Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
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Gedankenstriche-Map


Auf der Suche nach einem Mittel der Wahrnehmung...

 Gedankenstrich 37

Ein Recht des Subjekts auf Uneinsichtigkeit! existiert nicht. Das Recht ist ein soziales Phänomen, gesellschaftlich und vom Kontext des Subjekts abhängig. Was sich das Subjekt als Handlungsfreiheit herausnimmt, ist Freiheit. Man sagt: ich bin so frei, wenn man sich eine Freiheit herausnimmt, die als Handlungsspielraum vom gesellschaftlichen Kontext nicht vorgesehen ist. Gesellschaftlich kann dann die Sprechweise auftreten: das Subjekt hat sich herausgenommen, dies oder jenes zu tun, ohne das Recht dazu zu haben! Oder als Frage: durftest du das überhaupt? Die Antwort darauf: keine Ahnung! Ich habe es einfach gemacht! Wer immer fragt: «darf man das überhaupt?», gibt seine Subjektivität an dieser Stelle mit dieser Frage auf, ordnet sich unter, sucht das Regelwerk, das Reglement. Er ist nicht das Subjekt, das sagen kann und ja sagen muss: «Hier stehe ich und kann nicht anders!» Er hat sein Ich neutralisiert ist ein «man» und möchte die Konvention. Das eigene Fürwahrhalten wird zugunsten der Unmündigkeit aufgegeben oder hintenangestellt. Für eine modisch sonst so subjektivistisch orientierte Gegenwart ist dies ein resignatives aber auch blamables Verhalten, allerdings bei Näherer Betrachtung konsequent, denn wenn subjektivistisch alles so oder auch anders gesehen werden kann und jeder seine eigene persönliche Wahrheit hat, gibt es kein Fürwahrhalten, was das Subjekt nötigt, sich zu behaupten. Dann haben der Papst Recht, Luther Recht und die Ablassprediger Recht. Und wenn jemand sagt, sie können nicht alle Recht haben, dann hat er auch Recht. Dem Subjektivismus fehlt hinter dem scheinheiligen Liberalismus das Rückgrat für Zivilcourage, was man auch standing nennen kann. Wenn «Einsichtigkeit» autoritär gebraucht wird wie die Aufforderung «endlich vernünftig» zu sein, geht es um Norm und Konvention, der sich das Subjekt beugen soll, also nicht um Wahrheit und Erkenntnis, sondern um Macht. Der einzelne Mensch soll sich gefügig, untertänigst, der Macht wohlgefällig verhalten. Nun gebärdet sich die Macht, übrigens wie nicht selten zuvor, positivistisch und um das Gemeinwohl besorgt. Wissenschaftliche Hypothesen und Teilergebnisse werden als verallgemeinerte Tatsachen präsentiert und erhalten den Charakter einer Wahrheit und zugleich wird ein sozialer Druck aufgebaut, der die Keule des Gemeinwohls aufgrund der «erzeugten Tatsachen» schwingt und von den einzelnen Menschen «einsichtiges», wohlgefälliges Verhalten verlangt. Das Subjekt ist also solange frei, solange es nicht gegen das Gemeinwohl handelt, und was das Gemeinwohl ist definieren Wissenschaftler in konzertierter Aktion mit Politikern. Macht und Wissenschaft verbünden sich inquisitorisch und denunzieren demokratische Freiheits- und Persönlichkeitsrechte als unsozial und gemeinwohl gefährdend. Es ist aber ebenso eine wissenschaftstheoretische wie historische Tatsache und ein Teil der Erkenntismethodologie der Wissenschaften, dass wissenschaftliche Erkenntnisse falsch sein können.

 Gedankenstrich 38

Auf unzureichender wissenschaftlicher Forschung basierend werden Erkenntnisse proklamiert, die gar keine sind und per Verordnung demokratische Rechte abgebaut. Das ist ein Erosionsprozess in der parlamentarischen Demokratie, worin zum höchsten Gemeinwohlgut die Freiheit der Person gehören müsste, aber in der Tat nicht gehört! Die Demokratie nimmt ihre eigenen Werte nicht ernst. Freiheit und maximale, größtmögliche "Mitbestimmung", also Einflussnahme des Individuums auf die Gesellschaft. Die Unversehrtheit der Persönlichkeit, politische Freiheitsrechte wie Presse-, Meinungs-, Versammlungsfreiheit leiten sich notwendig aus den beiden ersten ab. Wie soll ein Individuum auf die Gesellschaft Einfluss nehmen, wenn es sich nicht frei informieren, mit anderen austauschen und zum Austausch treffen kann? Das ist ein Aspekt unter mehreren. Ein weiterer ist das Schafsverhalten: Nicht jedes Individuum möchte von seinem Recht Gebrauch machen, sich an der Demokratie zu beteiligen. Es ist zu anstrengend, persönlich für die eigenen Belange, Interessen, Gefühle, für das eigene Leben irrelevant. Es gibt Personen, die ihre Lebensenergie nicht derart verschwenden möchten oder zu dieser Beschäftigung überhaupt keine mehr haben, weil sie anderweitig ausgelaugt werden. Die Neigung zur Diktatur kommt mit der Angst vor Freiheit, die mit ihren Möglichkeiten und Eventualitäten verunsichert und zum eigenen Handeln und zur Verantwortung herausfordert. Autoritäten haben den Vorteil, dass man sagen kann: "ich musste das tun. Ich hatte keine Wahl." Was hat natürlich Quatsch ist, da man immer eine Wahl hat. Nun soll aber bitte schön eine starke Macht beschützen und für Sicherheit und Ordnung sorgen. Das entlastet das Subjekt. Also simuliert die Politik Handlungsfähigkeit. Nicht dass sie pragmatisch und situationsadäquat zu handeln in der Lage wäre! Immer bei wichtigen tatsächlichen Herausforderungen reagiert die Politik nicht anders als das individuelle Subjekt. Da spricht sie lieber von Sachzwängen, Bündnisverpflichtungen, diplomatischen Verwicklungen, immer kann die Verantwortung abgewälzt werden auf eine andere übergeordnete Instanz mit Autorität oder der normativen Kraft des Faktischen. Nein, die beweist ja tagtäglich seit Jahren und Jahrzehnten, dass sie zu sachadäquatem Handeln unfähig ist. Aber sie kann ja so tun, als ob! Und dazu ist sie allemal und womöglich schon seit jeher fähig! Wie das selbstverliebte hohle Individuum unfähig ist, sich Kenntnisse, Fähigkeiten, substanzielles Regelerkennen anzueignen, so ist die Politik im selben geistigen Klima der Selbstherrlichkeit und individueller Verantwortungslosigkeit unfähig, aus ihren althergebrachten Mustern auszubrechen und situationsadäquate neue Wege zu beschreiten. Ein "Hier stehe ich und kann nicht anders" war einem Luther möglich, Lutheranern wird das nimmermehr gelingen können. Sie können sich in den Stolz einhüllen, dass derjenige, den sie bewundern, es geschafft hat, und sie selbst würden ihn ja nicht bewundern, wenn es so leicht wäre, selbst eine solche Courage an den Tag zu legen.

