Zunächst war es keineswegs so intendiert, aber je länger ich an dem SOKRATES-Roman geschrieben habe und
je länger der Text wurde, desto näherliegender wurde es, dieses Romanprojekt mit der ZERFAHRENHEIT
zu verknüpfen.
Ein Hypertextromanprojekt ist schier ein Jahrhundertwerk - vielleicht nicht in der
Qualität - das will ich von mir gar nicht behaupten, aber so doch zumindest in der Erschaffung. Und wenn
ich ein wenig auf dem Teppich bleibe, dann ist der Hypertextroman zumindest ein Lebenswerk, denn er verknüpft
nahezu alles, was ich geschrieben habe und noch schreiben werde, zu einem Produkt.
Ein Roman
kann ohnehin schon sehr unterschiedliche Textelemente und Textgattungen in sich vereinen: Zeitungsartikel,
Briefe, Auszüge aus anderen Texten, Dialoge wie in einem Drama können in ihm ihren Platz finden. Und soll
ein Roman ein Kunstwerk sein und nicht einfach nur vom Spannungsbogen der erzählten Handlung zähren,
müssen auch die kleinen Details kunstvoll gestaltet und wohlformuliert sein. Das erfordert ein gewisses
Geschick in der Planung der Arbeit, der Geschichte, ihrer Erzählweise und in der Anordnung der
Textbausteine. Einen Roman einfach nur Satz für Satz vor sich hin zu schreiben, ohne genau zu wissen,
was eigentlich noch alles kommen und passieren soll, ist ein heilloses Unterfangen. Selbst wenn die
Geschichte sich anders entwickelt, als man sie sich zunächst zurechtgelegt hat, selbst wenn die Figuren
ihre Charaktere anders entfalten und alles eine gewisse Eigendynamik bekommt, geschieht dies vor dem
Hintergrund einer Planung. Ausnahmen von der Regel, Abweichungen vom Plan, Imrpovisationen und Eigendynamik
können sich dort einstellen und eine positive Wirkung entfalten, wo auch ein Plan, eine Regel, eine
Erzähllinie existiert.
Wie aber steht es damit bei einem Hypertextromanprojekt? Die Linien
der Geschichte, die Dramaturgie der Handlung, die Verflechtung und Motivation der Charaktere, ihre
Entwicklung und Wandlung reduzieren sich nicht auf ein Buch, auf einen Roman, sondern verteilen sich
über das ganze Universum unter der Schädeldecke. Ein Netzwerk von Handlungen, Querverbindungen,
Personen und dramatischen Fäden und deren Verknotungen entsteht und wird in einem sich selbst organisierenden
System zu einem labyrinthischen Geflecht.
Die bewusste Planung übernimmt eine ganz andere
Funktion, dezentralisiert sich und mischt sich hier und da unter die im Raum verteilten Knotenpunkte.
Die Schaltzentrale des Romans existiert nicht mehr, auch wenn man ihre hilfreiche Funktion immer wieder
sucht und vermisst. Und ein anderes Phänomen stellt sich ein - nicht von Anfang an, aber irgendwann
im Laufe der Jahre: man kann keinen Roman mehr beginnen, der ganz allein für sich zwischen zwei
Buchdeckeln existiert - ganz unabhängig von den anderen Romanen des Autors. Hatte die postmoderne
Philosophie den Tod des Autors proklamiert, so findet nun eine Auferstehung statt, in der
der Autor zum Objekt des Wekes wird, das aus der chaotischen Ursuppe der intertextuell geordneten
Buchstaben sich heraus kristallisierend eines Kopfes bemächtigt und sagt: «Du bist mein Autor!»
Ich bin das Opfer meiner Geschichten und der Phänomene um mich, sei es, dass sie mich aus dem
Bildungskanon der Schule und des Studiums ergreifen, sei es, dass sie aus den Medien auf mich
einwirken, sei es, dass sie in meinem alltäglichen Leben vorkommen und mich ergreifen. All das
bildet die Ursuppe. Darin auch der künstlerische Wille meines Lebens - ein Wille, den nicht ich
kontrolliere, so sehr mir der moderne Subjektivismus das auch einzureden versucht, sondern von dem
ich geleitet und getrieben werde. Es ist eben nicht mein bewusstes Ich, das plant, projektiert und
diesen Plan umsetzt, indem es so tut, als wäre es in seinen Willensakten autonom und souverän;
es ist der Wille aus der Ursuppe, der erschafft, verknüpft, wieder erschafft, wieder verknüpft und so
weiter. Es wäre falsch zu sagen, ich sei willenlos. Ganz im Gegenteil wird mein Wille stärker,
je mehr ich mich mit meinem Bewusstsein der Ursuppe in mir anvertraue.
Mein Bewusstsein
ist keienswegs willenlos oder untätig: es beobachtet, nimmt wahr, sammelt Zufälliges wie
Gezieltes, ordnet und kategorisiert, etikettiert und reflektiert, tritt mit Vernunft und Logik ins
Gespräch und auch mit der Phantasie und der spakulativen Kraft der Imagination. Doch am Ende
werden alle Produkte des Bewusstseins in die Ursuppe geworfen. Und bilden dort den Nährboden für
den wachsenden Willen.
