Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
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Auf der Suche nach einem Mittel der Wahrnehmung...

Dem Fluss ist es egal, wo man in ihn hineinspringt oder wo man ihn zu überqueren versucht...
Gedankenstrich Null



Am Ende eines Brainstormings, was sich wie ein Gewitter zusammengebraut hat, entstand die Karte der Gedankenstriche als ein ideelles Gebilde, das darauf hinweist, worüber ich unbedingt zu schreiben gedenke, weil mich die Gedanken seit Jahrzehnten beschäftigen und nicht loslassen. Einer davon ist, dass Enden und Anfänge, vor allem Enden, besonders fiktiv sind.

Dem Fluss ist gänzlich alles egal.

Doch das suchende Bewusstsein weiß von der Quelle und der Flussmündung, vom Lauf und vieles mehr. So nimmt man einen Nullpunkt, damit das Bild stimmt. Es ist das Bewusstsein, das Punkte setzt: Anfänge, Höhepunkte, Endpunkte, das Kurven zieht und Tangenten, das Asymptoten definiert und Realität erschafft. Das klingt nach purem Idealismus, als würde das Bewusstsein erschaffen, was es wolle. Und was es nicht wolle, einfach wegdenken. Und jeder weiß, dass die Wirklichkeit kein Wunschkonzert ist und dass es so vieles in der Wirklichkeit gibt, was man so gar nicht haben möchte und tatsächlich am liebsten durch reines Denken, reine mentale Kraft aus der Welt schaffen würde. Und jeder weiß, dass die Wirklichkeit sich so einfach nicht umdenken lässt. Doch weiß der Fluss selbst nicht einmal, dass er ein Fluss ist.

Ich aber ich habe einen Punkt, einen Bewusstseinspunkt, einen Standpunkt, der mehr ist als die Koinzidenz all meiner Urteile, Vorurteile, Meinungen und vermeintlichen Gewissheiten. Einen Standpunkt, der auch mehr definiert als mein Verhältnis zu bestimmten Sachverhalten, Weltereignissen, politischen Geschehnissen oder Erfordernissen. Es geht hier nicht um relativ manifeste und oberflächliche Standpunkte, die man durch Verlautbarungen, Erklärungen, Argumentationen definieren... ach was... verbalisieren kann!

Es geht um einen vor- oder gar unsprachlichen Standpunkt, der mir eine Gewissheit verleiht, mit der ich "Ich" sagen kann. Und wenn ich es sage, weiß ich, was damit gemeint ist. Wenn ich dann daraufhin die Frage erhalte:«Was? Du?» weiß ich, dass ich mir der nächste bin. Ich bin meine Innerlichkeit, was eine Du-sagende Person mir nie sein kann! Vielleicht gibt es da eine Ausnahme, aber diese ist ein ganz besonderer Sonderfall und ganz und gar anders und in einem anderen Kontext zu erörtern als hier: mein Hunde-Lebensfreund und Begleiter. Lassen wir diese "Ausnahme" von diesem hiesigen Punkt aus betrachtet beiseite. Bleiben wir beim klassischen Begriff der "Person", womit in der Regel menschliche Personen gemeint sind. Ich bin meine Innerlichkeit und doch schließt das nicht aus, dass ich mir selbst fremd bin. Ich sollte vielleicht besser sagen: Meinem Ich ist mein Selbst fremd. Es gibt Ecken, Winkel, Schichten in mir, die sich dem Blick und dem Wissen meines Ichs über mich entziehen. Ich habe Nietzsches Aussage: wir sind uns fremd, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst... nie auf mich selbst angewandt. Vielleicht habe ich mich als einen Erkennenden nie selbst angesprochen gefühlt. Man weiß eben nicht... und da schließe ich von mir auf andere, eigentlich auf alle: man weiß eben nicht, warum man auf manche Ideen kommt und auf andere nicht, obwohl sie durchaus naheliegend sein können. Von wem ist da mit "man" die Rede? Von allen Personen, die "ich" sagen können und sich selbst damit meinen. Ich nähere mich dem Standpunkt, von dem oben die Rede war. Er ist die basale Sicherheit, die "Ich" sagen lässt. Er ist der Standpunkt, der dem Ich das Gefühl der Gewissheit gibt, was in der sprachlichen Performation des Ich-Sagens nicht nur semantisch, sondern auch emotional expressiv und appellativ geäußert wird. Das Ich sagt nicht umsonst "ich" - es will auch in seiner Gewissheit von anderen wahrgenommen werden. Denn auch in diesem Zusammenhang hat die Aussage: «Sein ist Wahrgenommenwerden» ihre Gültigkeit.

