Uri Bülbül

Von Salonchauvinisten und altenFreunden und die Frau als zu erobernde Terra incognita

Stand: 29. Juli 2004
Das Wichtigste ist schon längst gesagt, geschrieben, analysiert. Die Argumente ausgetauscht, die Bücher im Regal, und nun kann nur noch unvollkommen und stotternd zitiert und rezitiert werden. Schweigen ist angesagt. Die Erkenntnisse in Büchern gedruckt können dem Vergessen anheimfallen. Aufklärer und notorische Kulturoptimisten glauben an die Kraft der Argumente, an ihre Stichhaltigkeit, an Einsichten und an den gigantischen Wissensschatz, der zweifelsohne vorhanden ist. Was aber, wenn sich tatsächlich jeder nach Belieben aus diesem Schatz bedient, Dinge hervorkramt, aus dem Zusammenhang reißt, verzerrt und wieder in die Truhe zurückwirft? Was, wenn es gar keine ordnende Instanz gibt und auch nicht geben kann und was, wenn jeder Versuch zu ordnen lediglich zur Reglementierung und Bevormundung wird, wenn alles andere zum Totalitarismus und der Verzicht auf Ordnung im Vertrauen auf die Vernunft zum Chaos führen muß? Wer hier eine Alternative vermutet und glaubt, es gäbe einen Totalitarismus ohne Chaos - wer glaubt, er könnte sagen, ihm sei der Totalitarismus lieber als das Chaos, der täuscht sich gewaltig. Die Zementierung von Ordnung durch Mauern, Überwachung, Gewalt und Staatsterror ist lediglich der Anfang vom Chaos. Das ist die größte Niederlage der Vernunft, das Eingeständnis, daß sie nicht in der Lage ist, erkennend und orientierend zu wirken. Mir steht der Sinn nach einer Vernunft, nach einem Denken, was nicht ordnet und verordnet, sondern orientiert, ein Denken, das nicht das Chaos abzuschaffen trachtet, sondern sich im Chaos zuhause fühlt wie ein Fisch im Wasser. In Zeiten der Regression, Restauration und Reaktion wird eine rhizomatische Philosophie zu einem Unterfangen, das nur mit stoischer Ruhe oder besser: nur mit stoisch anmutender Ignoranz zu realisieren ist. 

Eigentlich wollte ich über eine ärgerliche Begegnung schreiben, die ich vor einigen Tagen im Schreibhaushatte. Dazu kramte ich sogar die «Dialektik der Aufklärung» aus der verstaubtesten Regalecke hervor und entfernte die klebrigen Kokonreste der Mottenlarven, die sich gerne zwischen den Seiten alter Bücher verpuppen. Vielleicht sind das die wahren Bücherwürmer. Ich hatte die «Angst des rechten Sohnes der Zivilisation» im Sinn, suchte also eine bestimmte Stelle, um damit meine Erzählung über meine ärgerliche Begegnung einzuleiten. Ich begann, mal wieder die Einleitung in die «Dialektik der Aufklärung» zu lesen, ließ mich von Adornos und Horkheimers prophetisch anmutender Sprache fesseln und suchte nach eigenen Worten für den zusammenhang zwischen Salonchauvinismus und Tatsachenfetischismus, als es zu einem Gespräch mit meiner Freundin über einen ganz anderen Aspekt des Ästhetikums kam, der mir inzwischen wichtiger erscheint, dem ich mich freudiger und interessierter widme, der mir neue Überlegungen verspricht, statt der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

Es widerstrebt mir aber ebenso, meine Begegnung nur als kleines privates Ereignis zu verstehen und wie über Privates so üblich aus Scham oder Höflichkeit besser zu schweigen. Zumal es ganz und gar keine private, sondern eine öffentliche Begegnung war.

Das Schreibhaus ist ein Verein zur Förderung der literarischen Bildung und schriftstellerischen Kultur, den ich mitgegründet habe. Neuerdings gibt es ein monatliches Treffen für Autorinnen und Autoren und Vertreter anderer Kunstrichtungen, das in Anlehnung an den altbekannten Stammtisch anderer Vereine und Vereinigungen schön distinguiert «Schreibtisch» genannt wird. Und dorthin gesellte sich ein scheinbar Interessierter, ein «rechter Sohn moderner Zivilisation», um es mit Horkheimer/Adorno auszudrücken, der sich offenbar von der Idee angezogen fühlte, ein rechtes Schreiben zu erlernen.