 Gedankenstrich 39

Spannend! [Gedankenstrich 2] Siehst du ein Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Uneineinsichtigkeit und dem Recht auf Gesellschaft/gesellschaftliche Teilhabe?

Die Gesellschaft hat an keiner Stelle das Recht, Menschen auszuschließen. Der Strafvollzug könnte so anmuten, als wäre der Ausschluss durch Einsperrung gerechtfertigt. Wie human (im ganz idealistischen Sinne) der Strafvollzug und die Justiz sind, ist philosophisch äußerst fragwürdig. Philosophisch meint hier: wir denken und lassen uns keine Barrieren in unser Denken implementieren. Wie realistisch es ist, gedachte Möglichkeiten aus dem Bereich er Utopie in die Wirklichkeit zu holen, also zu verwirklichen, sei mal dahingestellt. Philosophie ist und muss barrierefreies Denken sein! Man hat zwar den Strafvollzug im 19. Jahrhundert reformiert und versucht, humaner zu gestalten. Aber sind Militär, Strafvollzug, Psychiatrie, Schule nicht überholte und überlebte Vorstellungen und Praktiken aus dem 19. Jahrhundert? Die Moderne hat darauf eine ganz typische Antwort - aber eben eine, die das 19. Jahrhundert auch entlarvt: «Du spinnst, Uri! Möchtest du Vergewaltiger, Mörder, Diebe, Gangster, gewalttätige Psychopathen, Pädophile frei herumlaufen lassen?» Meine Antwort darauf: «Nein, ich möchte frei über alternative Praktiken und Methoden nachdenken!» Die herrschende Realität als die einzig mögliche auszugeben und mit allen Mitteln der Unvernunft zu verteidigen ist eigentlich der Aufklärung ihrem Anspruch nach unwürdig! Aber ebenso typisch! Uneinsichtigkeit bedeutet ja nur, dass man als denkendes und selbst urteilendes Subjekt (nichts anderes ist der große Anspruch der Aufklärung: Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!) gezwungen wird, sich vor dem zu beugen, was als gesellschaftliche Macht und Norm als Wissen deklariert und allen aufgezwungen wird. Da widerspricht sich die Aufklärung selbst und genau das wird in der "Dialektik der Aufklärung" auch sensibel und weitsichtig thematisiert. Immer wieder muss ich auf dieses Werk zurückkommen, auf seine Schönheit, seine Treffsicherheit und seine Musikalität - all das gehört zusammen, sind verschiedene Namen für dasselbe Denotat und würde ich 365-Kommentare zur "Dialektik der Aufklärung" schreiben, könnte ich seiner Schönheit, Treffsicherheit und Musikalität nichts anhaben; so zitiere ich erst einmal Adorno/Horkheimer S.5: «Die Angst des rechten Sohns moderner Zivilisation, von den Tatsachen abzugehen, die doch bei der Wahrnehmung schon durch die herrschenden Usancen in Wissenschaft, Geschäft und Politik klischeemäßig zugerichtet sind, ist unmittelbar dieselbe wie die Angst vor der gesellschaftlichen Abweichung.» Selbstverständlich geht es hier nicht nur um die "Söhne moderner Zivilisation" und ich muss hinzufügen: leider! Denn dann wären wenigstens die Töchter und Transgender vor diesem Phänomen gefeit! So unterschiedlich diskriminiert Mädchen, Frauen und Transgender auch sind und hier öffnet sich uns der Boden unter den Füßen, um uns die Hölle der Gefährdung der «wahren Menschlichkeit» zu zeigen, so sehr gibt es auch Gemeinsamkeiten der Versklavung aller Menschen in der Moderne durch die Moderne.

 Gedankenstrich 40



Einer der für mich so wichtigen Schlüsselsätze bei Woyzeck: Wenn einem doch die Natur kommt. Woyzeck im Gespräch mit dem Arzt, auf den Vorwurf, er habe in der Öffentlichkeit uriniert. Ich zitiere aus dem Kopf, man möge mir die Ungenauigkeit verzeihen! Auf der einen Seite der Arzt, auf der anderen ein intellektuell schwach ausgebildeter Mann; die Hierarchie ist klar: der Arzt steht höher. Der Arzt ist kein Arzt im ideellen Sinne, kein "Heiler", er ist ein medizinischer Technokrat. Er steht auf der anderen Seite, ist der Wissenschaftler, der die Natur zu bezähmen sucht. Im Grunde ist er ein Feind der Natur! Ein Freund der Norm. (Vgl. auch Adorno/Horkheimer, Einleitung in die Dialektik der Aufklärung, die Stelle über die herrschenden Ussancen in den positivistischen Wissenschaften und über die Angst des rechten Sohns moderner Zivilisation, von den Tatsachen abzuweichen). «Man uriniert nicht in der Öffentlichkeit!» Und auf der anderen Seite: «Wenn einem doch die Natur kommt» - gehört da nun ein Ausrufezeichen oder ein Fragezeichen hin? Die weibliche Parallele dazu: die junge «sündige Mutter» sucht für sich die Zucht und Ordnung, aber die christliche gnädige Wendung zum Menschen ist keine Hinwendung zur Natur gegen die Norm. Die Norm bleibt: geh hin und sündige hinfort nicht mehr! Die Gnade besteht lediglich im Verzicht auf die Verdammnis. Die positivistische Hölle der Tatsachen bleibt, um die Parallelen kurzzuschließen. LG Uri Bülbül

