beginnenden Lebensabend Rechenschaft ablegen. Und warum ich so wirke, wie ich wirken und arbeiten will? Jeder positive Impuls in der Welt zählt - ich denke da vor allem an Watzlawicks Vortrag auf youtube zu sehen: Die Lösung ist das Problem! Globalkultur sollte nicht die Lösung sein, sondern eine Sozietät der positiven Bemühungen.

Ich schreibe gerade an einem Manifest: Uri Bülbül und die 40-Thesen Mit dem Begriff der Sozietät der positiven Bemühungen komme ich wieder auf den Begriff der nicht geplanten aber selbstorganisierend vorstrukturierten Fügungen zurück. Die Emergenz der Vielfalt zugunsten des Zurücktretens der planenden und vorschreibenden Vernunft. Die Logik der Emergenz ist eine andere, sie ist rhizomatisch, anarchisch und probablistisch, die Dinge fügen sich zusammen nach Wahlverwandtschaft mit mehr oder minder festen Bindungen.

 Gedankenstrich 58

Lieber Uri, welcher geschichtlich wichtigen Figur bist du am Ähnlichsten und was macht dich zu dieser Person?
Malleus Maleficarum

2. September 2022
Ich liebe Außenseiter, hochintelligente, bedeutungslose Gestalten, denen die Gesellschaft so blöd ist, dass sie nicht die geringste Lust haben, darin wichtig zu werden. Ein Diogenes von Sinope, der Zyniker. Ihm folgend habe ich meinen Begriff der Kynosophie entdeckt. Ich liebe Hölderlin, der sich konsequent weigert, dem Wunsch seiner Mutter folgend die sichere Existenz eines württembergischen Pfaffen anzunehmen, experimentelle Texte schreibt, revolutionäre Gedanken hat, sich als Hauslehrer bei einem Frankfurter Bankier verdingt und die Frau des Hauses zur Geliebten bekommt. Aber bitte, für Geschichtsschreiber waren Typen wie Goethe, Napoleon, Hitler wichtig, weder Diogenes noch Hölderlin. Was also ist eine "geschichtlich wichtige" Figur? Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg oder Ulrike Meinhof? Wenn schon, dann wäre das eher mein Lager, Georg Büchner oder Erich Fried! Kein Brecht, diese etablierte Lusche! Und dann wird er in den Buckower Elegien weinerlich. Etabliert war eein weiterer auch, aber immer schön mit Geist und Verstand: Gotthold Ephraim Lessing! Ich wünschte, ich wäre so cool wie er. Aber diese Leute sind nicht geschichtlich wichtig, sondern geistig! Und dann ist mir letztens noch eine Tussi über den Rechercheweg gelaufen, eine Karrieristin aus dem SPD-Adel, hat den Begriff des "Framing" entwickelt: Elisabeth Wehling. Nicht für zehnhochzehn Millionen Euro möchte ich die geringste Ähnlichkeit mit dieser Peinlichkeit. Vielleicht noch übertroffen von Bärbock oder wie sie heißt! Ekel, schal und flach ist mir diese Welt, wie Hamlet es sagte. Nun hat es Hamlet nicht einmal wirklich gegeben, geschweige denn, dass er geschichtlich wichtig gewesen wäre. Aber ihm möchte ich auch nicht ähnlich sein, obwohl er einige Aufmerksamkeit verdient und von mir bekommen hat. "Geschichtlich wichtig" ist das Problem deiner Frage! "Geschichtlich wichtig" ist der Abschaum der geistigen Bedeutsamkeit. Dann kommt noch hinzu, dass eine wie auch immer wichtige Figur bei aller Biographie und bei allen Einflüssen am ehesten sich selbst ähnelt. Aber mir fehlt die rebellische Energie eines Friedrich Hölderlin, dafür hat mir der Kosmos die Liebe eines großherzigen Herdenschutzhundes geschenkt, die ich gegen nichts in der Welt tauschen würde. Der Mut einer Ulrike Meinhof, das literarische Genie eines Georg Büchner, die große Melancholie eines Hamlet - von allem habe ich zu wenig, kann darüber lächeln, weil ich meinen Freund habe. Er hat nämlich allen anderen gefehlt... na ja, bis auf Adolf, er hatte Blondi, wenn das nun die Ähnlichkeit zu einer geschichtlich wichtigen Person ausmachen soll, dann Prost Mahlzeit!