Der Betreffende sorgte zunächst mit inquisitorisch bohrenden Fragen, in denen immer Zweifel und Mißtrauen mitschwangen, dafür, daß sich die ganze Aufmerksamkeit der anwesenden Personen auf ihn konzentrierte, so daß er seine Weisheiten zum Besten geben konnte, die eine größtmögliche Literaturverachtung und positivistisch-rationalistische Borniertheit enthielten und die er teilweise mit wichtiger Miene verkündete.

Alle Bemühungen etwa rezeptionstheoretische Erkenntnisse ins Spiel zu bringen, die Hinweise, daß sich ein Gedanke mit der Sprache bildet und vom Zuhörer oder Leser erst verstanden werden muß, der Leser also einen wesentlichen Teil am Zustandekommen der Information trägt, waren vergebens und führten ihn immer nur wieder darauf zurück, daß die Sprache ein Medium sei, daß doch bitte schön Wahrheiten möglichst adäquat zu vermitteln habe.

Diese Diskussion allein hätte mich aber noch nicht aus der Fassung gebracht. In einer mehr als zehnjährige Praxis in der Literaturarbeit lernt man viele solcher Söhne und Töchter der modernen Zivilisation kennen, die sich der Literatur und der schriftlichen Sprache mit Ekel, Verachtung, Abscheu und Faszination zugleich annähern wie einer Vogelspinne, kurzum ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Vagheit, Phantasie, Fiktion, zu Sprache überhaupt haben. 

Was mich aus der Fassung brachte, war auch noch nicht der freche Nationalchauvinismus dieses Sohnes moderner Zivilisation, der sich an meiner flapsigen Nebenbemerkung, ich könne nicht erkennen, was das «Wieder» an der «Wiedervereinigung Europas», von der Angela Merkel so gerne spricht, zu bedeuten habe, Europa sei doch nie vereinigt gewesen, entzündete. Da flogen die Gegen«argumente», «Königsberg» sei ja schließlich eine deutsche Stadt und der Prager Schriftsteller Franz Kafka ein «deutscher» Schriftsteller... Nun ja, die Logik, daß jeder deutschsprachige Schriftsteller als «deutscher» Schriftsteller gilt und Europas «Wiedervereinigung» in der Konsequenz der deutschen Wiedervereinigung als nächster Schritt gedacht wird, sollte entlarvend genug sein. Man kann diese Form des Chauvinismus, der, mit christlichem Fundamentalismus angereichert, Grenzen für ein kulturell vereinigtes Europa am besten unter deutscher Hegemonie propagiert, ruhig für sich sprechen lassen und nur noch diese kulturell und geistig so einige Europa freundlich bitten, die geistigen Eigentumsrechte anderer- scheinbar fremder - Kulturen achtend auf Algebra und arabische Zahlen, ja schlichtweg auf das Dezimalsystem zu verzichten und sich die Mathematik auf der Grundlage der römischen Schreibweise für Zahlen neu zu erschließen.

Dieser Chauvinismus und europäische Fundamentalismus, über den ich eigentlich ausführlicher schreiben wollte, bis meine Freundin mich auf einen anderen Punkt im ÄSTHETIKUM aufmerksam machte, der auch mehr Aufmerksamkeit verdient, allein war es aber wie gesagt auch noch nicht, was mich aus der Fassung brachte, sondern das fleißige Zustimmen zweier altlinker Freunde zu der Position des rechten Sohnes moderner Zivilisation. Nach zahlreichen Krisen kam der eine, nach geschäftlichem Scheitern der andere, auf die Idee, sich in einer Neuorietierungsphase, im Schreibhaus umzusehen. Diese Freunde sind mittlerweile um die Vierzig und von gesellschaftlichem und ökonomischem Erfolg ebenso verschont geblieben wie von der Realisierung ihrer politischen und persönlichen Utopien. Nun schlagen sie sich ideologisch - man kann auch sagen: im Geiste - auf die Seite, die zur Zeit vielleicht wirklich Erfolg verspricht. Inzwischen könne er es gelassen sehen, wenn in Deutschland wieder die Nationalfahnen aus den Fenstern hängen, erzählte der eine und er könne sich nun einmal nicht dagegen wehren, er sei schließlich ein Deutscher. Eine Opportunität, die ich mir psychologisch zwar erklären, menschlich und moralisch aber nicht verstehen kann. 