Es wird gewiss etwas anderes verhandelt als Ehebruch! Es wird die Fragwürdigkeit der Ehe (Norm) verhandelt. Die Ehe ist etwas Widernatürliches und ein Symptom der "Naturverfallenheit" des Menschen, um es mit Adorno/Horkheimer zu sagen. Dabei würde ich zwischen Monogamie und Ehe als Institution und gesellschaftliche Kontrolle trennen. Es geht nicht um die ideologische Verwerfung der Monogamie, weil sich Menschen liebend aneinander verbunden fühlen und gar kein Bedürfnis haben, diese Beziehung aufzuweichen oder zu verlassen. Es geht um das So-Sein-Müssen! Verhandelt auch bei Danton zwischen Julie und Danton!

Im Zusammenhang mit der "Naturverfallenheit" auch die Legenden von Diogenes von Sinope (zynische, im wörtlichen Sinne "hündische" Schule!) Es wird gesagt, Diogenes habe in der Öffentlichkeit uriniert und onaniert (schamlos wie ein Hund!) und habe Alexander den Großen (Vertreter staatlicher Macht und Ordnung) zurückgewiesen: «Geh mir aus der Sonne!» Symbolisch gedeutet steht da jemand als ebensolcher Vertreter zwischen der Natur des Indivuduums und der kosmischen Energie (Sonne). Der Staat, die Norm, werfen Schatten auf das Sein! Hunde hingegen sind natürlich sozial und keineswegs christlich friedfertig: sie halten nicht die linke Backe hin, wenn ihnen ein anderer Hund auf/in die rechte schlägt/beißt! D.h. moralisierende Überformung und natürliches Sozialverhalten schließen sich nicht aus.

Maries "Naturverfallenheit", ihr "sündiges Verhalten" der Natur gegenüber liegt darin, dass sie sich für den Symbolträger gesellschaftlicher Macht und Norm, für die Überformung durch Hierarchie entscheidet; sie findet den Tambourmajor erotischer, anziehender als den intellektuell zurückgebliebenen ("Idioten") Woyzeck. Der "Stich" wird vieldeutig: 1. Die Natur versetzt ihr für ihren Verrat an der Natur durch erotische Bevorzugung der Norm (Tambourmajor) einen Stich ins Herz. 2. es ist aber auch Maries "Natur als Mutter", dass sie sich zum besseren Versorger hingezogen fühlt, was sie in das Paradox versetzt, dass sie die Norm als bessere Versorgung ansieht, wogegen sie aber selbst mit dem unehelichen Kind verstoßen hat. Marie ist in einem (weiblichen?) Dilemma verfangen. Und dann sieht sie, dass ihr Baby spontan "sich berührt", seiner Natur folgt, was ihr auch wieder ein Stich ins Herz versetzt.

Antwort: Der Satz "wenn einem doch die Natur kommt" ist in der Tat ein Schlüsselsatz. Nur muss man bei Büchner die (nachweisbaren) Hintergedanken des Autors (vgl. den Text "Twilight Language ... " in meinem Profil) auf der Rechnung haben. In H2,4 sagt ein Handwerksbursche auf der Toilette ("... lasst und jetzt über das Kreuz pissen"): "Mach kein Loch in die Natur". Die "Natur" ist bei Büchner im Kontext der 'metaphorischen Verklammerung' (pissendes Pferd, kopulierende Hunde, Mücken tun's einem auf den Händen usw.) sodomitisch konnotiert, d.h. im zeitgenössischen Sinne Homosexualität und Pädophilie einbegriffen. Auch der Doktor ist dahingehend kompromittert, und es ist zu beachten, dass er Woyzeck beim Urinieren beobachtet, was der Szenerie, dass Woyzeck es vermeintlich nicht mehr bis ins Labor geschafft habe, widerspricht. Die Handlung also in diesem Punkt inkonsistent, aber es geht eben um etwas anderes, nämlich um den verdeckten Hintergrund. Marie kann zwar der Ehebruch vergeben werden: Was nicht heilbar ist, ist dass der Vater des gemeinsamen Kindes gleichzeitig ihr Kind ist. Das macht die von der Stimme verlangte Ermordung Maries zur Sühne eines Tabubruchs und erkärt die seelische Vernichtung Woyzecks (Testament) und Maries (anbetender Hilferuf). Methodisch empfielt sich, eine Liste zu erstellen, in welchem engeren und weiteren Zusammenhang solch ein Begrioff wie 'Natur' (oder auch 'Messer') im Dramenfragment auftaucht. Übrigens bestätigt sich das auch im Hinblick auf Büchners Revolutionsdrama 'Dantons Tod'. Auch hier ist 'Natur' sodomitisch kontaminiert.

Kann man alles so sehen. Warum aber stellt Büchner unmittelbar zuvor (H4,15) einen Woyzeck auf die Bühne, der umständlich ein Messer kauft, obwohl er bereits in der ersten Szene Stöcke schneidet, d.h. über ein Messer verfügt? Und warum spricht der Narr in Maries Bibelszene anschließend von "Blutwurst"? Warum Maries Satz: "Das brüht sich an der Sonne?" Warum gleich darauf Woyzecks Satz in H4,17 über seine Mutter und die Sonne? (Wissenschaftliche) Literaturanalyse unterscheidet sich von (jederzeit berechtigter) subjektiver Interpretation dadurch, dass sie Zusammenhang (Form) erkennt. Das muss immer a m Text stattfinden.