Apropos Ulrike Meinhof: Ist sie so ganz profan gesagt eine ganz normale Mörderin? Oder ist sie für dich eher eine Märtyrerin? Oder etwas ganz anderes?
Malleus Maleficarum

2. September 2022

Elisabeth Käsemann war eine Märtyrerin. Aus einem linken sozialen Projekt in Argentinien von Putschisten verhaftet, bei bewusster Ignoranz des Auswärtigen Amtes der BRD unter der Leitung von Hans-Dietrich Genscher, der die Waffengeschäfte mit Argentinien nicht unnötig belasten wollte, gefoltert, vergewaltigt und letztendlich, als klar war, dass kein offizielles Ersuchen auf Auslieferung bzw. Freilassung mehr aus der BRD kommen würde, ermordet. Ulrike Meinhof hat selbst zur Waffe gegriffen, um einen vollkommen sinnlosen, weil aussichtslosen Kampf zu führen, bei dem konsequent Menschen zu Schaden kommen würden. Das hat sie in Kauf genommen. In erster Linie ist sie für mich die Autorin von "Bambule", dann eine protestantische Pfarrerstochter, wobei die Kultur ihrer Herkunft häufig Individuen so etwas wie ein Atlaskomplex auferlegt, so dass diese Individuen meinen, sie müssten wie Jesus alle Last der Welt, alle Ungerechtigkeit auf sich nehmen und sich aufopfern. Elisabeth Käsemann hatte womöglich auch einen Atlaskomplex, aber sie zog keine irrwitzigen militanten Schlüsse daraus. Ich finde deine Formulierung "eine ganz normale Mörderin" bis zur Debilität profan! Du stellst dich auf den Hexenhammer und schaust auf Mörder herab! Weißt du denn so eindeutig, welcher Weg zum Mord führt? Ich würde profane Urteile nicht übernehmen und überhaupt wäre es sinniger, sprachsensibel den religiösen Diskurs zu verlassen. Nicht profan, keine Märtyrerin. Wer tötet, begeht Mord, könnte man sagen, dann kommt man zu den Diskussionen, ob man Soldaten pauschal "Mörder" nennen darf und ich würde auch gerne fragen wollen, ob Waffenlieferungen in Krisen- bzw. Kriegsgebiete nicht Beihilfe zum Mord sind. Ich sehe, um auf den Hexenhammer zurückzukommen, das Böse im Destruktiven dem Leben gegenüber und das Gute in der Beförderung des Wohlbefindens aller. Das Leben selbst setzt uns da paradoxe Grenzen. Fördert der Metzger das Wohlbefinden aller? Er ist aber jedenfalls kein Mörder, weil er keine Artgenossen tötet. Wer auf das Töten von Artgenossen abzielt, mordet. Jeder sollte durch sein individuelles Verhalten ein Stück weit dazu beitragen, dass staatliche Tötungspolitik erschwert und nicht erleichtert wird. Wenn man dieses Individualverhalten politisiert denkt, dann muss man es konsequenterweise über Staatsgrenzen hinweg denken. Es kann also nicht sein, dass die ukrainische Friedensbewegung auf Gewalt verzichten möchte, die russische Friedensbewegung aber sich nicht den kriegerischen Handlungen in den Weg stellt! Und dann muss man einen Schritt weitergehen und sagen, dass alle Menschen sich vereinigen müssen, um Gewalt und Unterdrückung zu verhindern. Der Blick auf Ulrike Meinhof ist nicht unbedingt hilfreich für einen umfangreichen Friedensdiskurs. Wir sollten lieber auf die Abgründe der Seele schauen: wie oft wird autoritäre Gewalt ebenso präferiert wie opportune Ignoranz. "Ich kann nicht hinschauen, wenn ein Tier getötet wird", Fleischkonsum aber geht ebenso wie Spielfilme.