Als besonders infam und demagogisch empfand ich, als einer der Freunde sogar meinte, mich mit meiner Favorisierung von kulturellem und politischem Internationalismus und Pluralismus in eine provinzielle Ecke stellen zu können, indem er mich fragte, ob ich schon einmal im Ausland gelebt hätte. Dort nämlich sei der Nationalismus viel stärker als in Deutschland. Als dieser Freund dann auch noch großzügig dem rechten Sohn moderner Zivilisation anbot, Hitlers «Mein Kampf» als PDF-Datei per Email zukommen zu lassen, wußte ich, daß manch eine zur Schau getragene Liberalität sich auch dialektisch in ihr Gegenteil verkehren kann wie bei Biedermann und den Brandstiftern, denen Biedermann höchstpersönlich die Streichhölzer zum Anzünden seines Hauses übergibt.

Mit einem Hinweis auf die Fehler anderer kann man die eigenen kaum aus der Welt schaffen oder relativieren. Mit dem Hinweis, es gebe ja überall Faschisten und diese seien noch viel schlimmer, kann man kaum den eigenen Faschismus rechtfertigen. Nicht anders verhält es sich mit dem Nationalismus, Chauvinismus und anderen politischen Widerwärtigkeiten.

Kurz schoß mir sogar der dumme Gedanke durch den Kopf, nicht mehr auf Deutsch schreiben zu wollen. Aber das Bild, das ich hier für diesen Freund benutzen möchte: er ist der Biedermann, der den Brandstiftern freundlich die Streichhölzer reicht, stammt von einem deutschsprachigen und Gott sei Dank nicht von einem «deutschen» Schriftsteller. Ich war noch nie stolz, undeutsch zu sein. Das wird sich bestimmt ändern. 

So gäbe es eigentlich noch eine Menge über dieses Thema zu schreiben: was es zum Beispiel einem genetisch türkischen und kulturell «undeutschen» deutschsprachigen Autor der Begriff der «geistigen Heimat» bedeuten kann. Da gibt es aber eben auch den Punkt, auf den mich Karin aufmerksam gemacht hat und der mich nachdenklich stimmt, mit dem ich aber die Ebene der Kulturpolitik verlassen und ein kulturphilosophisches oder ästhetisches Thema anvisieren muß.

 