Auf diesem Ich basiert letztlich das Cogito als denkendes Ich. In meinem konkreten Fall will es sich hier zu einem Gedankenstrich erst und dann zu 365 Gedankenstrichen erheben. Gedankenstriche, die Strich für Strich uns zu einer Kulturphilosophie des Lebens heranführen, was ich deshalb mit Sicherheit sagen kann, weil nicht der lineare Prozess des Schreibens und Argumentierens auf dieses Ziel führen soll... nein! ...nicht führen KANN, sondern das Leben schon da ist und den Standpunkt des Ichs ausmacht - jenen Standpunkt, der allem vorangeht und zugrundeliegt. Darin unterscheidet sich diese kulturphilosophische Schrift von meinen früheren Versuchen, die in einem gewissen Rationalismus verfangen waren, obwohl sie sensualistisch, ästhetisch und provital sein wollten. Eben das ist das Entscheidende: sein WOLLTEN! Sie waren zwar der Morbidität des rationalistischen Denkens eher abgewandt, das aber genügt keinesfalls, eine lebensfreundliche Kultur zu präsentieren.

Wenn aber das Leben schon den basalen Standpunkt geliefert hat, so muss doch gefragt werden, wozu bedarf es dann überhaupt einer Kulturphilosophie des Lebens? Die Antwort ist einfach wie kompliziert zugleich: weil das Leben geschützt und Vitalität gefördert, im Sinne von kultiviert, werden muss!

Denn das Leben hat nicht nur eine lebendige und Leben fördernde Seite, sondern auch etwas, was ich notgedrungen: Elan Mortal nennen muss. Ich habe mich genau diesem Aspekt eine ganze Weile, seit ich an den Gedankenstrichen schreibe, verschließen wollen. Ein bißchen erinnerte mich das an die ethische Diskussion über "das Böse", ob es dieses an sich als eine Entität gebe oder ob es einfach nur aus dem Mangel an "Gutem", wie z.B. Erkenntnis und Güte, entstehe. Ich war der womöglich voreiligen Meinung, dass die Annahme einer eigenen Entität des Bösen satanistischer Quatsch sei, um eine alternative Pseudoreligion zu erschaffen. Im Grunde verstärkt die Annahme eines gefallenen Engels den religiösen Diskurs und arbeitet klerikalem Denken in die Hände. Dem wollte ich mit einer aufklärerischen Haltung begegnen und das "grundsätzlich Böse" als eine Fehlannahme betrachten. Ich kann Jenseits von Gut und Böse den Diskurs noch einmal reflektieren:
  1. Die Nähe der Diskurse «Gut-Böse» und «Elan Vital - Elan Mortal» muss nicht an sich notwendig gegeben sein; die Dinge kann man gut getrennt voneinander diskutieren
  2. Es ist falsch eine Meinung zu einem Standpunkt zu verfestigen und dadurch sich Denkbarrieren aufzuerlegen.
  3. Eine Kulturphilosophie, die komplett areligiös sein will, sollte sich nicht auf quasireligiöse Diskussionen und Annahmen einlassen oder beziehen, auch wenn das literarisch, fiktional, gemeint sein sollte.
Ob "das Böse" satangesteuert ist oder sonstwie ein Kultobjekt für sich findet, weil es an sich als Entität existiert, ist eine theologische und keine kulturphilosophische Denkweise und Spekulation. Ich muss in der Kulturphilosophie den destruktiven wie asozialen Phänomenen auf eine andere Weise Rechnung tragen, anstatt mich religiöser Metaphern zu bedienen. So wie der Gedanke des Elan Vital eines Gottes nicht bedarf, so bedarf der des Elan Mortal auch keines Teufels.