Hach ich liebe deine Antworten einfach :) Eigentlich bin ich ja nur ein Hexenhämmerle sozusagen. Heinrich Kramer war mir zu radikal in Bezug auf die armen Frauen die seinetwegen auf dem Scheiterhaufen landeten.
Malleus Maleficarum

11. September 2022
Ich möchte, um mich mal wieder zu sortieren, eine kleine Zwischenbilanz meiner diesjährigen Schreibereien und Schreibpläne ziehen. Und nichts scheint sich dafür so gut zu eignen wie Deine sehr nette Nachricht; doch zuvor noch eine kleine Marginalie zum Hexenhämmerle:

Wir sind es alle wie selbstverständlich gewohnt, die Hexenverfolgungen als eine abergläubische und brutal autoritäre Marotte einer verrückten römisch-katholischen Kirsche zu deuten. Mit einem staunenden Kopfschütteln mal mehr, mal weniger empört übergehen wir die Phänomene mit einer längst bis zur totalen Unsichtbarkeit entwickelten Selbstverständlichkeit. Hier spiele ich gerne auf die Gadamersche Aussage an: das Selbstverständliche ist das Unsichtbare. Unsichtbar geworden sind Machtverflechtungen, die sehr perfide verlaufen und nicht zerschlagen werden können, selbst wenn wir sie bewusster wahrnehmen würden. Es ist viel zu wenig, die Verflechtungen zwischen Kirche und Staaten theoretisch mal erwähnen zu können, ohne eine Gegenpolitik zu entwickeln. Hierzu gehört eben auch, die Wahrnehmung der Hexen- und Ketzerverfolgungen. Man hat mit großer Systematik und Akribie alles an alternativem Wissen über Jahrhunderte auszumerzen versucht, Wissenstraditionen gelöscht und zugleich Angst und Schrecken verbreitet und ein Grauen in der Welt erschaffen, was man schauderhaft auch mit etwas Schadenfreude beobachtet: «Ach so kann es einem ergehen, wenn man "Unsinn" behauptet oder das Falsche glaubt! Da weichen wir mal lieber nicht von der Normalität ab.» Nach dem Motto: «Nicht auffallen, da kann man nicht reinfallen!» Man kann sich das Rädern, Folterungen schlimmster Art und ein Ende auf dem Scheiterhaufen oder soziale Ächtung und Isolation ersparen, wenn man gedanklich nicht viel herumexperimentiert. Zugleich hat sich natürlich gerade durch die Hexenverfolgung ein Patriarchat immer weiter, tiefer, perfider etabliert, was auch der scheinbare Gegenspieler der Kirche: die Wissenschaft gerne übernommen hat, bis ins 20. Jahrhundert: Sigmund Freud gehörte zu den wenigen Professoren, die ihre Vorlesung mit «Meine DAMEN UND Herren» begannen. Die Dinge sitzen zum Verzweifeln tief und können nicht mal so eben reformiert werden. Der Elan Mortal hat eine lange, sehr fundierte und tief verwurzelte Tradition. Ich beginne auch von einer "Gegenkultur" zu sprechen; und man darf nicht meinen, dass diese Gegenkultur mit der "humanistischen" nicht verschränkt wäre. Doch was tun spricht Zeus. Die Welt ist weggegeben.

Ich dichte und schreibe immer weiter: und zu meiner vorläufigen Bilanz gehört, dass sich neben den knapp 550 Folgen SOKRATES auch zwei Buchprojekte entstanden sind, die miteinander zu tun haben: «365-Gedankenstriche» und daraus ein Derivat als Manifest: «Uri Bülbül und die 40 Thesen». Diese Arbeiten beziehen sich auf die Kulturphilosophie. Und was ich bis Oktober geschafft haben wollte, wird sich, so wie sich die Dinge abzeichnen, nicht realisieren lassen.

Die Antwort auf @ShortMan679 als Bilanz meiner Schreibereien ist nicht nur kurz ausgefallen, gemessen an meiner Marginalie zum Hexenhammer, sondern auch lückenhaft... Von 550 Folgen ist die Rede und gemeint ist natürlich SOKRATES, der kafkASKe Fortsetzungsroman...