 Gedankenstrich 41



Statt einer Überschrift nehme ich dieses paradigmatische Bild: Der Mensch im Räderwerk einer übergeordneten Maschinerie mit einem Schraubenschlüssel in der Hand, aber längst nicht mehr der Beherrscher der Maschinen und Apparate, sondern im Begriff, von diesen seinen Schöpfungen und Konstrukten zerquetscht zu werden, aber noch im Bemühen mit einer guten Miene zum bösen Spiel in der Zwangslage, an den Schrauben der Maschinerie zu drehen. Das Zeitalter der Moderne, Moderne hier als Epochenbezeichnung, in einem Screenshot aus Charlie Cgaplins Film "Modern Times" aus dem Jahr 1936. Farb- und Tonfilm existieren längst schon, der Film von Charlie Chaplin aber sperrt sich gegen die moderne technische Entwicklung mit Hilfe der Stilmittel des Stummfilms. Und betrachtet man die Entstehungsjahre 1934 bis 1936, hat der Faschismus in Europa schon um sich gegriffen und ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Dies sei festgehalten, nicht moralisch die "deutsche Schuld" zu relativieren und in der europäischen Moderne aufzulösen wie braunen Zucker im Tee, sondern den Blick auf den Zusammenhang zwischen Technokratie, Bürokratie, Kapitalismus und last but not least Positivismus zu lenken. Diese vier Elemente sind es, die in Kombination mit der Empathielosigkeit des Menschen in seiner gesellschaftlichen Wirkungsweise das furchtbare Morden auslösen. Ein Morden, das nicht besonderer und besonders monströser Subjekte bedarf, sondern ganz alltägliche, "normale" Menschen, das unfassbar Böse bewirken können, wie in einem schnellen Sportwagen jeder Mensch rasend schnell fahren kann. Hannah Ahrendt nennt es die "Banalität des Bösen", nicht das geschaffene Böse ist gemeint, sondern dass es keiner besonderen menschlichen Fähigkeiten individuell bedarf, um das Böse zu schaffen, wie es keiner besonderen menschlichen sportlichen Fähigkeiten bedarf, um in einem Auto von Null auf Hundert in drei Sekunden zu beschleunigen. Hannah Arendt erspürt dies unmittelbar in eigener Empathie, als sie den Eichmann-Prozess in Jerusalem verfolgt und muss nicht über die Taten und Folgen, nicht über das Geschehene lachen - darüber sagt sie: «Was soll man mit dem Begriff des Mordens anfangen, wenn man mit der Fabrikation von Leichen konfrontiert ist?» - doch über Eichmann sehr wohl: ein Hanswurst, der den Massenmord und die Züge nach Auschwitz organisierte. Das hätte auch jeder andere sein können, wie jeder von Null auf Hundert in drei Sekunden beschleunigen kann, wenn er das entsprechende Fahrzeug dazu hat. Aber wer hat das Fahrzeug konstruiert, geplant, entworfen, produziert, wie viel Wissen, Know How und Technologie gehörte dazu? Vorarbeit an Forschung und Entwicklung? Die Antworten auf diese Fragen machen den kulturhistorischen Hintergrund der Moderne aus wie die Bedeutungslosigkeit, das Verschwinden des Individuums, der Persönlichkeit in der Anonymität, die von dieser Kultur ebenso produziert wird. Adorno/Horkheimer bringen es in der "Dialektik der Aufklärung" auf ihre Formel, dass der Einzelne hinter den Apparaten verschwinde, die er bedient und die ihn immer mehr und immer besser mit Konsumgütern und Waren versorgen. Zur «Banalität des Bösen» sollte angemerkt werden, dass damit nicht die Taten und ihre Ergebnisse gemeint sind, sondern die Personen, die sie begehen. Die Täter sind banal, sie sind Jedermann, jede Person, banale, triviale Menschen begehen ungeheuerliche, unfassbare Verbrechen, die das eigentlich Böse sind. Das Böse sind die Handlungen, banal die handelnden Personen.

 Gedankenstrich 42

Modern Times II

In dem Film "Modern Times" finden sich viele weitere und auf unsere heutige Zeit sehr gut beziehbare Bilder, so zum Beispiel durch die Videoüberwachung auf einem Riesenbildschirm, wo selbst die Toiletten keine Rückzugsmöglichkeit mehr bieten, weil das Glasauge des großen Bruders das Subjekt überall erspäht. Aber hinter dem Glasauge am großen Bildschirm steht der Fabrikbesitzer, der Kapitalist, ein Sklave der Börsen und des Geldes, den wir allzu schnell als Bösewicht zu identifizieren bereit sind, ohne zu sehen, dass auch er Bedingungen unterworfen ist. Er hat eine andere Position als der Arbeiter zwischen den Zahnrädern, aber er ist ebenso in den Mühlen eines allumfassenden Kontextes.

Moderne Subjekte wüssten gar nicht, wofür sie so massiv einstehen sollten, um noch einmal auf Luther und die Lutheraner zurückzukommen. Wenn doch Wahrheit subjektiv und Ansichtssache ist, wie es so gerne als Zeichen der Liberalität propagiert wird, muss niemand mehr für irgendetwas einstehen. Diese bereits erwähnte, indifferente, gleichgültige Geisteshaltung findet sich keineswegs nur bei Protestanten, hier würde man es doch auch am allerwenigsten vermuten. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hat eine moralische Hintertreppe gefunden, sich aus der Verantwortung der Freiheit zu stehlen. Mit anderen Worten: Freiheit ist anstrengend! Und lediglich für Konsum, Reisen, Handel gut gelitten. Das gilt für die westliche Welt, für die reichen Industriestaaten, die sich durch unschlagbares technologisches Know How ihr Überleben gesichert zu haben scheinen. Vieles, was an Selbstbestimmung der Lebensweisen als notwendig empfunden wird, wird vom Nationalismus ideologisch annektiert. Das moderne Subjekt ist in Informationsflut erstickt und begraben. Die Informationsgesellschaft bedeutet den Wandel der Zahnräder in Massenmedien. Das Wichtigste ist bereits in der "Dialektik der Aufklärung" vor fast 80 Jahren treffend und stilistisch weit schöner als hier formuliert. Heute stellt sich die Frage: warum nützen und bewirken die Ereignisse keinen Wandel? Es ist, als wären Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Versklavung, Krieg, Zerstörung und Destruktion in den Begriff des Menschen festgemeißelt. Aber es ist mindestens so fest und gewiss, dass es damit kein Abfinden geben kann und schon gar nicht in einer Lebensphilosophie, die ihrem Wesen nach dem Leben zugewandt ist.

