15. April 2014
Samstag war ein denkwürdiger Tag - auch ein merkwürdiger. Und er liegt auch heute nicht weit genug zurück.
Erst versuchten wir, einen Kurzfilm zur Vorstellung unserer Diskussionsveranstaltung
in unserer Kabarettwoche
hin zu bekommen und hatten dazu unsere liebe Kollegin Halyna Leontiy eingeladen,
die am 22. Mai 2014 über «Grenzen und Potentiale des deutsch-türkischen (Comedy-)Kabaretts für die multikulturelle
Gesellschaft Deutschlands» sprechen und mit uns diskutieren wird. Dann am späteren Abend eine kleine Begebenheit
in einer Begegnung. Ich suchte Kazım Çalışgan und traf auf Celal Erdoğan an der Treppe zum Büro,
der gerade im Begriff war abzuschließen und zu gehen. Ich erzählte ihm, dass ich mit Kazım sprechen wolle,
da ich das Gefühl hatte, er sei mit dem Filmexperiment unzufrieden. Celal sagte, er sei zwischendurch nach Hause gegangen,
würde aber um 23.00 Uhr zu Beginn der türkischen Nostalgie-Techno-Schlagerparty «Marjinal» wieder ins Theater kommen.
«Gut», antwortete ich, hatte gesehen, dass die DJ-Truppe schon alles vorbereitet hatte und schon Musik laufen ließ, «dann trinke
ich ein Bierchen und warte unten auf ihn». So verabschiedeten sich Celal und ich, wobei er sich noch darüber wunderte, dass ich
nicht im Büro warten wollte, sondern im Foyer, wo «Marjinal» stattfindet. Er weiß, dass ich diese spezifisch an die
Wurzeln türkischer Popkultur gehende Veranstaltungen eher meide wie der Teufel das Weihwasser. Er rief mir noch nach
«Du wirst immer türkischer». Er konnte unmöglich gehört haben, dass ich am Nachmittag bei den Aufnahmen zu Halyna Leontiy
schon gesagt hatte: «Ich kann das von mir behaupten; ich auf jeden Fall bin Türke! Du auch?»
Dann saß ich da ein Bier in
der Hand, am Tisch in der Nähe der Theke und hörte die Musik; Es war eine typische Musik für türkische Raki-Kneipen, die
in der Türkei «Meyhane» genannt werden. Sie sind ein ganz besonderer Teil urbaner türkischer Kultur; halb im Souterrain liegend
riecht es aus ihnen nach wunderbaren kalten Speisen mit Bohnen, Kichererbsen, Petersilie, Tomaten, Gurken, Schafskäse.
Auch diese Vorspeisen, die zu Raki serviert werden, damit man den Schnaps nicht auf nüchternen Magen trinkt und die
eine besondere melodramatische und melancholische Stimmung verbreiten, haben einen besonderen Namen: «Meze».
Wenn man das Wort «Gelage» für eine Trinksession in der Meyhane verwendet, weckt das automatisch falsche Assoziationen
Richtung griechisch-römischer Abende in der Antike oder an teutonisches Urgewaltsaufen an mallorcinischen Stränden; man
denkt dann an Jugendliche, die sich krakeelend in die Alkoholvergiftung saufen. Auch das Wort «Orgie» trifft die Sache
dieser urbanen Trinkkultur nicht. Wer in die Meyhane geht, bringt viel Zeit und die Ruhe mit sich, die ein gebrochenes
an großem liebesbedingten Weltschmerz leidendes Herz beschert. Gemütlich wird der Tisch gedeckt und der Raki serviert und
dazu läuft die große typische und auch kunstvolle Jammertalmusik, die eigentlich ein eigenes Genre innerhalb der türkischen
Musik bildet und -wie sollte man sie anders nennen?- Meyhane-Lieder heißt. Für europäische Ohren könnte man sagen:
das ist so etwas wie Carmina Burana für Türken ;) Nur hört sich das alles andere als nach Carl Orff an.
Ich fühlte mich in meine ganz frühe Kindheit versetzt, weil wir in Izmit in einer relativ finsteren Gegend in der Nähe
des Busbahnhofs und der Taxihaltestelle in einer Wohnung wohnten, an die ich, warum auch immer, keine sehr positiven
Erinnerungen habe. Dort gab es einige von diesen Kneipen, aus denen die besagte Musik drang. «Was für Tage muss ich
erleben», meinte ich zu meiner Kollegin an der Theke, «jetzt sitze ich in den Katakomben und höre türkische Kneipenmusik!»
«Das ist keine Kneipenmusik, sondern türkische Kunstmusik», empörte sie sich. «Wie?» meinte ich: «Ist das keine Meyhane-Musik?»
«Natürlich nicht. In der Kneipe hört man doch alle mögliche Musik!» blieb sie bei ihrem Standpunkt. Nuckelnd an meiner
Bierflasche schwieg ich. Was soll's? Ich kann meinen Weltschmerz aus einer Mischung Orient und Barock auch für mich behalten!
Doch wenige Minuten später kam unser stets gut gelaunter Kollege Ismail aus dem Backstage-Bereich ins Foyer, und
wie er an mir vorbei ging, blieb er noch kurz stehen und meinte zu mir: «Soll ich nicht schön den Raki-Tisch für uns
decken?» Ich umarmte ihn. Wenigstens einer, der mich verstand! Den Deutschen muss ich es lang und breit erklären
und kann ihnen doch nicht den Geruch von Raki und Vorspeisen in Kombination mit der besagten Musik in Nase und Ohren zaubern,
und die jungen Deutsch-Türken haben meine Türkei von vor 50 Jahren nicht erlebt - vielleicht auch deshalb nicht, weil sie
hier geboren sind. Ihre ersten Erinnerungen der frühen Kindheit tragen ganz andere Musik- und Geruchseindrücke in sich.
Ismail aber schien so «voll der Türke» zu sein, wie es mir meine Frau zu sagen pflegt, die kaum ein Wort Türkisch spricht,
aber noch in der Türkei geboren ist: «du bist voll der Türke!». «Voll der Türke» hat durchaus etwas
Selbstdiskriminierendes; aber so etwas
hat man eben, wenn man an sich kulturell bedingte negative Eigenschaften entdeckt, wie beispielsweise übertriebene,
pedantisch-penetrante Ordnungsliebe,
was man für «typisch Deutsch» hält wie auch die Pünktlichkeit.
Als Kazım schließlich und endlich kam, wunderte er sich auch ein wenig, mich auf der «Marjinal-Party» anzutreffen.
Und als ich bei einem Schlager aus grauer Vorzeit etwas gerührt dreinschaute, meinte er: «Du verwandelst dich
immer mehr zu einem Türken, nicht, dass du demnächst auch noch fünf mal am Tag zu beten anfängst.» Aber er versprach mir,
die Utensilien dazu wie Gebetsteppich -die feinsten und besten- zu besorgen, wenn es so weit ist.
Der Schlager jedoch war laut kreischend dieser:
Dieser Text sei dem Katakomben-Theater Essen gewidmet, wo man «voll zum Türken» werden kann ;)