Es gab nicht wenige Menschen, die mir ein Verzetteln in meinen Ideen und Vorhaben
prophezeiten. Wahrscheinlich gehörte keine große hellseherische Kunst dazu, dies
zu erahnen. Aber was heißt schon "verzetteln"? Wer bin ich und wohin will ich?
Wenn ich meinen Blick zurück richte auf mein bisheriges Leben, sehe ich keine
Stellwerke, an denen ich hätte eine andere Weichenstellung vornehmen wollen. Wahrscheinlich
ist genau das der Kasus knacktus: wenn ich es wirklich gewollt hätte, hätte ich es
doch tun können, nicht wahr?
Von dem Wunsch beseelt, womöglich gar besessen, schreibend und philosophierend durchs
Leben zu gehen, habe ich in der Tat bis nun zu meinem 50. Lebensjahr nichts anderes
getan. Die eine oder andere bürgerliche Haltestelle habe ich dabei in der Tat verpasst.
Aber nicht zuletzt deshalb, weil ich nicht aussteigen wollte aus meinem
Lebenstraumzug. Während mich nun die Jahre immer mehr ins immer Weniger verrasseln, um
es mal mit Wolf Biermann auszudrücken, den ich für einen genialen Lyriker halte,
gilt es nicht nur Bilanz zu ziehen, sondern für einen waghalsigen Endspurt die
Vorbereitungen zu treffen, bevor das unausweichliche Schicksal mich trifft.
Das 50. Jahr ist ein Jahr des memento mori, ein gutes Jahr, solange die
Kräfte in mir wohnen, die mich noch vorantreiben können. Schließlich möchte ich
noch einiges schaffen, bevor ich den Löffel abgebe, auch wenn es um die
große existenzialistische Frage nach dem Sinn äußerst schlecht bestellt ist :-(
Aber um den Flügelschlag des Schmetterlings aus der Chaostheorie möchte ich mich
nun nicht bringen durch irgendwelche Zweifel, so berechtigt sie auch sein mögen.
Also gibt es einen Überblick über die intendierten, angefangenen und bis zu
einem gewissen Reifegrad vorangetriebenen Projekte in meinem Leben. Sie waren
immer das Ergebnis eines Zusammenwirkens mit anderen Menschen, weshalb ich mit
großer Sicherheit und Vehemenz behaupten will, dass das Schaffen und Erschaffen
des Menschen immer ein sozialer Akt ist und wir den Charakter des Subjekts
ganz wesentlich verkennen, wenn wir es in seiner Kreativität als eine
solipsistische Entität denken. Das große Stichwort ist hierbei wohl das
schöpferische Individuum, das durch den deutschen Bildungsidealismus
gymnasialer Schulung in die Irre geleitet ich den Fehler machte, von seiner Vereinzelung
aus zu denken.
Nichts aber, was in mir entstanden ist, ist in meiner solipsistischen Einsamkeit
entstanden. Verwoben war ich mit dem Bildungskanon, mit den unzähligen Autoren,
die mir Worte und Ideen einhauchten, Irrtümer und Einsichten, verwoben war ich mit
den Menschen, die mich umgaben und mit mir oder gegen mich diskutierten, etliche
Einwürfe, Einwände, Vorwürfe oder Vorschläge machten. Mit Menschen, die ihren Teil
zu den Projekten beitrugen, sei es graphisch, technisch oder rein ideell. Kurz:
niemals war ich ein einsames, vor sich hin, aus sich herausschöpfendes Individuum.
Vielmehr befand ich mich immer in einem kommunikativen Vielerlei von Beziehungen,
ganz gleich, ob sie freundschaftlich oder feindselig gemeint waren, ganz gleich,
ob sie zur Unterstützung oder als Konkurrenz gedacht waren - sie alle prägten
meine Arbeit, mein Denken, meine Ideen, mein Handeln. Und alles andere wäre
auch völlig unfruchtbar gewesen.
Natürlich gibt es auch mich als Individuum, als eines, das der Stille bedarf, der
äußeren Ruhe, als eines, das in sich hineinhorchen muss und sich konzentrieren.
Als eines, das sich an die anderen erinnert oder das widerwillen erinnert wird.
Dieses Netz der Diskurse, der Stimmen und Erlebnisse ist die Emanationsquelle
all der Projekte, die mich umgetrieben haben.
Schon mit dem Schreibhaus wandte ich mich gegen die Vorstellung eines
einsamen Autorengenies. Die Welt des Creative Writing hingegen reduzierte den Diskurs auf
vermittelbare Techniken und erstickte Literarizität in einem oberflächlichen
Betrieb blöder Effekthascherei. Nun ist die Szene voll von Kreativgurus und
BOD-generierten Textverfassern, die sich für Autoren halten. Auf der Strecke
geblieben ist dabei eine literarisch-ästhetische Bildung zugunsten einer
kritikimmunen Schriftstellerei der unteren Mittelklasse.