Adorno/Horkheimer sprechen von "Residuen der Freiheit", die es zu verteidigen gilt. Diese zu erkennen, zu schützen und als seelische Biotope durch Achtsamkeit zu pflegen oder gar womöglich weiter zu kultivieren, ist eine Kunst, die auch erlernt sein muss. Aber weitergegeben wird dieses Wissen um das Gefühl für die Residuen nicht - und schon gar nicht durch das System, das auf das Zubetonieren jegliches Menschlichen setzt. Diese Residuen werden bekämpft wie Unkraut. Daher rührt auch die Abneigung der politischen Technokratie gegen mich. Ich bin ein individualistisch Unkraut in deren Augen, von dem man nicht genau weiß, wie es sich unangenehm ausbreiten wird, vor allem dann, wenn man es auch noch finanziell unterstützt. Aber das ist ein anderes Thema, das für sich vertieft gehört, vor allem, wenn ich die Bemerkungen Adornos zu Verwaltung und Kultur berücksichtige. Mein Ziel bleibt aber, nicht nur theoretische Betrachtungen kulturphilosophischer Art anzustellen, sondern auch in kulturpolitische und organisatorische Aktivitäten zu treten, auch wenn sie womöglich zum Scheitern verurteilt sind. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen und Erkenntnisse gewinnen.

 Gedankenstrich 43

Eine neue Kulturphilosophie unter dem Stern eines kulturellen Paradigmenwechsels, was ja wie mehrmals betont nicht von einzelnen Individuen teleologisch angelegt und realisiert werden kann, -eine neue Kulturphilosophie bräuchte auch zu ihrer Realisierung eine andere politische Kultur, die die Gefahr, dass Lösungen selbst das Problem sein können, mitdenkt. Dies ist etwas, was auch ich stark berücksichtigen muss und nicht in eine Lösungseuphorie verfallen darf. Fast glaube ich es, in allem, was Adorno sagt, rhetorisch herauszuhören, dass er es für sich zwar nicht expressis verbis verdeutlicht hat, aber in seinen Äußerungen kritisch nach vorne geht, um zugleich wieder relativierend zurückzurudern, da Lösungsansätze immer auch ihr Scheitern dialektisch in sich tragen. Daraufhin zum Beispiel Adornos Vortrag über Kultur und Verwaltung zu untersuchen, ist eine interessante Aufgabe.



Im Dialog mit meinem ask-Freund @Schlagtot findet sich:

"So sehe ich im offenen Individuum eine Grundform, woraus sich andere Formen mäandern. Eigentlich wollte ich etwas über Gosse, Gasse, Straße schreiben." - und hast es hiermit doch getan, wörtlich wie metaphorisch. Ich schulde dir mehr Antworten als die von Ask verschluckten Schulgeschichten?
@Schlagtot

Bevor ich die Antwort an ihn wiedergebe, richte ich meine Aufmerksamkeit auf das "offene Individuum", wobei die Formulierung im Zusammenhang mit der Schule und dem Schulsystem steht. Ich kann mir das "offene Individuum" nur als ein ungeschliffenes, unbehauenes und unbearbeitetes vorstellen, oder von der Seite des Individuums betrachtet, als ein "unangepasstes". Diese Eigenschaft war eine Zeitlang Mode im kritischen Diskurs und ist mittlerweile völlig verschwunden und verstummt. Unangepasst gilt mittlerweile seit Corona als unsolidarisch. Wer sich nicht fügt, stelle eine Gefahr für die Geselschaft dar. Für die gesellschaftlichen machtverhältnisse haben die Ungefügigen immer schon eine Gefahr dargestellt und wurden und werden mit unterschiedlich harten und brutalen Mitteln verfolgt. Nicht immer und überall sind Sanktionen gegen die Ungefügigen, Unangepassten so drastisch wie im gegenwärtigen Iran, aber international streiten sich die Machthaber und deren Diplomaten höchstens um den Grad der Härte und nicht darum, Unangepasstheit überhaupt nicht zu sanktionieren. So gibt es auch kein Land und keine Diplomatie, die sich nicht der Beihilfe zum Mord und Massenmord schuldig machte. «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» ist kaum mehr als eine lächerliche Phrase. Und dies liegt nicht an dem veraltet wirkenden Wort "Proletarier", sondern an der Machtlosigkeit der vielen Menschen in der Gesellschaft gegenüber einigen wenigen Machteliten, wie sie sich auch bilden und zusammensetzen mögen.

In den "westlichen Demokratien" scheint die Freiheit des Individuums noch am meisten geachtet zu werden, was eigentlich isoliert nicht zu beurteilen ist. Die globalen Zusammenhänge und diplomatischen wie wirtschaftlichen Verwicklungen und Rüstungsinterdependenzen können länger nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Und doch bleibt auf der anderen Seite auch eine Kritikwürdigkeit und Hinterfragung der "Protestaktionen" wie die von "Fridays for Future" oder "Last Generation"? Aktivistenideologien, Aktionen können allerdings auch immer kritisiert werden, ohne deren Motivation und Beweggründe in Betracht zu ziehen, was nur dazu dient, das Bestehende zu verteidigen und die Affirmation als Kritik zu tarnen. Ich möchte nicht in die Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Aktionen einsteigen; ich halte diese Form der Diskussion an sich schon für reaktionär und affirmativ. Sie ist völlig machtkonform. Ich möchte den Gedankengängen entrinnen, obwohl natürlich auch Polemik eine gewisse Attraktivität hat: manche Menschen kleben sich aus Protest auf Straßen fest? Oder sie greifen aus Protest Kunstwerke in Museen an? Na und? Andere zerstören auf der Gegenseite kriegerisch ganze Städte, töten Hunderttausende von Menschen oder liefer Waffen und militärisches Know How dafür? Und waren die Felsen nicht heilig, denen die euripiden Einwanderer die Köpfe ihrer Präsidenten eingehauen haben, um ihre Macht und ihre Staatsform vor Augen der Ureinwohner auf ewig zu manifestieren? Wenn es dann aber an ihre eigene Mona Lisa geht, ist das Geschrei groß! Aber ziehen wir lieber einen Gedankenstrich unter die Polemik.

