Uri Bülbül
KulturAkademie-Ruhr/Katakomben-Theater im Girardet Haus • 45131 Essen


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25. Oktober 2014

Vom Vergangenen und der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit

Der angefaulte wurmstichige Apfel wird von der Startseite entfernt. Er könnte der Vergangenheit angehören, wenn ich nicht immer wieder erfahren müsste - durchaus auch zu meinem Schrecken - wie gegenwärtig das Vergangene sein kann, ja, ich muss es so sagen: einfach ist. Schon im Zusammenhang mit meiner Archivarbeit, begegnete mir das Zitat: «Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.» Von William Faulkner über Hans-Georg Gadamer bis zu Achternbusch scheint dieser Satz viele Väter und natürlich auch eine Mutter: Christa Wolf, «Kindheitsmuster» zu haben. Aber die Urheber dieses Satzes sind nicht mein Problem, sondern die Begegnung mit der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in Form von Angst in mir.

Der vergangene Herbst 2013 war für mich schreckenserfüllt. Eine kleine fast heile geglaubte private Welt in den schwierigen Auseinandersetzungen und Streitereien auf dem Feld der Kulturpolitik bröckelte und entließ mich in die kalte Welt. Für mich gab es nur einen Zufluchtsort, obwohl einige Stimmen mir genau diesen streitig zu machen versuchten: das Theater. Und nun kehrt der Herbst nach einem Jahr wieder und erfüllt mich mit Schrecken. Es sind die in mein Körpergedächtnis eingebrannten Schmerzen des letzten Jahres, die wie alte Narben sich melden.

Der Apfel verfault und stirbt - ich habe ihn vor über einem Jahr fotografiert. Er zierte auch mein ask.fm-Profil und nun soll er zur Vergangenheit werden, was er als Fotografie natürlich nicht wird. Sie ist einer anderen Zeitlichkeit unterworfen als der Apfel am Baum, dem Wurm und Vogelschnabel nebst Wetter und Witterung zusetzen.

Bei meinen Recherchen zur Quelle des obigen Zitats stieß ich auf eine interessante universitäre Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades der Magistra der Philosophie von Stephanie Damianitsch: Neo Rauch. (Geschichte)te Malerei. Mit Neo Rauch kann ich nicht viel anfangen. Seine Gegenstädnlichkeit erreicht nie das Phantastische eines Salvador Dalí. Umso mehr aber konnte ich mit den Äußerungen der Autorin anfangen, die davon schrieb, dass die Geschichte in den Werken Neo Rauchs nicht auf einer semantischen Ebene ablesbar sei. Vielmehr sei es notwendig, die Idee eines linearen Zeitmodells sowie die traditionellen Vorstellungen von Bildnarration aufzugeben und sich auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen einzulassen. Ja, hier folgen wir dem Konzept der Postmoderne mit dem Zerfall der Großen Erzählungen.

Dabei wird aber keineswegs mein Erzählvorhaben kleiner. Ganz im Gegenteil ist die ZERFAHRENHEIT ein Fels, der mich auch überrollen und erdrücken könnte, wenn meine Kräfte nachlassen. Ich habe sie nicht im Bewusstsein meiner Stärke angefangen und in der Annahme, ich könnte die Last stämmen. Ich habe sie einfach angefangen. In unserer projektorientierten und durchökonomisierten Welt ist es vielleicht ein befremdlicher Gedanke, aber man fängt Dinge nicht an, weil das Ende abzusehen ist, sondern man fängt sie einfach an. Natürlich kann man sich auch einer teleologischen Illusion hingeben. Aber wird nicht immer jedes Ziel zu einer Durchgangsstation für den Weg auf ein neues Ziel?

Da die Welt so unübersichtlich, vielfältig, vielschichtig ist, große Vernetzungen, gegenseitige Abhängigkeiten, Interferenzen und sehr unterschiedliche Erscheinungen die Anschauung verkomplizieren oder sich ihr entziehen, gibt es durchaus eine verständliche Abneigung gegen die postmoderne Philosophie und eine Sehnsucht nach der Linearität. Man will die Erzählung nicht tot wissen, sondern immer wieder neu beleben. Ja, es gibt sie, und ein großer Erzähler, der sie am Leben erhält. Die Kunst der Linearität wird gepriesen: ja, da gibt es Autorinnen und Autoren, die eine Geschichte zu erzählen vermögen.

Ich kann mich weder ihnen noch ihrem Medium, dem Buch anschließen. Mich interessiert die Vielfalt der Perspektiven und in dieser Vielfalt die Vielfalt der Erscheinungsweisen, das Verschwinden der Identität der Phänomene, das Erscheinen der Differenz, die Elektrisierung der Luft im Keller durch ein Gewitter, das die Welt flackern lässt. Mich interessiert die Fata Morgana, der geknickte Stab im Wasser, die Täuschung, der Irrtum, der Wahnsinn und die Wirksamkeit all dieser Dinge. Der Organismus nicht als ein Funktionszusammenhang, sondern als ein Zusammenhang von Disfunktionen. Selten ist in der Welt etwas Linear, es sei denn die Einfalt interpretiert sie so. Nicht umsonst leben wir auf einer Kugel und müssten eigentlich wissen, dass jede Gerade gebogen ist. Nur auf dem Reißbrett des Rationalismus sieht die Welt anders aus - modern, steril, linear, geradlinig, monokausal. Wir sind auf die teuflische Zuflüsterung des Grüns unseres goldenen Lebensbaums überhaupt nicht vorbereitet und eingestellt. Wir lieben das Grau der Theorie, der Technik, der Zukunft, der Architektur. Die Natur gefällt uns nur dort, wo sie gebändigt erscheint, begradigt, mechanisiert, erklärt, auf das zweidimensionale Papier gebracht.

Ich aber suche die Philosophie der Grausamkeit, dort, wo die Theorie lebendig wird und grün, wo sie sich selbst verlässt und etwas Außerplanmäßiges wird. Vielleicht Improvisation. Vielleicht Zufall, vielleicht Mutation. Aber sind das nicht die Dinge, die das Leben zu dem zusammengefügt haben, was es ist?