Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 


Uri @Klugdiarrhoe

Dürfen Männer BHs tragen?

Ich bin für die freiheitlich demokratische Grundidee. Offiziell lautet die Wendung immer noch: "freiheitlich demokratische Grundordnung". Mag sein, dass mal etwas mit ernsthaftem Willen nach dem zweiten Weltkrieg ordentlich eingerichtet wurde. Ich will es einmal dahingestellt sein, weil ich einen für mich biographisch wichtigen erfrischenden Luftzug im Jahre 1971 selbst verspürte. Dieses Biographische und Subjektive ist sehr wichtig, zu erwähnen, denn nur dann verstehe ich selbst und hoffe, dass ich es auch anderen verständlich machen kann, was sich in meiner seelisch-geistigen Innenwelt abgespielt hat.

Aber hier noch ein kleiner Einschub zuvor: Meine Affirmation und mein Mantra sollen sein: Lass die Vergangenheit los! Lass deine Zweifel und Blockaden fahren, konzentriere dich auf dein Hier und Jetzt! Und achte auf Folgendes: «Lass alles, was du heute tust, genug sein. Lass dein Urteil darüber los, was du tun "solltest" oder "könntest", und erlaube dir heute, einfach zu sein.» Das ist ein großes und großartiges Mantra! Wenn man das realisiert, hat man einen großen Transformationsschritt getan und sich der inneren Freiheit ein gutes Stück genähert. Einmal durchatmen und sagen: Ich bin ich! Hier und Jetzt! Und das ist gut so!

Ich habe 1971 nichts davon geahnt, oder aber vielleicht eben doch! Der Mensch kann sich jeden Tag transformieren und entwickeln, entfalten und Freiheit erspüren. Er kann aber auch im Sumpf des Alten ersticken und kaputt gehen und oft ist es so, dass man bis zum Hals im Sumpf einfach steckenbleibt und darin lebt - nicht frei wird und auch nicht kaputt geht. Und manche schaffen es aus dem Sumpf und schleppen an sich den ganzen Schlamm und Dreck aus dem Sumpf und verteilen es, wohin sie gehen und treten.

Das alles ist möglich.

Reflektiere dich und suche, was noch alles möglich ist.

Aber kommen wir auf das Jahr 1971 zurück: ich wanderte mit meinen Eltern aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland der frühen Nach-68er Jahre ein; die Hippie-Bewegung war nicht verklungen und es war noch die Zeit der Sozialliberalen Koalition mit Willy Brandt als Bundeskanzler, die Guillaume-Affäre hatte sich noch nicht ereignet; diese kam erst drei Jahre später. Auch meine eigene Pubertät hatte noch nicht eingesetzt; ich war noch Grundschulkind und atmete eine Luft ein, deren Duft mich tief prägte: der Duft des Liberalismus, der sozialen und kulturellen Reformen, die Diskussionen um den §218 (des Strafgesetzbuches, was die Abtreibung unter Strafe stellte). Ich kam aus einer autoritären, moralisch wie staatlich streng reglementierten Gesellschaft und sog den Duft der Freiheit, der hier als ein feines Lüftchen wehte, tief in mich ein.Und es war erst Theorie, wenn auch eine wichtige, dass es hier den Faschismus gegeben hatte, er nicht ganz überwunden war und Nazis noch in Amt und Würden saßen. Als Filbinger in Ba-Wü zurücktreten musste, war ich noch Kind, für mich war Freiheit real erlebbar. Ich hätte zwar nicht gewusst, warum Männer BHs tragen sollten, wenn sie doch gar keine schweren Brüste haben, die formschön getragen werden müssten, aber ich hätte auch ebenso nicht gewusst und auch nicht wissen wollen, warum sie es nicht dürfen sollten, wenn sie es denn unbedingt wollten!

Was mich viel mehr interessierte, waren lange Haare. Ich kam aus einer Gesellschaft, in der Jungs kurze Haare tragen mussten und erlebte nun, dass es auch anders ging. Und ich wollte es anders. Man durfte soger mit langen Haaren und ohne Schuluniform in die Schule. Das war etwas Wunderbares! Das war der Duft von Freiheit. Man konnte eine eigene Meinung haben, man konnte mit Lehrerinnen und Lehrern diskutieren, man konnte die Gesellschaft, in der man nun lebte kritisieren, auf ihre schlimme Vergangenheit aufmerksam machen und Schritt für Schritt mit eigenen Gedanken- und Meinungsexperimenten heranwachsen, ohne gemaßregelt zu werden. Lehrer konnten andere Meinungen haben, sie konnten auch meine Meinung dumm und lächerlich oder einfach nur falsch finden, aber sie konnten mich deswegen nicht bestrafen. Dieses Gefühl, dieser Duft des Antiautoritarismus durchzog mein Leben bis 1989. Später verflüchtigte er sich nicht, sondern verwandelte sich in eine große und immer wieder und immer neu zu artikulierende Sehnsucht und Idee bei allem wachsenden Problembewusstsein, bis zu dem Punkt nun, da ich weiß, dass die demokratische Ordnung nicht in Ordnung ist und erst recht nicht demokratisch und an der Freiheitsschraube immer fester gedreht wird und Freiheiten verloren gehen. Das Thema ist nicht abgefrühstückt und wird mich wahrscheinlich bis an mein Lebensende begleiten. Aber es lohnt sich, wie sich die Frage lohnt: Wer sollte und wer wollte es Männern verbieten, BHs zu tragen? Die Kleiderordnung wird an anderen Stellen reglementiert und Freiheit tatsächlich beschnitten: ich erinnere da an die Debatten über das Kopftuchverbot. Das erinnert mich zu sehr an die autoritäre Türkei, aus der ich in den 70ern in die Bundesrepublik kam. Damals war die kemalistische Moderne so zwanghaft den Menschen aufoktroyiert, dass in Ämtern arbeitende Frauen kein Kopftuch tragen durften. Ebenso, wie man mit langen Haaren als Junge nicht in die Schule durfte. Nein! Staat und Gesellschaft haben sich dem Individuum und dessen Persönlichkeit gegenüber respektvoll zu verhalten - persönliche Freiheit ist übergeordnet. So (mein) demokratisches Ideal! Realiter aber wird Freiheit immer mehr eingeschränkt kontinuierlich seit Willy Brandts Abdanken als Bundeskanzler, was der Guillaume-Affäre zu verdanken war - damit scheiterte das Mehr-Demokratie-Wagen und das historische Pendel schlug wieder um Richtung Autoritarismus. Ab den 90ern übertüncht und überspielt mit Konsumrausch, Videogaming und privaten Mediensendern.
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
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