Das virtuelle Schreiben macht je etwas möglich, was das gedruckte nicht zulässt. Die gedruckte Schrift erzwingt Endgültigkeit. Sie kann nicht zwischendurch variiert, modifiziert, ergänzt, verändert, erweitert oder gekürzt werden. Der virtuelle Text hingegen sehr wohl! Im Print geht das von Auflage zu Auflage, woran allein schon sichtbar ist, wie sehr Literatur dem Leben als Lebendiges abgewandt ist. So sehr das Buch verehrt wird, so deutlich muss gesagt werden, dass das Buch ein Kultobjekt des Rationalismus ist und eine Philosophie, die sich der Lebendigkeit des Lebens widmet, es nicht als sein Medium begreifen kann! Der virtuelle Text dagegen ist fix und flexibel zugleich. Angeblich ist er nicht so viel wert wie das gedruckte Wort; rein materiell ist natürlich der Aufwand einer Buchproduktion deutlich höher, doch daran kann doch der Wert des Wortes nicht gemessen werden! Der virtuelle Text lässt sich immer wieder schnell und nur mit reinem Gedanken- und Aufschreibeaufwand variieren. Er ist den Ideen viel näher als das Buch. Die Betonung des haptischen Wertes des Buches verklärt das Verhältnis des Mediums zu seinem Inhalt. Es ist reine modernistische Ideologie. Sie klebt an der Mechanik und lobt Gewicht, Geruch, Gefühl des Buches und blendet komplett seine Nachteile aus. Das Lob des Buches ist nicht nur anachronistisch, es ist geradezu kultur- und demokratiefeindlich. Das Buch ist das Medium des Feudalismus und des kapitalistischen Bürgertums. Der virtuelle Text dagegen ist anarchisch wie demokratisch. Er kann leicht verbreitet, kommentiert oder variiert werden. Darauf kommt es im Wesentlichen an, wenn sich Ideen leicht und flugs durch die Welt bewegen sollen. Das Gespräch, die Metapher, alles Bildhafte, die Erzählung und der Schrift am nächsten der virtuelle Text eignen sich weit besser für eine vitale Philosophie, die nicht Gedanke sein will, sondern erlebte, gelebte Erkenntnis in den Tiefen der Körperlichkeit, eine Philosophie, die in Fleisch und Blut übergegangen ist durch Mark und Bein, ohne sich in Begrifflichkeiten, Terminologien oder Argumenten zu verlieren. Wir kommen nicht in medias res, wir sind immer mitten drin! Das ist keine neue philosophische Auffassung, sondern eine die seit dem späten 18. Jahrhundert weit um sich gegriffen hatte, die aber die industrialisierte Moderne brutalst verdrängte. Diese Moderne brauchte (ich bin hier im Erzählpräteritum) eine lineare Narration, eine lineare und mechanische Systematik, radikal positivistischen Szientismus, der alles ausmerzte, was nach Vagheit und Ambiguität aussah, um eine Kultur verinnerlicht und verabsolutiert zu etablieren, die dem Leben durch und durch abgeneigt ist! Wir können das festmachen, woran wir wollen, wenn wir beginnen mit wachem Auge unsere Welt zu betrachten. Das Ich kann nicht anders dann, als eine Lanze für das Leben zu brechen. Ich muss das streichen! Hier geht die Narration in Märchen über. Das Ich ist nicht und schon gar nicht so leicht auf die Seite des Lebens zu ziehen: es reglemientiert, reguliert, hält sich an Normen, Vorschriften, passt sich Konventionen an und arbeitet de facto gegen das Lebendige in einer Person. Doch sollte davon nicht jetzt die Rede sein; bleiben wir beim Medium der Moderne einschließlich der industriellen Moderne - bleiben wir beim Buch und bei dessen Aufhebung in der Virtualität.







Gedankenstriche 1-12
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
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