11. September 2022

Aber das Grundthema: die Selbstverständlichkeit, mit der man Dinge im Kopf abgespeichert hat, zieht sich ja durch die Antworten... eine «profane» oder «ganz normale Mörderin» lässt sich so selbstverständlich leicht sagen, und doch ist uns, sobald wir den Finger darauf legen, sofort klar, dass an einem Mord nichts selbstverständlich ist. Aber es sind doch tatsächlich diese Selbstverständlichkeiten, die elenden Unsichtbarkeiten, man nimmt sie nicht wahr, weil sie einen ständig umgeben und man sogar mit ihnen groß wird, die «das System» letztendlich stärken und überlebensfähig machen. Ich habe in Adornos Denken und seinen Vorträgen und Aufsätzen neu entdeckt, wie er diese Selbstverständlichkeiten dialektisch aufzuheben und als Zwischenschritt kurz davor sichtbar zu machen versucht. Während ich von Meister Otto @druide0815 ein kleines Lob des Schubladendenkens erhalte, weil Schubladen eben sehr nützlich sind und aufräumen und sortieren helfen, muss ich Adorno aus der Schublade des linken Rationalismus herausholen, wohin ich ihn gesteckt hatte. Aber auch Meister Otto wird es kennen, wenn man beim Aufräumen, etwas in die falsche Schublade steckt, muss man bisweilen verwundert lange suchen, bis man es wiederfindet, denn es ist eben nicht da, wo man es logisch annimmt und vermutet. Adorno ist sensibel und sensualistisch und gehört gewiss nicht in die rationalistische Schublade. Es lohnt sich, seine Vorträge auf Youtube zu hören oder als Buch zu lesen. Und da komme ich auch schon wieder zu meiner Bilanz: In den «365-Gedankenstrichen» möchte ich so manches Mal auf die «Dialektik der Aufklärung» eingehen und bin mittlerweile (diese Antworten mitgezählt) beim 59. Gedankenstrich. Auch meine Bilal-Dispute haben selbstverständlich Eingang in die Schreibprojekte gefunden. Und Jemands @DerBilal provokante Frage nach dem, wer denn entscheide, was «richtiges» und «falsches» Leben sei, hallt ja noch immer nach - das ist eine Frage mit einem großen Resonanzkörper, möchte nun fast orthographisch verrückt von einem «Räsonanzkörper» sprechen ;) Also wird kräftig weiter räsoniert. Momentan möchte ich in meinem selten benutzen Blog «Archiv für ungeschriebene Texte» einen Text unter dem Titel verfassen «Treffen in Tabarz»; da ich mich dort mit meinem 94-jährigen Schwiegervater getroffen habe, um zwei Wochen in Gesprächen Biographiearbeit zu machen. Seit einer Woche erzählen wir uns schon fast pausenlos, meine Spaziergänge mit Diego dienen zur Erholung. In meinem gewohnten Leben dienen sie eher dazu zu philosophieren und zu sinnieren, der Melancholie zu huldigen oder über Konventionen und Zwänge nachzudenken. Nun atme ich aber tief Thüringens gute Luft ein und denke mir: Goethe kann es nicht schöner gehabt haben als ich. Das verpflichtet! Ich sollte auch gute Texte produzieren, aber ohne mich unter Druck zu setzen. Meine erste Frau fragte schon, was es denn mit dem «Biographischen Archiv» auf sich habe, worin die Erzählungen und Erinnerungen ihres Vaters einfließen werden.

 Gedankenstrich 59

Im Gegensatz zu Ihnen verehrter Meister, LIEBE ich "Schubladendenken", jawoll. Es schafft Ordnung im Haus und im Kopfe. Die einzelnen Schubladen befinden sich in einem barocken Vertiko und sind nach Themen sauber beschriftet. Und auf dem Möbel: Eine Sammlung meiner prächtigsten Gartenzwerge.

