13. Dezember 2013
Als ich durch die virtuellen Straßen meiner Gedankenstadt gehe, begegnet mir ein älteres Haus.
Ich bleibe vor ihm stehen und erinnere mich seiner: «zerfahrenheit-start.html» lautet die
Hausnummer; und die komplette Adresse: «www.uribuelbuel.de/zerfahrenheit/zerfahrenheit-start.html»
«Ach ja», denke ich, angesichts des Häuschens, «es ist sogar renoviert worden und trotzdem
ist es nicht richtig bewohnt». Zwei Türen führen in hintere Höfe, die sich zu neuen
Stadtvierteln öffnen. Die eine Tür trägt den Namen «Windungen» und die andere «Brüche». Ich
erinnere mich, wie sie einst entstanden: Ich verinnerlichte einst das Brechtsche Buch «Me-Ti», eine
Sammlung von Aphorismen, Gleichnissen, Gedanken, Essayminiaturen angelehnt an einen
Meister der chinesischen Philosophie neben dem großen Konfuzius, den großen Meister Me.
Brecht hatte die Gedanken und Texte des Meisters ebenso darin, wie andere Meister der
dialektischen Schule des Marxismus und alles natürlich auf seine Art kreativ weiter verarbeitet.
Bertolt Brechts Buch trug den Titel «Me-Ti» mit dem Untertitel, der meinen beiden
Türen Pate stand: «Wendungen und Sprüche».
Man musste nicht weit gehen, um zu erfahren, dass es auch dialektische Wendungen waren, auf die
Brecht mit dem Untertitel abzielte. Man fand beispielsweise in dem Buch der Wendungen und
Sprüche den Hinweis, dass Sätze wie «Der Regen ist gut» oder «Der Regen ist schlecht» viel zu kurz
seien. Schließlich könnten junge, zarte Pflanzen in sintflutartigen Regenfällen ertrinken
oder in der Dürre, weil man ja annehmen könnte, der Regen sei schlecht, einfach verdorren.
So gab Brecht den Sätzen eine dialektische Wende. Am Buch Me-Ti schulte ich nicht nur
mein eigenes Dialektikverständnis, sondern in kleinen Workshops auch die meiner Teilnehmerinnen
und Teilnehmer. Wir nannten dies seinerzeit Lesezirkel und nicht Workshops.
Mir war das tiefere Verständnis von Dialektik ein großes Anliegen, mich hatte mein Philosophielehrer
so sehr geprägt, der gesagt hatte: «Wie man sich zur Dialektik stellt, ist eine Lebensentscheidung».
Dieser Satz erschien mir nicht zu kurz und prägte meinen Pragmatismus.
Und beim Erbauen der Stadt ZERFAHRENHEIT schuf ich auch eine kleine Reminiszenz an Bertolt
Brechts Buch der Wendungen und titelte die Einleitung mit
«Windungen und Brüche». Ich hatte
kennen gelernt, wie man Dialektik rationalistisch betrieben zur windigen Rechtfertigung
jeglichen bürokratisch-politischen Schwachsinns mißbrauchen konnte und im Grunde brach man
mit all dieser Gewundenheit mit dem lebendigen Geist des Brechtschen Buches. Der sogenannte
reale Sozialismus zerbrach und wurde von der Geschichte, wie man so schön sagt, weggespült
und übrig blieb, was ich aus
einem Peter Rühmkorf
Gedicht kenne: «Das Wildern im Abflussrohr
der Zeit». Wer ist dieses «Wir» «wildernd im Ungewissen»? Und gehöre ich dazu? Und wo
leben wir? Ich habe wohl meine Heimat, wie ich es damals ausdrückte, zwischen Eifel und
Zweifel in ZERFAHRENHEIT gefunden.
Ludwig Wittgenstein sagt: «Ein Bild hielt uns gefangen». Ich will, so weise Wittgenstein auch ist,
die Schuld für meine Gefangenschaft keinem Bild zuschieben; vielmehr ließ ich mich von einem
Bild gefangennehmen: die Baustelle; die dann verächtlich und sozial erniedrigt als eine
«ewige Baustelle» bezeichnet wurde, als sei ich niemals zu einer Fertigstellung fähig.
So saß ich ein Jahr um Jahr und verleugnete mich und meine Stadt, weil andere mich verleumdeten.
Sie verlachten meine Philosophie, meine Literatur, meine Lebensform und wollten mich in ihrer
bürgerlichen Uniformiertheit zur Existenz zwingen. Und ich war eine ganze Weile nicht stark genug,
mich aus meiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Die ersten Internetseiten, die
entstanden, entstanden noch im Gefängnis und darum war das Bild meiner Gefangenschaft das der
BAUSTELLE.
Hierzu gibt es auch ein Gedicht, wie ich finde, ein recht verzweifeltes, was auch
niemand zur Kenntnis nehmen wollte: «Baustelle»
Nun aber gibt es keinen Grund mehr, mich in Gefangenschaft zu wähnen. Weg mit dem Bild der
Baustelle in seiner dialektischen Aufhebung. Die ZERFAHRENHEIT ist die Stadt meiner Ideen. Sie
hätte auch anders und glücklicher heißen können, wenn ich mir des Glückes ihrer Entstehung
seinerzeit schon bewusst gewesen wäre. Fremd in der entstehenden Stadt vermochte ich nur die
Baustellen zu sehen und alles wirkte noch verwirrender als in einer schon fertig gebauten
aber fremden Stadt. So bekam sie den Namen, den sie heute noch trägt. Und es gibt Baustellen
in dieser Stadt und Renovierungsarbeiten und immer neue Pläne. ZERFAHRENHEIT lebt.