 Gedankenstrich 44

"So sehe ich im offenen Individuum eine Grundform, woraus sich andere Formen mäandern. Eigentlich wollte ich etwas über Gosse, Gasse, Straße schreiben." - und hast es hiermit doch getan, wörtlich wie metaphorisch. Ich schulde dir mehr Antworten als die von Ask verschluckten Schulgeschichten?
Flavorit

4. April 2022

Im Grunde ist eines ganz klar: du schuldest mir natürlich nichts. Deine Bemerkungen, Hinweise, Fragen motivieren mich, bieten Anlass zu Gedankenstrichen und bringen "meine" Kulturphilosophie weiter. Schritt für Schritt. Also bin ich dir für deinen Verbleib auf ask. Natürlich freue ich mich über deine herzlichen Likes und auch über die Münzen, da dies alles für mich eine gewisse Anerkennung signalisiert. Der Diskursraum ist für mich hier sehr eng und natürlich überlege ich, wie ich eine Plattform kreieren könnte, die sich besser und würdiger um Kulturphilosophie bemüht als es hier der Fall ist. Warum also möchte ich, dass du hier bleibst, wenn ich doch selbst am liebsten ginge? Es ist nicht ganz uneigennützig, weil ich mich hier an die Technik und Form gewöhnt habe und schon so viel geschrieben, dass ich sagen kann, die Quote der von ask gelöschten Antworten von mir liegt im Promillebereich. Und du motivierst mich, wie schon erwähnt. Und ich versuche, dir mit guten Antworten entgegenzukommen, soweit es in meiner Macht steht. Ein guter Austausch ist natürlich, wie es auch im Wortsinn steckt, ein Geben und Nehmen. Ich finde die Waage austariert, also schuldest du mir nichts. Eine Antwort auf meine letzte Frage bezüglich "Dark Star", hätte ich gerne von dir gehabt, um nicht gänzlich in meinem hermetischen Zirkel gefangen zu sein. Es gibt einen Witz, in dem der Lehrer Fritzchen abfragt, aber mit seinen Antworten unzufrieden ist, bis es Fritzchen reicht und dieser sagt: "warum fragen Sie mich immer, wenn Sie es sowieso besser wissen?" Recht hat Fritzchen! Wenn ein Lehrer nicht zu einem Mentor metamorphieren kann und sich gar kein Dialog zwischen ihm und den anderen entwickelt, die ich "Schüler" zu nennen, als beleidigend empfinde, dann hat er als Mensch versagt und existiert lediglich als ein Maschinenteil des Apparates. Dialog bedeutet, dass sich beide Teile der Wissenskommunikation in einem Lernprozess befinden. Kinder und Jugendliche haben häufig eigenartige Denkmuster und Gedankengänge und es ist keine kitschige Phrase, wenn man die Chance wahrnimmt, sie wahrzunehmen, statt sie schleifen und gefügig machen zu wollen. Denn was ist schon Wissen außer tradierte Inhalte? Im Wissen wird Wahrheit behauptet, aber es gibt so viel falsches Wissen. Wissen ist letztlich die Behauptung von Sachverhalten und Kenntnis über die Erklärungen, Hypothesen und Thesen. Natürlich wissen wir, dass es den Science-Fiction Film von John Carpenter gibt, in dem ein toter Captn im Gefrierschrank noch Hirnaktovitäten zeigt und den Satz spricht: "Lehre sie (die Bombe) Phänomenologie". Aber was heißt schon Wissen? Ich könnte John Carpenter nicht auf der Straße wiedererkennen. Was ich sagen möchte ist, dass wir kein Lehrer-Schüler-Verhältnis haben und ich von dir nicht eine bestimmte Antwort haben möchte, sondern mich deine Sichtweise interessiert, ob der tote Captn nicht wissentlich einen falschen Tipp gegeben haben könnte, um selbst erlöst zu werden. Was sagst du?

 Gedankenstrich 45

Woher nimmst du das Selbstvertrauen um durch schwierige Phasen im Leben zu kommen? Was gibt dir die Kraft und das Vertrauen? (@XxSuperwomenxX Eponomasie)