Der konservative Literaturbetrieb, der auf das
romantische, in seiner Einsamkeit aus sich heraus schöpfende Autorengenie
setzt und Kreativität weder für diskutierbar, noch erlernbar oder vermittelbar
hält, hat nur ein Naserümpfen für das andere Feld übrig. Sonderlich kommunikativ
und dem literarischen Diskurs förderlich ist diese Haltung nicht. Neue Medien
und Methoden werden ebeso von oben herab ignoriert wie ehrlich gemeinte Kriteriensuche.
Das etablierte Verlagswesen schottet sich ab, schreibt Standardbriefe zur Ablehnung
eingereichter Manuskripte und verweigert jedes Gespräch, jede Auseinandersetzung
mit Autoren, die um Aufnahme ins Verlagsprogramm ersuchen.
Der Deutschunterricht der Schulen ist gelinde gesagt verkalkt; ein seit Jahrzehnten
veralteter Lehrkanon hat mit der Entwicklung des Mediums Literatur im 21. Jahrhundert
gar nichts zu tun. Ebenso vermag die Literaturwissenschaft schon längst nicht mehr
den Kriteriendiskurs zu führen, was Literatur im Allgemeinen und gute Literatur im
Besonderen ausmachen könnte. Wichtig ist nicht, dass man normativ und ein für allemal
Urteile fällt. Das wäre ganz im Gegenteil völlig falsch. Aber sich eines jeden Urteils
zu enthalten und sich in eine pseudowissenschaftlich beredte Schweigsamkeit über
Literatur zurückzuziehen, kann auf gar keinen Fall eine akzeptable Lösung sein.
Ebenso wenig wie ein pseudowissendes arrogantes Naserümpfen.
Gerne hätte ich im Schreibhaus einen Ort geschaffen,
in dem all diese komplexen Fragen aufgegriffen und diskutiert werden können. Bisher
hat das Schreibhaus ein solches Niveau nicht
annähernd erreicht. Was schief gelaufen und ob noch etwas zu retten ist, werde ich mit
einigen Menschen zu diskutieren versuchen.
Wichtiger aber ist die Tatsache, dass es einen neuen Ort gibt, an dem solche Fragen der
Literatur und literarischen Kreativität auf einer ganz anderen und höheren Ebene diskutiert
werden könnten: Die KulturAkademie-Ruhr des Katakomben-Theaters, die für eine
Kulturphilosophie des empathischen Sensualismus steht und Kunstschaffen im Allgemeinen
aus den Fängen des Rationalismus befreien möchte und könnte. Während das Schreibhaus
in einem anderen personellen Kontext stand, der auch schon zerbröckelt ist, bietet
die KulturAkademie-Ruhr ganz neue Vernetzungen. Eine Chance, die nur bei sorgfältiger
Arbeit und mit großer Konzentration genutzt werden könnte. Dabei aber wäre die
KulturLaube ein schöner, sehr lebendiger Ort - eben der Grüne Zweig der KulturAkademie-Ruhr
des Katakomben-Theaters in Essen. Ideen und Vernetzungen können in einer Metropole
nicht an Stadtgrenzen Halt machen.
Aus dem Schreibhaus positiv erwachsen ist jedenfalls
das Textzentrum
im Girardet Haus.
Seine Entstehung
geht auf die Kooperation mit dem Katakomben-Theater im Jahr 2005 zurück. In der Sommerpause
des Theaters begaben sich Schreibhaus-Autoren zu «Literatur.geortet zum Schreiben in die
Welt hinaus» in das Theater und es entstand das Buch
«Literatur.geortet Feuer im Foyer.» Literatur.geortet zum Schreiben in die Welt
hinaus war die Idee meiner Weggefährtin und Mitstreiterin Karin Kress, wie einst die Maler
mit ihrer Staffelei in die Welt hinauszogen und in der freien Natur malten und sich
inspirieren ließen, so wollte Karin mit der Literatur verfahren. Durch die Kooperation
mit meinem Freund Kazım Çalışgan, der frisch die Leitung des Theaters im Girardet Haus
übernommen hatte, zogen wir nicht nur in die Welt hinaus, wie zum Beispiel in den
Botanischen Garten der Ruhr-Universität Bochum, sondern auch in das Katakomben-Theater.