Damit entzieht sich mein Schaffen der Konvention - gar nicht
absichtlich und mit dem Vorsatz, unbedingt unkonventionell sein zu müssen, sondern
unwillentlich! Die Gesellschaft stellt Regeln und Traditionen bereit, um Menschen und ihre
Handlungen zu kategorisieren und zu bewerten. Sie stellt Rollen zur Verfügung, die erfüllt werden
können und womit dann Individuen ihren Platz in der Gesellschaft hierarchisch und sozial finden.
Auch Klischees für Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Musiker sind vorhanden. Und jedes
kreative Individuum muss unter starkem Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck sich beugend in
eine Schublade begeben. Und jedem Individuum bitte nur eine Schublade.
Während Schriftsteller
sich noch so gebärden und definieren, wie die Moderne des späten 18. Jahrhunderts ihnen vorgefertigt
hat, entstehen im 21. Jahrhundert aufgrund der medialen Entwicklung auf dem Felde des Schreibens
«Blogger». So kann man sich wenigstens eine Weile der Illusion hingeben, als würde sich
in der Schriftstellerei, die in sich vollkommen sein will, nichts Wesentliches bewegen und
ändern; als wäre das Buch mit seinem dahinter stehenden Verlagswesen das Nonplusultra der
intellektuellen Ausdrucksweise. Das filmische Kunstwerk beispielsweise kann durch Werbeblöcke
ruhig zerstückelt werden - das findet niemand komisch; aber ein Buch mit vielen bunten Werbeseiten
darin - nein, auf diese Idee käme niemand. Dann wäre das Buch eine Zeitschrift und
kein Buch mehr. Dabei zeichnet sich ganz deutlich ab, dass das Verlagswesen mit dem Buchmarkt
zerbröselt. E-Books haben keine reelle Chance angesichts der PDFs, auch wenn Verleger irgendwelche
Vorzüge der E-Books den Lesern schmackhaft zu machen versuchen; im Grunde sind E-Books und die
völlig überflüssigen E-Book-Reader, die alle aus dem Denken des 19. Jahrhunderts und des Verlagswesens
stammen, so überflüssig wie ein Kropf. Protektionistische Überbleibsel eines in seiner alten Form
absterbenden Marktes, womit keineswegs gesagt ist, dass gebundene Bücher aus Papier vom Markt
verschwinden werden. Nein, man wird zu ihrer Produktion und zum Vertrieb keinen Verleger mehr wirklich
brauchen! Es sei denn die Verleger definieren ihre Aufgabenfelder als Dienstleister für Autoren neu.
Und erst recht wird man keinen klugscheißernden Buchhändler benötigen, der immer so tut, als wäre er
der Buchexperte und literarischer Qualitätsgarant schlechthin.
Doch auch das soll nun nicht
heißen, dass ein Internethandelsgigant alle Buchhandlungen überflüssig machen kann und sollte.
Auch Buchhandlungen müssen neue Aufgaben für sich finden, sich mit neu definierten
Rollen rund um das Schreiben und Lesen neu erfinden. Denn die sozialen Kontakte durch die Präsenz im Raum
können nicht in der Virtualität aufgehoben werden, ohne dass das Menschliche darunter leidet.
Gespräche, Treffen, Lesungen, Diskussionen und kreatives Umgehen mit Literatur bedürfen der realen
physikalischen Räume voller Gemütlichkeit, Nostalgie und Informationen. Es ist nicht interessant,
ein Buch als Ware von pseudoinformierten Krämern über den Ladentisch geschoben zu bekommen. Interessant
ist es, Menschen zu begegnen, die sich Gedanken machen, Geschichten oder was auch immer schreiben,
diese vortragen und sich darüber austauschen wollen. So könnte der Buchladen immer mehr zu einem
guten Lesungsort werden, während Verlage sich darauf konzentrieren, Autoren an solche Orte zu vermitteln
und über Medien bekannt zu machen. Zudem müssen Verlage auch über den Tod der Autoren hinaus, ihre
Werke der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und im Diskurs halten. Genau das Rüstzeug für diese
Aufgaben aber kürzen viele Verlage, verzichten auf ein qualifiziertes und gutes Lektorat und
entziehen sich eigentlich damit ihre Lebensgrundlage.
Und ich? Ich gebe mich unabhängig davon
und jenseits aller Klischees dem Willen meiner Ursuppe hin und schreibe, was mir in den Sinn kommt
und verknüpfe die Dinge, wo es mir sinnvoll erscheint.
So ist mir nun eine interessante
Verknüpfung gelungen. Im
SOKRATES-Roman begegnet im Traum der Held Ophelia, die ihm von ihrem postmortalen
Erlebnis mit Hermes erzählt, was zum Dramulett «Beschiss» führt.
Übrigens habe ich davon auch eine zweite
Fassung angefertigt, in der Ophelia ganz alleine
ist und nur noch vor sich hin monologisieren kann. Vielleicht entsteht daraus ja noch eine
Novelle - wer weiß? Ophelia geschwängert von Hamlet trägt in der Unterwelt, warum auch immer,
ihr Kind aus. Dieses «warum auch immer» könnte schon ein Teil der Novelle werden: Hades und
Persephone wollen ein Experiment wagen oder lassen sich von Hermes dazu überreden, ein Experiment einzugehen,
um «das Menschliche» zu ergründen. Später darf dieses Kind in Richtung SOKRATES den Hades verlassen und
geht in die andere Geschichte ein und wird zu einer Figur, die hauptsächlich von einem anderen ask-user
inspiriert und getragen ist:
http://ask.fm/Maulwurfkuchen.
So wird der Hypertextroman sogar auf eine Art intertextuell.