25. Oktober 2014
Der angefaulte wurmstichige Apfel wird von der Startseite entfernt. Er könnte der Vergangenheit angehören, wenn ich nicht immer
wieder erfahren müsste - durchaus auch zu meinem Schrecken - wie gegenwärtig das Vergangene sein kann, ja, ich muss es so sagen:
einfach ist. Schon im Zusammenhang mit meiner Archivarbeit, begegnete mir das Zitat: «Das Vergangene ist nicht tot. Es ist
nicht einmal vergangen.» Von William Faulkner über Hans-Georg Gadamer bis zu Achternbusch scheint dieser Satz viele Väter und
natürlich auch eine Mutter: Christa Wolf, «Kindheitsmuster» zu haben. Aber die Urheber dieses Satzes sind nicht mein Problem,
sondern die Begegnung mit der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in Form von Angst in mir.
Der vergangene Herbst 2013
war für mich schreckenserfüllt. Eine kleine fast heile geglaubte private Welt in den schwierigen Auseinandersetzungen und
Streitereien auf dem Feld der Kulturpolitik bröckelte und entließ mich in die kalte Welt. Für mich gab es nur einen
Zufluchtsort, obwohl einige Stimmen mir genau diesen streitig zu machen versuchten: das Theater. Und nun kehrt der Herbst nach
einem Jahr wieder und erfüllt mich mit Schrecken. Es sind die in mein Körpergedächtnis eingebrannten Schmerzen des letzten
Jahres, die wie alte Narben sich melden.
Der Apfel verfault und stirbt - ich habe ihn vor über einem
Jahr fotografiert. Er zierte auch mein ask.fm-Profil
und nun soll er zur Vergangenheit werden, was er als Fotografie natürlich
nicht wird. Sie ist einer anderen Zeitlichkeit unterworfen als der Apfel am Baum, dem Wurm und Vogelschnabel nebst
Wetter und Witterung zusetzen.
Bei meinen Recherchen zur Quelle des obigen Zitats stieß ich auf eine interessante
universitäre Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades der Magistra der Philosophie von Stephanie Damianitsch:
Neo Rauch. (Geschichte)te Malerei. Mit Neo Rauch kann ich nicht viel anfangen. Seine Gegenstädnlichkeit erreicht nie
das Phantastische eines Salvador Dalí. Umso mehr aber konnte ich mit den Äußerungen der Autorin anfangen, die davon
schrieb, dass die Geschichte in den Werken Neo Rauchs nicht auf einer semantischen Ebene ablesbar sei. Vielmehr sei es
notwendig, die Idee eines linearen Zeitmodells sowie die traditionellen Vorstellungen von Bildnarration aufzugeben
und sich auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen einzulassen. Ja, hier folgen wir dem Konzept der
Postmoderne mit dem Zerfall der Großen Erzählungen.
Dabei wird aber keineswegs mein Erzählvorhaben kleiner. Ganz im Gegenteil ist die ZERFAHRENHEIT ein Fels, der mich auch
überrollen und erdrücken könnte, wenn meine Kräfte nachlassen. Ich habe sie nicht im Bewusstsein meiner Stärke angefangen und in
der Annahme, ich könnte die Last stämmen. Ich habe sie einfach angefangen.
In unserer projektorientierten und durchökonomisierten Welt ist es vielleicht ein befremdlicher Gedanke, aber man fängt
Dinge nicht an, weil das Ende abzusehen ist, sondern man fängt sie einfach an. Natürlich kann man sich auch einer
teleologischen Illusion hingeben. Aber wird nicht immer jedes Ziel zu einer Durchgangsstation für den Weg auf ein neues Ziel?
Da die Welt so unübersichtlich, vielfältig, vielschichtig ist, große Vernetzungen, gegenseitige Abhängigkeiten,
Interferenzen und sehr unterschiedliche Erscheinungen die Anschauung verkomplizieren oder sich ihr entziehen, gibt es
durchaus eine verständliche Abneigung gegen die postmoderne Philosophie und eine Sehnsucht nach der Linearität. Man will die
Erzählung nicht tot wissen, sondern immer wieder neu beleben. Ja, es gibt sie, und ein großer Erzähler, der sie am Leben
erhält. Die Kunst der Linearität wird gepriesen: ja, da gibt es Autorinnen und Autoren, die eine Geschichte zu erzählen
vermögen.
Ich kann mich weder ihnen noch ihrem Medium, dem Buch anschließen. Mich interessiert die Vielfalt der
Perspektiven und in dieser Vielfalt die Vielfalt der Erscheinungsweisen, das Verschwinden der Identität der Phänomene,
das Erscheinen der Differenz, die Elektrisierung der Luft im Keller durch ein Gewitter, das die Welt flackern lässt.
Mich interessiert die Fata Morgana, der geknickte Stab im Wasser, die Täuschung, der Irrtum, der Wahnsinn und die
Wirksamkeit all dieser Dinge. Der Organismus nicht als ein Funktionszusammenhang, sondern als ein Zusammenhang von
Disfunktionen. Selten ist in der Welt etwas Linear, es sei denn die Einfalt interpretiert sie so. Nicht umsonst
leben wir auf einer Kugel und müssten eigentlich wissen, dass jede Gerade gebogen ist. Nur auf dem Reißbrett des
Rationalismus sieht die Welt anders aus - modern, steril, linear, geradlinig, monokausal. Wir sind auf die
teuflische Zuflüsterung des Grüns unseres goldenen Lebensbaums überhaupt nicht vorbereitet und eingestellt. Wir lieben
das Grau der Theorie, der Technik, der Zukunft, der Architektur. Die Natur gefällt uns nur dort, wo sie gebändigt
erscheint, begradigt, mechanisiert, erklärt, auf das zweidimensionale Papier gebracht.
Ich aber suche die
Philosophie der Grausamkeit, dort, wo die Theorie lebendig wird und grün, wo sie sich selbst verlässt und etwas
Außerplanmäßiges wird. Vielleicht Improvisation. Vielleicht Zufall, vielleicht Mutation. Aber sind das nicht die
Dinge, die das Leben zu dem zusammengefügt haben, was es ist?