Uri Bülbül
KulturAkademie-Ruhr/Katakomben-Theater im Girardet Haus • 45131 Essen


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17. Februar 2015

SOKRATES - der kafkASKe Fortsetzungsroman wird ein Teil der ZERFAHRENHEIT


Zunächst war es keineswegs so intendiert, aber je länger ich an dem SOKRATES-Roman geschrieben habe und je länger der Text wurde, desto näherliegender wurde es, dieses Romanprojekt mit der ZERFAHRENHEIT zu verknüpfen.

Ein Hypertextromanprojekt ist schier ein Jahrhundertwerk - vielleicht nicht in der Qualität - das will ich von mir gar nicht behaupten, aber so doch zumindest in der Erschaffung. Und wenn ich ein wenig auf dem Teppich bleibe, dann ist der Hypertextroman zumindest ein Lebenswerk, denn er verknüpft nahezu alles, was ich geschrieben habe und noch schreiben werde, zu einem Produkt.

Ein Roman kann ohnehin schon sehr unterschiedliche Textelemente und Textgattungen in sich vereinen: Zeitungsartikel, Briefe, Auszüge aus anderen Texten, Dialoge wie in einem Drama können in ihm ihren Platz finden. Und soll ein Roman ein Kunstwerk sein und nicht einfach nur vom Spannungsbogen der erzählten Handlung zähren, müssen auch die kleinen Details kunstvoll gestaltet und wohlformuliert sein. Das erfordert ein gewisses Geschick in der Planung der Arbeit, der Geschichte, ihrer Erzählweise und in der Anordnung der Textbausteine. Einen Roman einfach nur Satz für Satz vor sich hin zu schreiben, ohne genau zu wissen, was eigentlich noch alles kommen und passieren soll, ist ein heilloses Unterfangen. Selbst wenn die Geschichte sich anders entwickelt, als man sie sich zunächst zurechtgelegt hat, selbst wenn die Figuren ihre Charaktere anders entfalten und alles eine gewisse Eigendynamik bekommt, geschieht dies vor dem Hintergrund einer Planung. Ausnahmen von der Regel, Abweichungen vom Plan, Imrpovisationen und Eigendynamik können sich dort einstellen und eine positive Wirkung entfalten, wo auch ein Plan, eine Regel, eine Erzähllinie existiert.

Wie aber steht es damit bei einem Hypertextromanprojekt? Die Linien der Geschichte, die Dramaturgie der Handlung, die Verflechtung und Motivation der Charaktere, ihre Entwicklung und Wandlung reduzieren sich nicht auf ein Buch, auf einen Roman, sondern verteilen sich über das ganze Universum unter der Schädeldecke. Ein Netzwerk von Handlungen, Querverbindungen, Personen und dramatischen Fäden und deren Verknotungen entsteht und wird in einem sich selbst organisierenden System zu einem labyrinthischen Geflecht.

Die bewusste Planung übernimmt eine ganz andere Funktion, dezentralisiert sich und mischt sich hier und da unter die im Raum verteilten Knotenpunkte. Die Schaltzentrale des Romans existiert nicht mehr, auch wenn man ihre hilfreiche Funktion immer wieder sucht und vermisst. Und ein anderes Phänomen stellt sich ein - nicht von Anfang an, aber irgendwann im Laufe der Jahre: man kann keinen Roman mehr beginnen, der ganz allein für sich zwischen zwei Buchdeckeln existiert - ganz unabhängig von den anderen Romanen des Autors. Hatte die postmoderne Philosophie den Tod des Autors proklamiert, so findet nun eine Auferstehung statt, in der der Autor zum Objekt des Wekes wird, das aus der chaotischen Ursuppe der intertextuell geordneten Buchstaben sich heraus kristallisierend eines Kopfes bemächtigt und sagt: «Du bist mein Autor!»

Ich bin das Opfer meiner Geschichten und der Phänomene um mich, sei es, dass sie mich aus dem Bildungskanon der Schule und des Studiums ergreifen, sei es, dass sie aus den Medien auf mich einwirken, sei es, dass sie in meinem alltäglichen Leben vorkommen und mich ergreifen. All das bildet die Ursuppe. Darin auch der künstlerische Wille meines Lebens - ein Wille, den nicht ich kontrolliere, so sehr mir der moderne Subjektivismus das auch einzureden versucht, sondern von dem ich geleitet und getrieben werde. Es ist eben nicht mein bewusstes Ich, das plant, projektiert und diesen Plan umsetzt, indem es so tut, als wäre es in seinen Willensakten autonom und souverän; es ist der Wille aus der Ursuppe, der erschafft, verknüpft, wieder erschafft, wieder verknüpft und so weiter. Es wäre falsch zu sagen, ich sei willenlos. Ganz im Gegenteil wird mein Wille stärker, je mehr ich mich mit meinem Bewusstsein der Ursuppe in mir anvertraue.

Mein Bewusstsein ist keienswegs willenlos oder untätig: es beobachtet, nimmt wahr, sammelt Zufälliges wie Gezieltes, ordnet und kategorisiert, etikettiert und reflektiert, tritt mit Vernunft und Logik ins Gespräch und auch mit der Phantasie und der spakulativen Kraft der Imagination. Doch am Ende werden alle Produkte des Bewusstseins in die Ursuppe geworfen. Und bilden dort den Nährboden für den wachsenden Willen.