Karin Kress sah darin ihre Idee ein wenig instrumentalisiert. Das Theater aber entfachte
in jedem von uns Mitwirkenden ein Feuer. Und später wollten wir diese Zusammenarbeit
fortsetzen und verfestigen, weshalb wir das Textzentrum gründeten. Karin Kress ging andere
Wege. Während das Girardet Haus einen einmaligen Raum für Literatur schuf, was seitdem
mir als Heimatort meiner Arbeit und für zahlreiche Treffen und Veranstaltungen diente und
noch dient.
Zwischen 2007 und 2012 waren auch die Unterlagen des Bundesverbandes Studentische Kulturarbeit
e.V. hier archiviert und standen zur Einsicht bereit. Sommer 2012 sind sie allerdings
ins Lager gewandert, weil sich eine sinnvolle Archivarbeit nicht entwickelte. Endgültig
abgeschlossen ist dieses Thema aber auch noch nicht. Offiziell bin ich noch im Vorstand
dieses Verbandes, der eine lange Tradition hat und sehr interessante und aktive Phasen
durchlebte, nun aber kurz vor dem Verfall steht, wenn nicht noch ein Wunder geschieht.
Er erinnert mich an denkmalgeschützte Häuser, die vor sich hin verrotten, weil kein
Sanierungskonzept so recht greifen mag. Einen Versuch aber möchte ich noch unternehmen,
indem ich die denkmalgeschützten Ideen und historischen Aktivitäten des BSK e.V. mit
der neugegründeten KulturAkademie-Ruhr
kurzschließe. Archiv trifft Kreativität könnte das Motto
dieser Verlinkung werden. Noch im vergangenen Jahr gab es eine größere Scanaktion zur
elektronischen Erfassung der Dokumente des Bundesverbandes im
Textzentrum. Die Arbeit
beruht auf Ehrenamt und ist auf die Mitwirkung von Freiwilligen angewiesen, weshalb
sie immer wieder ins Stocken gerät. Ein Online-Archiv war bereits angelegt und
wird dieses Jahr wieder aktiviert und fortgeführt. Dafür ist die Domain
www.kulturarchiv-ruhr.de
vorgesehen und reserviert.
Ende 2010 habe ich die Philosophie des Katakomben-Theaters im
Textzentrum zum ersten Mal verschriftlicht.
Sie diente auch zur Grundlage des Konzeptes der
KulturAkademie-Ruhr, die am
10. Oktober 2011 feierlich ins Leben gerufen wurde, wobei Oliver Scheytt das
Konzept kritisch begleitete und bei der Eröffnung Pate stand. Nun nach über einem
Jahr müssen weitere Entwicklungsschritte folgen.
Die erhofften und beantragten Mittel haben wir von der Landesregierung nicht erhalten.
Statt Kulturschaffende direkt zu fördern und sie dabei zu unterstützen, ihre eigenen
Institutionen am Leben zu erhalten, setzt die Kraft-Regierung in NRW auf die klassische
Zweiteilung zwischen Institution, Verwaltung auf der einen und darin abhängig
beschäftigten Künstlerinnen und Künstlern auf der anderen Seite. Darin reproduziert sich
politische Borniertheit einfach selbst; mittlerweile hat es sich ja in der Berliner
Republik insgesamt etabliert, dass Politiker zu einer Berufsgruppe, wenn nicht
gar zu einer Kaste geworden sind, die damit beauftragt ist, den Rest der Gesellschaft
zu verwalten sprich zu regieren. Selbst die Opposition ist ein Teil des politischen
Geschäftes und damit der Regierung.
Parteiprogramme enthalten keine ernst zu nehmenden aber auch nicht ernst gemeinten
Alternativkonzepte und Ideale für die Gesellschaft, sondern nur im Kleinen
divergierende Verwaltungsakte. In dieser allgemeinen Phantasie- und Utopielosigkeit,
in der man sich ernsthaft fragen darf, was der wesentliche Unterschied zwischen
Mama Angela Merkel und Mutti Hannelore Kraft sein soll, wird der Kultur dieser Gesellschaft
entgegen allen Beteuerungen und Lippenbekenntnissen, keine Aufmerksamkeit geschenkt,
außer wenn es darum geht, Finanzmittel zu kürzen und Einsparungen vorzunehmen.
Ansonsten werden einfach stur die klassischen Stereotype fortgesetzt: Kultur sei
wichtig, Bildung ebenfalls. Aber die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, werden
kurz gehalten, ungenügend gefördert; eine Vernetzungs- und Infrastrukturbildende Kultur
gibt es nicht. Es wird individualisiert, Konkurrenzkampf geschaffen; es werden Einrichtungen
geschlossen oder mit Schließung bedroht.