9. Juli 2022

Gewiss ist: ich habe mich - ich bin bei mir und muss bei mir bleiben. Ich habe gestern für mein Buch «Uri Bülbül ...und die 40-Thesen...» eine Unterscheidung zwischen «Irrsinn» und «Verrückt» getroffen: Vor ein paar Tagen noch fühlte ich mich etwas bange werden angesichts meiner poetisch-hermeneutischen Überlegungen zu Hölderlin; man darf aber eben nicht im Verrücktsein im Sinne der gesellschaftlichen Normentrückung (=verrückt) dem Irrsinn verfallen. Denn der Irrsinn ist im Unterschied zur Verrücktheit nicht nur eine Normentrückung im Seelischen, sondern ein Ich-Verlust, der auch zur Selbstentfremdung und Selbstaufgabe führt. Man verirrt sich zwischen Überstrukturen (gesellschaftliche Normen und Konventionen), Determiniertheiten (Gesetze, moralische Verhaltensnormen («so etwas gehört sich nicht»; «das darf man doch nicht» Immer mit erhobenem Zeigefinger), Entfremdung, Fremdbestimmung (Ich will nicht zur Arbeit/Schule/Ausbildung, aber ich MUSS), Wut, Aggression, Verzweiflung. Überstrukturiertheit ist mehr als ein geregeltes Leben; natürlich kann es einem auch gut tun, wenn klar gestellt ist, wann wir arbeiten, lernen und wann wir davon befreit sind. Meine Argumente gegen das Schulsystem, gegen die Schule überhaupt, betrifft nicht, die Regelung und Strukturierung des Lernens. Auch nicht die schönen sozialen Kontakte, die man haben kann. Aber das führt ein bisschen weiter weg. Überstrukturierung ist, wenn Individuen das Gefühl erhalten, dass ihnen die Luft zum Atmen genommen wird, dass sie vor lauter Zwängen, gar nicht mehr zu sich selbst und zu ihren Bedürfnissen finden. Wenn sie nicht mal lustlos sind, sondern in den Zwängen zerquetscht am Rande der Depression stehen.Irrsinn entsteht aus Wut, Verzweiflung, Aggression, das Ich verliert die Kontrolle, man rastet sozusagen aus! Dieser Kontrollverlust ist beängstigend für mich! Genau dies passierte wohl wenigstens teilweise dem guten alten Dichter Friedrich Hölderlin. Alles fing eigentlich harmlos für das junge Individuum an: Schule, Ausbildung im Tübinger Stift zum Pfarramt, Studien, heimliche Studien von Immanuel Kant, weil Kants aufklärerische und kritische Schriften im Stift verboten waren und der Württembergische Landesfürst gehorsame Pfarrer ausgebildet sehen wollte. Der Einfluss der französischen Revolution, die Aufbruchstimmung, die die jungen Menschen erfasste und ermunterte und dann die Rebellionen gegen die Laufbahnvorstellungen der Eltern: drei in einer Studierstube: Hölderlin, Hegel und Schelling und keiner will Pfarrer werden und ein gesichertes Leben führen, alle träumen von Freiheit. Das erschien den Konventionellen ziemlich verrückt: Wie ein gesellschaftliches Leben ohne eine gottgewollte Ordnung mit Fürsten und König?!!! Das fanden viele ziemlich verrückt. Hölderlin aber zog los und verzweifelte alsbald, wurde zwangsbehandelt und in die Psychiatrie eingewiesen; wo er sich selbst verlor und ausrastete unter der dortigen Folter. Ich versuche die Lage für mich gut einzuschätzen ;)

 Gedankenstrich 46

Heute hatte ich mir eigentlich vorgenommen, dass der Tag ein SOKRATES-Tag werden sollte, dann aber flossen die ersten Zeilen des Tages in eine philosophische Richtung. Den ganzen Juli schon arbeite ich an der Begründung der neuen Richtung: DIE KYNOSOPHIE °-°

Wenn wir den Menschen, seine Gesellschaft, Politik, Geschichte, Moral, Normen, Individualität verstehen wollen, dürfen wir nicht - können wir nicht! - vom Menschen, seiner Gesellschaft, Politik, Geschichte, Moral, von seinen Normen, seiner Individualität ausgehen. Man braucht dazu einen dem Menschen nahen äußeren wie äußerlichen Punkt: den Hund alias Kynos. Bisher falsch praktiziert und verstanden als Zynismus, was von Kynos, dem Hund, kommt und zu «beißendem Spott» verkommen ist. Nichts gegen intellektuellen Biss, dieser aber darf nicht rationalistischer Scharfsinn ohne Gefühl sein! Der Zynismus verleugnet seinen emotionalen Ursprung - leider.Ich will weg vom Zynismus durch dialektische Aufhebung zur KYNOSOPHIE!Es ist über den Philosophen, der nicht so viel auf das Schrifttum gegeben hat, konsequenter Weise auch nicht so viel bekannt. Anekdoten, Legenden, Setsam- bis Witziges. Darauf wird einzugehen sein, aber zuvor eine sehr gelungene Hinführung zu Diogenes von Sinope, was sich auf youtube befindet und hier als Grundlage für einen Ausgangspunkt zu einer NEUEN Kulturphilosophie dienen kann:



Hans-Georg Gadamer warnt vor Philosophen, die nach Definitionen suchen. Die Warnung im Ohr unternehme ich einen Definitionsversuch, nicht um eine Vorschrift und Norm zu kreieren, sondern Klarheit in meine Ausdrucks- und Denkweise zu bringen, was Verständnis und Selbstverständnis erleichtern kann. Das Genus Proximum der Kynosophie ist Philosophie; doch während die Philosophie neben der Weisheit die Liebe enthält und damit mit zwei Unbekannten und schwer begreifbaren Inhalten operiert, kann man über die Kynosophie sagen: sie ist eine Philosophie, die die Weisheit der Hunde zur Erkenntnisgewinnung für den Menschen heranzieht oder über Verhalten und Eigenschaften von Hunden und in der Aktion von Hund und Mensch zu allgemeinen und lebensphilosophischen Erkenntissen über und für den Menschen zu gelangen versucht. So kann der Hund zum Maß vieler Dinge gemacht werden, um Vitalität und das Leben neu zu vermessen. Das also ist mit "Kynosophie" gemeint: diejenige philosophische Praxis, die zu Erkenntnissen über den Weg der Betrachtung von Hund und Mensch im Leben zu Erkenntnissen über den Menschen zu gelangen versucht. Da sie aber selbst eine Philosophie ist, geht der Mensch dem Hund voraus. Das ist auch kulturhistorisch nicht weiter verwunderlich, da der Hund ein Kulturprodukt ist und sich aus der Domestizierung von Wölfen entwickelt hat, wie man gemeinhin zu wissen annimmt. Die Kynosophie stellt das nicht in Frage. Ganz im gegenteil basiert sie auf der Annahme des Hundes als Kultur- und Zivilisationsprodukt. Was den Hund besonders interessant für die Philosophie macht und die Kynosophie begründet ist, dass kein anderes Tier so sehr Interaktion und psychische Symbiose mit dem Menschen sucht und braucht wie der Hund. Ich habe einen längeren Text zu KYNOSOPHIE begonnen, aber noch nicht veröffentlicht.