Damit entzieht sich mein Schaffen der Konvention - gar nicht absichtlich und mit dem Vorsatz, unbedingt unkonventionell sein zu müssen, sondern unwillentlich! Die Gesellschaft stellt Regeln und Traditionen bereit, um Menschen und ihre Handlungen zu kategorisieren und zu bewerten. Sie stellt Rollen zur Verfügung, die erfüllt werden können und womit dann Individuen ihren Platz in der Gesellschaft hierarchisch und sozial finden. Auch Klischees für Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Musiker sind vorhanden. Und jedes kreative Individuum muss unter starkem Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck sich beugend in eine Schublade begeben. Und jedem Individuum bitte nur eine Schublade.

Während Schriftsteller sich noch so gebärden und definieren, wie die Moderne des späten 18. Jahrhunderts ihnen vorgefertigt hat, entstehen im 21. Jahrhundert aufgrund der medialen Entwicklung auf dem Felde des Schreibens «Blogger». So kann man sich wenigstens eine Weile der Illusion hingeben, als würde sich in der Schriftstellerei, die in sich vollkommen sein will, nichts Wesentliches bewegen und ändern; als wäre das Buch mit seinem dahinter stehenden Verlagswesen das Nonplusultra der intellektuellen Ausdrucksweise. Das filmische Kunstwerk beispielsweise kann durch Werbeblöcke ruhig zerstückelt werden - das findet niemand komisch; aber ein Buch mit vielen bunten Werbeseiten darin - nein, auf diese Idee käme niemand. Dann wäre das Buch eine Zeitschrift und kein Buch mehr. Dabei zeichnet sich ganz deutlich ab, dass das Verlagswesen mit dem Buchmarkt zerbröselt. E-Books haben keine reelle Chance angesichts der PDFs, auch wenn Verleger irgendwelche Vorzüge der E-Books den Lesern schmackhaft zu machen versuchen; im Grunde sind E-Books und die völlig überflüssigen E-Book-Reader, die alle aus dem Denken des 19. Jahrhunderts und des Verlagswesens stammen, so überflüssig wie ein Kropf. Protektionistische Überbleibsel eines in seiner alten Form absterbenden Marktes, womit keineswegs gesagt ist, dass gebundene Bücher aus Papier vom Markt verschwinden werden. Nein, man wird zu ihrer Produktion und zum Vertrieb keinen Verleger mehr wirklich brauchen! Es sei denn die Verleger definieren ihre Aufgabenfelder als Dienstleister für Autoren neu. Und erst recht wird man keinen klugscheißernden Buchhändler benötigen, der immer so tut, als wäre er der Buchexperte und literarischer Qualitätsgarant schlechthin.

Doch auch das soll nun nicht heißen, dass ein Internethandelsgigant alle Buchhandlungen überflüssig machen kann und sollte. Auch Buchhandlungen müssen neue Aufgaben für sich finden, sich mit neu definierten Rollen rund um das Schreiben und Lesen neu erfinden. Denn die sozialen Kontakte durch die Präsenz im Raum können nicht in der Virtualität aufgehoben werden, ohne dass das Menschliche darunter leidet. Gespräche, Treffen, Lesungen, Diskussionen und kreatives Umgehen mit Literatur bedürfen der realen physikalischen Räume voller Gemütlichkeit, Nostalgie und Informationen. Es ist nicht interessant, ein Buch als Ware von pseudoinformierten Krämern über den Ladentisch geschoben zu bekommen. Interessant ist es, Menschen zu begegnen, die sich Gedanken machen, Geschichten oder was auch immer schreiben, diese vortragen und sich darüber austauschen wollen. So könnte der Buchladen immer mehr zu einem guten Lesungsort werden, während Verlage sich darauf konzentrieren, Autoren an solche Orte zu vermitteln und über Medien bekannt zu machen. Zudem müssen Verlage auch über den Tod der Autoren hinaus, ihre Werke der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und im Diskurs halten. Genau das Rüstzeug für diese Aufgaben aber kürzen viele Verlage, verzichten auf ein qualifiziertes und gutes Lektorat und entziehen sich eigentlich damit ihre Lebensgrundlage.

Und ich? Ich gebe mich unabhängig davon und jenseits aller Klischees dem Willen meiner Ursuppe hin und schreibe, was mir in den Sinn kommt und verknüpfe die Dinge, wo es mir sinnvoll erscheint.

So ist mir nun eine interessante Verknüpfung gelungen. Im SOKRATES-Roman begegnet im Traum der Held Ophelia, die ihm von ihrem postmortalen Erlebnis mit Hermes erzählt, was zum Dramulett «Beschiss» führt.

Übrigens habe ich davon auch eine zweite Fassung angefertigt, in der Ophelia ganz alleine ist und nur noch vor sich hin monologisieren kann. Vielleicht entsteht daraus ja noch eine Novelle - wer weiß? Ophelia geschwängert von Hamlet trägt in der Unterwelt, warum auch immer, ihr Kind aus. Dieses «warum auch immer» könnte schon ein Teil der Novelle werden: Hades und Persephone wollen ein Experiment wagen oder lassen sich von Hermes dazu überreden, ein Experiment einzugehen, um «das Menschliche» zu ergründen. Später darf dieses Kind in Richtung SOKRATES den Hades verlassen und geht in die andere Geschichte ein und wird zu einer Figur, die hauptsächlich von einem anderen ask-user inspiriert und getragen ist: http://ask.fm/Maulwurfkuchen. So wird der Hypertextroman sogar auf eine Art intertextuell.