Da entdeckt die Freie Kulturszene in ihrer Not einen
in Phrasen als wichtig erachteten Bereich, der
in Tat und Wahrheit aber völlig mißbraucht wird: Interkulturalität, kulturelle Vielfalt und «interkulturelle Kompetenz».
Kunst und Kultur sollen eine Feuerwehrfunktion für
soziale und wirtschaftliche Probleme übernehmen, abfedern helfen und eine
Pufferzone des sozialen Friedens erhalten oder schaffen, wo einiges in die Schieflage
geraten ist.
Oder es sollen zum Zwecke der «Kulturellen Bildung» Künstler, Musiker und Literaten in die
Schulen (am besten in sozialen Brennpunkten), obwohl Schulen konzeptionell überhaupt nicht
der Ort der Muse sind. Zu wirklichen Reformen fehlt der politische Wille; man könnte alle
Bemühungen unter dem Kapitel «Hilflose Akte» näher, detaillierter beschreiben, wenn es denn
nur irgendwo einen Hoffnungsschimmer gäbe, jemand könnte es hören, lesen und aufgreifen oder
zumindest (das wäre eigentlich einer funktionierenden Demokratie äußerst würdig) in die
Diskussion bringen. Eigentlich hätte die Bundesrepublik noch Strukturen, die sie als
Bildungs- und Kulturrepublik qualifizieren könnten. Aber auch in diese Richtung wird nur
dann ernsthaft und genau hingeschaut, wenn man ein Etat zum Kürzen sucht.
Peer Steinbrücks Zug, Oliver Scheytt im Schattenkabinett zum Experten für Kultur und
Anwärter auf ein entsprechendes Ministerium zu machen, war so ungeschickt nicht. Auch
wenn die Kulturhoheit bei den Bundesländern liegt, könnte man ein neues Klima des Kulturdiskurses
schaffen und nicht einfach nur über Erhalt oder Kürzung diskutieren, sondern auch darüber
nachdenken, was neu geschaffen und strukturiert werden sollte und könnte. Aber das Problem
mit der Sozialdemokratie ist nicht, dass sie Hoffnung auf gute Ideen und Entwicklungen weckt,
sondern diese immer wieder enttäuscht: Man hofft auf Oliver Scheytt als Kulturmenschen
und gerät warum auch immer und nicht einmal durch das Verschulden von Oliver Scheytt in eine
der größten kulturellen Kahlschlagsepochen der bundesdeutschen Geschichte. Die Reformära eines
Willy Brandt muss sich keineswegs wiederholen. Statt dessen könnten die Reststrukturen der
Bildungs- und Kulturrepublik auch in einer Amerikanisierungseuphorie völlig zerschlagen
werden.
Es besteht kein Grund zum Optimismus und keiner zum größeren Pessimismus als zu dem, den uns
die Realität ohnehin schon beschert. Es bleibt also abzuwarten, was geschieht.
Allein die Zusammensetzung der Ressorts in dem Landesministerium NRW, dem auch Kultur
subsummiert ist, zeigt, wie wenig Wertschätzung
die Regierung in NRW dem Bereich Kultur entgegenbringt. Auch wenn der Philosophieprofessor
und Kulturataatssekretär im Schröderkabinett Julian Nida-Rümelin in seinen Vorträgen
auf das Humboldtsche Bildungsideal verweist, kann so schnell nicht vergessen werden,
dass in NRW es die SPD in den 80er Jahren war, die massiv die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften
unter Rechtfertigungszwang der Stellen und die Freiheit der Lehre in Frage stellte und
einen gigantischen Einsparungsdruck erzeugte.
Um nun auf unseren konkreten Fall zu kommen, jetzt zu erwarten, dass die Regierung eine von
Ausländern betriebene «Kulturakademie» und ein Theater wie das
Katakomben-Theater institutionell fördert und einem deutsch schreibenden Türken
die Konzeption überlässt, hat etwas von einer an Debilität grenzenden Naivität.
Dass ein mit 8 1/2 Jahren nach Deutschland
eingewanderter Türke besser Deutsch spricht und schreibt als manch einer in
Politik und Ministerialbürokratie, schreit schon nach
Kamel und Nadelöhr - erst recht, wenn er nicht mehr brav seine ethnische
Herkunft thematisiert, wie seine braven Landsleute, sondern nach deutscher
Sprache und Kultur greift, als wäre es sein Eigentum.
Und da die Regierenden leider oft das Gefühl haben, mit
Fördermitteln belohnen und bestrafen zu dürfen, brauche ich mich auch nicht
weiter zu wundern, wenn ich nach meinen «aufrührerischen» Schriften
keinen Cent mehr an Projektmitteln bekomme.
Aber wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren, lautet eine
Devise, der man sich auch anschließen könnte.