Das ÄSTHETIKUM
Während ich den Gedankenstrich 61 überarbeite, erreicht mich per Mail die Vollmond-Info von vollmond.info:
Im holistischen Denken spielt die Bedeutung, Größe, Gewicht eines Gedankens, eines Werkes, einer persönlichen Kreation keine Rolle. Die Dinge entwickeln sich und entwickeln auch ihre eigene Bedeutung und Größe, was nicht teleologisch zu planen ist. Wie gerufen fast, kommt da die o.g. Vollmondinfo:
Müssen wir Großes erschaffen in diesem Leben? Gibt es etwas in uns, das uns vermittelt, dass es bedeutungsvoll und weitreichend sein muss, was wir vollbringen oder wer wir zu sein haben? Scheitern wir nicht immer wieder daran und stellen dann fest, wie relativ klein und vielleicht sogar bedeutungslos unsere Taten und Gedanken sind angesichts der Größe, die uns in der Welt begegnet? Vielleicht kann es hilfreich sein, sich einzugestehen, wie wenig wir in Wirklichkeit darüber wissen, was wichtig oder unwichtig, groß oder klein, gut oder schlecht ist in der Welt und somit auch in uns. Wenn man sich von dem Anspruch befreit, dies beurteilen zu können, kann die Erfahrung der eigenen Kleinheit ganz entlastend und sogar vergnüglich sein. Und letztlich ist Größe in allem enthalten, was uns lebendig sein lässt...
Ich möchte mich mit diesem Gedanken ein wenig auseinandersetzen: Müssen wir Großes erschaffen in diesem Leben?
Im Grunde beantwortet der Text diese Frage: wir müssen nicht immerzu in der Absicht leben und handeln, etwas Großes zu erschaffen. Denn können wir zweckrational und teleologisch wissen, was große Wirkung entfalten wird wie ein Schmetterlingseffekt und was großartig gedacht und geplant in der Versenkung verschwindet? Nein, das Große im Lebendigen liegt nicht im teleologischen Horizont. Mir widerstrebte die Nachricht im ersten Moment des Lesens. Relikte bürgerlichen Empfindens reagierten zuerst: Immer mehr, immer weiter, immer größer, immer reicher! Aber ja doch! Natürlich etwas Großes schaffen! Sollen wir etwa in Verzagtheit und Stagnation ohne Wachstum vor uns hin dümpeln? Aber dann kam ich an den Satz: «Vielleicht kann es hilfreich sein, sich einzugestehen, wie wenig wir in Wirklichkeit darüber wissen, was wichtig oder unwichtig, groß oder klein, gut oder schlecht ist in der Welt». Die Bescheidenheit fängt in der Skepsis gegenüber der Sicherheit an, die uns Konventionen als objektiven Erfolg vermitteln. Jedes lebendige Wesen trägt das Maß, nach dem es gemessen werden will, in sich, ist an vielen Stellen hörbar und lesbar. Aber wie ernst wird diese Aussage in der gesellschaftlichen Realität genommen? Von Kindesbeinen an werden wir darauf getrimmt, uns mit anderen zu vergleichen, zu messen, gegeneinander zu konkurrieren nach objektiven Maßstäben. Das geht so weit, dass wir dies voll und ganz verinnerlichen. Das erschwert gewiss die sichere Trennung von innerlich und äußerlich. Die Verinnerlichung des Äußerlichen kann bis zur völligen Selbstaufgabe betrieben werden.
Und im Grunde changiert auch der Ton der Vollmond-Botschaft zwischen Objektivität der Größen und deren lebendiger Relativität. Scheitern wir nicht immer wieder daran und stellen dann fest, wie relativ klein und vielleicht sogar bedeutungslos unsere Taten und Gedanken sind angesichts der Größe, die uns in der Welt begegnet? Wir scheitern an den falschen Einschätzungen, Erwartungen und Zielsetzungen - diese erst definieren Scheitern überhaupt. Es gibt zwar eine objektive Größe der Welt dem Subjekt gegenüber und auch sind Subjekte unterschiedlich gewichtet und platziert, aber wenn wir den Maß-Satz ernst nehmen und das sollten wir konsequent, spielt der Vergleich mit anderen überhaupt keine Rolle. Das Subjekt kann seine Inkommensurabilität realisieren und seine eigene vitale Stärke daraus ziehen. Der Schmetterling mit dem berühmten Flügelschlag wird kein Löwe sein und auch werden. Aber wo muss er sich mit einem Löwen vergleichen? Und was sollte er aus diesem Vergleich gewinnen? Wichtig ist für ihn Lebendigkeit, Vitalität. Das gilt auch für den Löwen: es kann ihn nicht trösten, stärken, ihm hilfreich sein, zu wissen, dass es Schmetterlinge und ganz viele andere Tiere gibt, die nicht seine Kraft in Muskeln und im Kiefer haben.
Ich stelle mir Hölderlin vor: an welchem Punkt seines Lebens hätte ihm diese Aussage helfen können? Schließlich muss uns doch bewusst sein, dass der Verlust der Geliebten, nicht eine Abwendung von ihm war, sondern ihr Tod. Sie hat ihr Herz nicht an die gesellschaftliche Konvention und an den monetären Reichtum ihres Ehemannes gegeben, sondern dem Dichter und seinen Ideen. Ihre Kraft reichte nicht aus, sich eine eigene vitale Welt und Lebensform zu schaffen und gemeinsam zu leben. Hätten sie für sich gemeinsam einen Weg finden können, wenn sie den Weisheiten eines vitalistischen Holismus gefolgt wären? Susette Gontards Tod jedenfalls war ein unumstößlicher Fall in Hölderlins Leben und natürlich das Ende des Lebens von Susette Gontard. Ich spreche hier vom «unumstößlichen Fall», nicht vom «Scheitern», nicht von «Tatsache», nicht von «Faktum».
Am liebsten aber würde ich in diesem Zusammenhang den Ausdruck und Begriff des «Zufalls» einführen, verstanden im Sinne von Ereignissen, die einem zufallen, wie zustoßen! Man kann sie nicht vorhersehen, nicht vermeiden, nicht planen! Das Leben hat diese Zufälle. Sie stoßen uns zu und wir müssen lernen, mit ihnen zu leben und diese geistig wie seelisch zu verarbeiten. Wir müssen groß genug sein, sie zu verdauen - das ist die subjektive Größe des Individuums. Und auch hier vermeide ich gerne Begriffe wie «Schicksal» oder «Schicksalsschlag». Ich finde «Zufall» weitaus passender.
|
|