Ich bin mit den Nachbereitungen des Schülerworkshops «Hölle, Hass und Helden» beschäftigt.
Eigentlich war das längst fällig, bedurfte aber auch der Zeit und der Ruhe - mit einem Wort
der Muße. Es ist erstaunlich, wieviel Kraft und Zeit durch Gespräche, Planungen und wieder
Gespräche verpuffen. Und nicht minder erstaunlich finde ich es, wieviel Muße es tatsächlich bedarf, sich
einer kulturellen Arbeit hinzugeben. Man benötigt immer neben der Zeit, die dem tatsächlichen
Arbeitsaufwand entspricht noch Zeit für eine entspannende Vorlaufsphase, damit man sich auf die
kulturelle Tätigkeit konzentrieren kann, und für eine entsprechende Begleitphase, in der man auch
Nebengedanken und weitere Ideen entwickeln kann. Die Heuristik kulturellen Schaffens ist nicht ganz
unverwickelt. Ein einfaches Ich-setze-mich-an-den-Laptop funktioniert überhaupt nicht.
Man
muss nicht nur ablenkende Gedanken und äußere Ablenkungen ausschalten lernen wie zum Beispiel die
einfachste und zugleich furchtbarste Ablenkung, nämlich das Handy, man muss auch innerlich so
entspannen, dass Ideen Raum finden zu entstehen. Sie kommen bestimmt nicht, wenn man verkrampft auf sie
wartet, oder wenn man wie ein Fließbandarbeiter darauf angewiesen ist, dass die Bauelemente vor
einen kommen, die man dann zusammenfügen, schrauben oder sonstwie bearbeiten muss.
Die
schwierigste und zugleich unabdingbare Bedingung des kulturellen und erst recht des kreativen
Arbeitens ist, sich zu entspannen. Erst die Muße zieht die Musen an. Aber genau das ist in einem
gewissen Arbeitsethos völlig verpönt: Die Muße gilt darin als aller Laster Anfang. Im Wesentlichen
ist dies kunst- und kulturfeindlich. Ausgesprochen und klar verbalisiert, scheint das Phänomen
schier nicht mehr zu existieren. Ja, klar, neigt man zu sagen, das weiß doch jeder. Und sicher braucht
die Kunst die Muße. In Wirklichkeit aber steht ein ganz großes Aber davor und dahinter, bildet eine
Käseglocke, unter der die Kreativität erstickt. Es ist ein heuristischer Mord, der geplant und gezielt
an der Kreativität verübt wird. Der Alltag drängt in Gestalt von Verwaltung und Konsumzwang unter
dem Druck, das eigene persönliche Leben zu reproduzieren, Kunst und Kultur ins Außeralltägliche.
Zugleich stellt er sich als das Primäre auf und versetzt somit den Musen den Todesstoß.
Erst kommt der Alltag, dann die Kunst, erst kommt das Fressen, dann die Moral - so das Dogma.
Vergessen wird aber, dass selbst die Formulierung mit Fressen und Moral ein Kunstprodukt ist.
Ebenso bleibt unberücksichtigt, dass ein Alltag ohne Ästhetik und Moral ein Alltag der Barbarei
wäre und dass zu jedem Handeln kulturelle Bildung gehört, wie zu jedem Feuer die Sauerstoffzufuhr.
Eine Gesellschaft, die Kunst und Kultur aus ihrem Alltag drängt, schaufelt sich selbst das
Grab. Doch selbst Kulturverwaltung und Kultureinrichtungen ächzen unter der Last des Alltags,
unter vermeintlichen Notwendigkeiten und subordinieren die Kunst diesen vermeintlichen Notwendigkeiten, obwohl
gerade sie zum Schutze und zur Förderung der Musen eingerichtet wurden.
Eine produktive, kreative Arbeit, die nicht utilitaristisch zweckgerichtet ist, erscheint als ein
nicht ernst zu nehmendes Spiel, als reines Vergnügen und daher wertlos, obwohl gerade diese
Gesellschaft auch beim Vergnügen Steuern erhebt. Im Grunde aber geht es in dieser Praxis mehr oder
weniger bewusst darum, das kritische Potential der Musen gegenüber dem Archaischen und Spontanen
zu bändigen, damit Menschen mit logischen Fehlern und Kurzschlüssen, Vorurteilen und spontanen
Fehlentscheidungen und Aggressionen ausgenutzt werden können.
Verfeinerung der Sinne und des Geistes, die Kultivierung menschlicher Gefühle, sperrt sich
häufig menschenverachtender Aggression und Vorurteile. Dies aber ist keineswegs jenes gesellschaftliche
Klima, das erwünscht und angestrebt ist, wenn es um das freie Spiel ökonomischer Kräfte geht. Beim
Auswerten der Schülervideos ist es ein Genuss zu sehen, mit wieviel Spaß die Jugendlichen
Orientierung in ihren Werten suchen und diesen einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen bemüht
sind. Und es ist traurig zu sehen, wie Klischee behaftet ihre Handlungen sind. Kulturelle Bildung ist aber
auch ein sich Befreien aus Klischees durch ästhetisches Handeln, spielerisches Ausprobieren, Darstellen
und Reflektieren der Darstellungen. Drei, vier Tage Workshop sind da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Während mein drei Jahre altes Experiment, von dem ich mir sehr viel versprach, einfach nur ruht
und kurz vor dem Abschluss stehen geblieben ist, nachdem ich an die 300 Seiten über «Bedingung & Möglichkeit»
der Kulturalität geschrieben habe, woran auch Salomé Klein und Jo Ziegler mitgewirkt haben; kann ich
nun nicht ohne stolz vermelden, dass ein anderes literarisches Experiment kontinuierlich weiter geht:
SOKRATES - Der kafkASKe Fortsetzungsroman. Die 81. Folge ist nun auf
ask.fm/Klugdiarrhoe erschienen
und kann hier als Fließtext aller erschienenen
Folgen heruntergeladen werden. Nicht nur Profile aus ask.fm und Personen, die ich darüber
kennen gelernt habe, finden sich in dem Roman, sondern auch Menschen aus meinem realen Umfeld
finden Einzug in den Roman, so dass nicht alle handelnden Personen fiktiv sind, sondern sich
Fiktion und Realität vermischen. Ähnlichkeiten mit realen lebenden Personen sind also nicht zufällig.
Aber immer mit ihrem Einverständnis und nicht ohne ihr Wissen.