12. September 2022
Werter Meister Otto, nun haben Sie den Poetenolymp um ein gar symbolträchtiges Bild sehr dienlich als Metapher bereichert. Ein Vertiko für Ihre Schubladenordnung mit den prächtigsten Gartenzwergen obendrauf. Man sollte nicht allzu fest an den Schubladen rütteln, wenn sie mal ab und an klemmen, damit kein Gartenzwerg zu Schaden kommt. Gewiss stimme ich Ihnen vollumfänglich zu, dass Schubladen für die gute Ordnung sehr dienlich sein können. Allein müssen wir uns vor Verabsolutierungen schützen, wie uns der Meister des dialektischen Faches Bert Brecht in seinem Buch "Me-Ti. Buch der Wendungen" lehrte. Sätze wie "der Regen ist gut" oder "der Regen ist schlecht" greifen zu kurz. Wir Bauern und Gärtnersleute wissen den Regen zur rechten Zeit in guten Maßen sehr zu schätzen, wissend, dass Fluten davon eine Menge Schaden anrichten können. Nun können Sie natürlich sagen: Der Kollege aus dem Orient vergleicht Regen mit Schubladen". Doch Sie ahnen den Sinn meines Sinnierens. Es handelt sich um das rechte Augenmaß für Feinheiten nicht nur sprachlicher Natur. Letztendlich plädiere ich für ein feines anarchischen Denken. Wohl mit Bedacht, dass das Gegenteil von Anarchie, trotz häufiger Konnotierung derselben mit Chaos, nicht Ordnung ist, sondern Hierarchie. Eine besondere Form der Ordnung, die sich schematisch in einer Pyramide darstellen lässt. Die Begriffspaare lauten also: Anarchie-Hierarchie und Chaos-Ordnung. Die natürliche Ordnung der Dinge kann als durch Anziehung und Abstoßung geschaffene Strukturen wie Moleküle gesehen werden. Während wir in der Biologie schnell hierarchisieren, sollten wir die Dinge besser physikalisch und chemisch atomar und molekular betrachten, so kommen wir zur Wissenschaft als Kunst nach Paul Feyerabend. Dann ist aber erstmal Feierabend. Statt Bäume und Pyramiden bevorzuge ich Rhizome und polygonale Netzgebilde. Auch Anarchie braucht Struktur und Ordnung, sonst wird aus Herrschaftslosigkeit Chaos und Tohuwabohu. Da rufe ich zur guten... betone zur GUTEN ORDNUNG auf. Keine Schubladen und kein Regen führen nur zur Verwüstung. Es grüßt Sie die Orientalische Nachtigall, die Sie ab und an trapsen hören können.

 Gedankenstrich 60

Eine der Verschwörungstheorien um COVID-19 Impfstoffe behauptet, dass die Impfung die Geimpften in einigen Jahren töten wird. Wäre es technisch gesehen überhaupt möglich, einen Impfstoff mit "Zeitzünder" zu entwickeln ?

26. September 2022
Ich habe von meinem Nachbarn, der Fernmeldetechnik gelernt hat und als Elektroniker bei der Vermessung von Gasleitungen arbeitet, die auf Dichte und Materialzustand geprüft werden müssen und der zudem sehr zu gewagten Theorien und Aussagen neigt, gehört, dass der Impfstoff Partikel enthält die auf elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz reagieren und so klumpen, dass sie zu Thrombosen führen.

Kommen wir zur Interpretation solcher Behauptungen: Das große Problem ist und bleibt die Überprüfbarkeit. Ich habe weder das Know-How noch die Gerätschaften noch die Proben der Impfstoffe, um das empirisch zu prüfen. Da steht etwas im Raum, was nicht richtig ausgeschlossen werden kann. Davon zehren die Verschwörungstheorien. Ich weiß auch nicht, wie in der Phantasie oder Behauptung, diese Moleküle aktiviert werden sollen. Bekommst du einen Anruf auf dein Handy? Kann es diese Frequenz überhaupt empfangen und an deinen Körper weitergeben? Oder wird einfach eine Gegend bestrahlt und wenn du dort dich aufhältst, bekommst du eine Trombose? Massentrombosen wären auf jeden Fall sehr auffällig.

Interessant ist aber eine andere Seite solcher Gerüchte und Behauptungen: es gibt eine Anzahl von Menschen, die den Regierungen staatlich verordneten Massenmord und jedwede Skrupellosigkeit zutrauen. Da steckt für mich das eigentliche Problem. Geheimdienste, unter Verschluss gehaltene Akten über Pläne, Vereinbarungen welcher Art auch immer, militärische Aktivitäten, Spionage usw. usf. Alles Dinge, die das demokratische Bewusstsein aushöhlen. Der «Zeitzünder» ist meiner Meinung nach weniger ein technisches als ein philosophisches und politisches Ding.

Gedankenstriche 61-70
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
• Waterloostraße 18 • 45472 Mülheim a.d. Ruhr