Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
 
04. Februar 2021


Friedhof der toten Links

Alte Geschichten


Was genau ist Mythos?

Mal ganz lose und nicht an der strengen Kette einer logischen Argumentation gedacht: assoziierend und hier und da Definitionen erprobend, wie man in einer Boutique Kleider anprobiert, ohne genau zu wissen, ob man sie tatsächlich kaufen wird. Sie müssen passen, sie müssen einem stehen und sie müssen einem gefallen.

Der Mythos hat im Unterschied zu Religion und Wissenschaft den Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch schon in seinem Begriffsumfang. Eine Religion kann von außen als Mythos bezeichnet werden, die Religiösen selbst würden sie nicht als Mythos bezeichnen.

Religion und Wissenschaft verbindet ihr Anspruch auf Wahrheit. Was sie erzählen will nicht einfach erzählt sein, was sie behaupten, nicht einfach nur im Raum stehen gelassen, wie bestellt und nicht abgeholt - vielmehr will es einer außerhalb der Erzählung stehenden Realität entsprechen. Die Religion sagt: «Erkenne die Wahrheit meiner Aussagen an und dann wirst du diese Wahrheit auch erfahren!» Die Wissenschaft sagt: «Meine Wahrheiten sind schon fachkundig geprüft und gesichert, du kannst sie glauben.»

Der Mythos ist erst einmal bloß eine Erzählung. Er sagt: «Glaub mir! Oder lass es! Aber hör mir erst einmal zu!»

Gab es jemals einen Göttervater Zeus, den König quasi, der den Olymp gründete und seiner Gefolgschaft Ambrosia gab? Einen, der selbst das Kind eines Vaters namens Kronos war, der wahnhaft besessen, seine Kinder fraß, damit sie nicht aufwuchsen und später ihn töteten, wie er es mit seinem Vater getan hatte? Hierüber will niemand einen theologischen Disput führen - es ist zu offensichtlich, dass die Frage falsch gestellt ist im Zusammenhang mit dem Mythos. Der Mythos behauptet nicht, er lässt sich befragen: Wer war Zeus? Und darauf bekommt man eine sehr befriedigende Antwort.
Ein Mythos ist in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Erzählung. Im religiösen Mythos wird das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter oder Geister verknüpft. Mythen erheben einen Anspruch auf Geltung für die von ihnen behauptete Wahrheit.
(Wikipedia)
Ist das ein Widerspruch zu dem oben geschriebenen?
Nein!
Der Anspruch auf Geltung ist auf jeden Fall erhoben: «Glaub mir! Oder lass es!»
Und Wahrheit ist: Zeus ist der olympische Göttervater. Das ist so wahr, wie der Kreis rund ist. Niemand kann gegen diese Absolutheit des Geltungsanspruchs auf Wahrheit Zweifel oder Einspruch erheben. «Den Olymp gibt es nicht», ist kein gültiger Einspruch.

Der Mythos hat seine eigene Welt, und wer ihn befragt, tritt ebenfalls in diese Welt. Das haben Mythos und Fiktion gemeinsam. «Ist Dirty Harry Polizist oder Gangster?», lässt sich eindeutig und wahr beantworten, und der Satz «Dirty Harry gibt es nicht», ist ungültig. Wohl aber kann man sagen: Zeus ist Mythos, Dirty Harry ist Fiktion. Wodurch unterscheiden sich aber Mythos und Fiktion?

Mythen haben eine Affinität zum Transzendenten, Außergewöhnlichen, Überirdischen, Übersinnlichen, was implizit für eine reale Möglichkeit ausgegeben wird, wie das Legendäre zumindest historisch existent und wahr gewesen sein will. Die Fiktion kommt ohne die Existenz ihrer Inhalte und Figuren aus, der Mythos versucht eine implizite, latente Verobjektivierung ihrer Inhalte. Mythen sind aber zunächst einmal auch nur Erzählungen, wo sie Glauben im Sinne einer gewissen Religiösität erzeugen wollen, bezeichnen sie sich selbst nicht als Mythen. Der Mythos ist eine äußerliche Bezeichnung der Religion.
1. überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung aus der Vorzeit eines Volkes "ein alter heidnischer Mythos"
2. Person, Sache, Begebenheit, die legendären Charakter hat "Gandhi ist schon zu Lebzeiten zum Mythos geworden"
(Google Wörterbuch)
In der zweiten Bedeutung, insbesondere im Beispielsatz ist "Mythos" eher eine Metapher und dient nicht so gut dazu, den Begriff des Mythos zu beschreiben oder zu definieren. Der erste Satz verdeutlicht noch einmal sehr gut den christlichen Außenblick auf vorchristliche religiöse Geschichten und Erzählungen. Zum «heidnischen Mythos», zum Mythos überhaupt, werden sie erst durch die Außensicht einer anderen Religion.

Ich formuliere und fabuliere den griechischen Mythos etwas um, stütze mich dabei zwar auf das Lexikon der griechischen und römischen Mythologie von Herbert Hunger, erschienen in einer Lizenzausgabe bei rororo, 1974; Org.: Wien 1959, aber der Mythos wird zur Literatur, zur Fiktion und zur Rahmenhandlung der ZERFAHRENHEIT. Deshalb spreche ich von «Alten Geschichten», allerdings darf eine gewisse Doppeldeutigkeit ruhig bleiben. Alte Geschichten sind eben alte Geschichten.

Zynisch hat einmal jemand gefragt, ob man ein Lexikon brauche, um meinen Roman zu verstehen. Nein! Verstand genügt.
 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
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