 Gedankenstrich 47

Die philosophischen Grundfragen dürfen, ja MÜSSEN, heute andere sein als die vergangener Zeiten. Das ewige Wiederkäuen der Philosophiegeschichte bringt den Menschen nicht aus seiner Antiquiertheit in die zivilisatorische Gegenwart mit all ihren Gefahren, Zerstörungen und dem Zerstörungspotential! Nicht muss gefragt werden: was ist das Leben? Sondern: wie wollen wir leben? Was ist «richtiges», was ist «falsches» Leben und wie verhalten sich richtiges und falsches Leben zueinander? Also wäre hier Adorno etwas umformuliert: es gibt kein richtiges Leben im falschen. Und es muss ausgelotet werden, was unter «richtig» und «falsch» verstanden werden kann. Die Philosophie darf sich hinter ihrer Geschichte und hinter der Editionskunst nicht mehr verschanzen, wenn sie eine Wissenschaft sein will - sie muss mit ihrem Begriff so mutig der Wissenschaft vorangehen, dass nicht der Begriff der Wissenschaft das philosophische Handeln bestimmt, sondern die Philosophie das wissenschaftliche Handeln. Eine wertfreie Wissenschaft ist ebenso keine Wissenschaft wie eine bevormundete. Wenn sich die Philosophie der Wissenschaft voranstellt, wird sie im neuen Sinne selbst zur Wissenschaft und bevormundet nicht, sondern ist selbst ihr Ganzes. Eine Explikation: Wittgenstein sagt, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache und bringt das Beispiel von einem Gespräch: A sagt zu B: Bring den Kindern ein Spiel bei! Und B bringt den Kindern das Pokern bei und A sagt daraufhin: So habe ich das nicht gemeint! Schauen wir uns die obigen Sätze an: Der Begriff der Wissenschaft wandelt sich von Aussage zu Aussage. Nur mit der Wittgensteinschen Erkenntnis sind die oberen Sätze verstehbar. Mit der «Wissenschaft, der die Philosophie vorangehen muss» ist der Positivismus und das naturwissenschaftliche Methodendiktat gemeint. Wenn die Philosophie eine Wissenschaft sein will, muss sie sich von diesem Methodendiktat befreien, es genügt nicht, überprüfbare und gut gesicherte philosophiegeschichtliche Editionsarbeit zu leisten. «Es genügt nicht» muss für das Verständnis ernst genommen werden: es kann nicht sein, dass man gute Editionsarbeit nicht mehr als Wissenschaft wertschätzen soll! Aber die Philosophie muss weitergehen, um Wissenschaft zu werden. Dieser Wissenschaftsbegriff ist aber ein anderer als ein naturwissenschaftlich-positivistischer! Auch ein anderer als ein philosophiehistorischer. Die Philosophiehistorie ist eher ein latenter Versuch oder ein latenter Zwang, sich auf Autoritäten zu berufen. Die versteckte Frage lautet also: «Wer hat das gesagt? Woher nimmst du das? Wen zitierst du?» Ich zitiere niemanden. Ich wende aber methodisch Hegel und Wittgenstein an - betreibe so etwas wie eine sprachanalytische Dialektik. Die Frage lautet: Was meinen wir, wenn wir "Wissenschaft" sagen? Und wenn gesagt wird, dass die Philosophie, um Wissenschaft zu werden, sich nicht hinter Geschichte und Editionskunst verstecken darf, dann greifen wir idealiter zu einem neuen Wissenschaftsbegriff, der weder mit Hermeneutik, noch mit Strukturalismus, Diskurstheorie oder szientistischem Positivismus (aus der Naturwissenschaft kommend) deckungsgleich ist. Und das bedeutet natürlich nicht, dass es keine Schnittmengen geben darf. Das wäre absurd.

 Gedankenstrich 48

Nichts ist unsäglicher und gefährlicher als den Ist-Zustand des gegenwärtigen Wissensbestandes der Wissenschaften zur alleinigen Erkenntnis- und Wahrheitsquelle zu erheben. Insbesondere die Politik, die ja im optimalen Fall eine praktizierte Philosophie des Lebens wäre, müsste weit über die Wissenschaft hinausdenken; immer den Heraklitschen Satz vor Augen: Vielwisserei macht noch keinen Verstand; aber genau auf den Verstand, der biblisch gesprochen Weisheit hat, kommt es in der Politik an. Leider muss man angesichts der gegenwärtigen Politokratie eher sagen: käme es an!

Die Frage, wie Politik betrieben werden müsste, um zum Wohle aller zu sein, ist eine schwerwiegende Frage, aber kein theoretisch unlösbares Problem. Das Unlösbare entsteht in der Praxis, worauf noch einzugehen sein wird. Allem vorangestellt sollte sein, ein humanistisches Verständnis von Demokratie - wir können von «demokratischem Humanismus» sprechen oder von «humanistischer Demokratie». Damit wäre eigentlich nur expliziert, was dem Demokratie-Verständnis historisch wie logisch vorangegangen ist: die allgemeinen Menschenrechte. Und diese allgemeinen Menschenrechte begründen klassischer Weise den Humanismus. Neueren Gedanken zufolge sollten aber auch die «allgemeinen Menschenrechte» in einem neuen Licht betrachtet und um den Aspekt des Mensch-Natur-Verhältnisses erweitert werden. Im Grunde ist dagegen nichts einzuwenden. Ich halte dies für eine gut und womöglich notwendiger Weise zu explizierende aber in den allgemeinen Menschenrechten, in Humanismus und Demokratie implizit vorhandene Angelegenheit. Mit dieser Bemerkung soll nichts mit denjenigen zum Streit und Widerspruch führen, die gerne ökologische und Tierrechte in demokratischen Verfassungen expressis verbis verankert sehen möchten. Ich bin gedanklich wie herzlich bei diesen Menschen und hoffe, mit meiner Ausführung ihrem Anliegen positiv etwas beitragen zu können.

Gedankenstriche 49 bis 60
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
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