Die vergegenständlichte Frau

Als ich meine Freundin in ihrem Büro aufsuchte, um sie abzuholen, war sie noch nicht ganz fertig, mußte noch Bücher in die Bibliothek tragen und bat mich, auf sie zu warten. «Du kannst ja im Internet surfen», sagte sie, klemmte sich ihre Bücher unter den Arm und ließ mich allein. Die beste Adresse ist meine eigene, sagte ich mir und wollte meine Seiten einmal auf einem fremden Bildschirm erleben. Das hat durchaus einen heuristischen Sinn, durch einen etwas ungewohnten Blick auf das Gewohnte, entdeckt man leichter Fehler, zumal sich solche auch schon durch unterschiedliche Browserdarstellungen und Bildschirmauflösungen einschleichen können. Virtuelle Seiten sind nun einmal dynamischer und auf eine gewisse Art auch flüchtiger als Buchseiten. Auch wenn Romantiker und konservative Bildungsspießer das gedruckte und gebundene Wort für das Höchste der kulturellen Leistungen der Menschheit halten, würde ich meine kleinen Flügelschuhe in HTML gegen kein gedrucktes und gebundenes Papier der Welt tauschen wollen, wenn man mich vor die Alternative stellte: entweder Buch oder Hypertext. Natürlich ist ein solches Entweder Oder gar nicht gegeben. Ich als postmoderner Sohndes 21. Jahrhunderts bevorzuge stets immer das Sowohl-als-auch. Also ging ich auf meine Seiten, um festzustellen, daß es keine sehr gute Idee war, bei den Frames den automatischen Rollbalken zu unterdrücken, weil auf der linken Seite beispielsweise das Impressum auf dem Bildschirm im Büro meiner Freundin aus dem Bild fiel. Bei dieser Gelegenheit warf ich auch einen Blick auf meine virtuellen Bild-Text-Synthesen unter dem Titel «gefiltert& geebnet». Halb selbstkritisch, halb selbstzufrieden, vielleicht sogar ein bißchen selbstverliebt betrachtete ich meine Werke, ohne ganz vergessen zu können, daß ich eigentlich ein grafischer Dilettant bin, als meine Freundin aus der Bibliothek zurückkehrte und elanvoll ein «Wir können!» in den Raum rief.
«Halt», sagte ich, «nur langsam. Ich bin mit der Betrachtung meiner Seiten nicht ganz fertig. Hast du übrigens meine neuesten Gefiltert-und-geebnet-Seiten schon gesehen? Beispielsweise die Serie «Vermauerungen» mit dem «Trost des Solipsisten» als «Schlupfloch»». Hatte sie natürlich schon. Es ist wie eine beziehungsrelevante Pflichterfüllung, die man um des innerfamiliären Friedens Willen absolviert, wie man Weihnachten und Ostern zu den Großeltern fährt. Täte man es nicht, würde einem wirklich etwas fehlen. Macht man es, ist es ein bißchen langweilig und ein bißchen routiniert und selten gibt es dabei etwas Aufregendes. Aber diese Haltung reizte mich natürlich zu einer kleinen Rezitationskapriole, zumal Karin zugeben mußte, daß sie das «Schlupfloch» nicht entdeckt hatte. Also wurde der «Trost des Solipsisten» mit dem gehörigen Pathos vorgetragen: Da ist von einer wirklichen Alternative zum einsamen Sein die Rede, von einem heiligen Ort und von der Zweisamkeit mit einem den Solipsisten immer und immer wieder täuschenden Gott. «Ja», sagte Karin. Der Text schien ihr gefallen zu haben. Sie schmunzelte. Sie gehört nicht gerade zu denjenigen, die über meine philosophischen Witze, sich köstlich amüsieren können, und fügte hinzu: «Der Solipsist ist sein eigener Gott». «Das wird ein neuer Text!» rief ich begeistert, «Und der heißt dann: «Die Tragödie des Solipsisten» Der Geist implodiert, weil er sich denkend und meditierend zu einem schwarzen Loch entwickelt, zu einer gigantischen Masse ohne Ausdehnung, die allesin sich aufsaugt und nichts außerhalb seiner selbst bestehen läßt.» Für die wilden Idealismen erntete ich wieder ein Schmunzeln, für den Schatten auf der ersten Seite der «Vermauerungen« allerdings eisiges Schweigen. Ebenso für «Abschiedbei Nacht» für das zweite Text-Bild aus der Serie «Hermesbei Nacht».

Über die Diskussion, die darauf folgte, gilt es nun nachzudenken. Karin stellte eine gewisse Vergegenständlichung der Frau in den Bildern des «gefiltert & geebnet» fest, die ich weder leugnen kann noch will. In der Tat habe ich dies selbst schon in «DerAugen Blick» zu thematisieren versucht, wenn es auch das Problem, das Karin ansprach nicht weit genug auslotet. Das ist auch nicht so einfach möglich, da das Thema viel zu komplex ist, als daß ich es in einer einzigen Arbeit ausloten könnte. Auch hier werde ich in der Nachbetrachtung mehr Fragen aufwerfen, als Antworten geben können.

Der Augenblick kann zeitlich als Moment verstanden werden aber auch kommunikativ als die Art des einen, den anderen anzusehen. Ich trug mich auch schon recht schnell mit dem Gedanken, das zusammengesetzte Substantiv getrennt zu schreiben, womit der Artikel zum Ausdruck eines Genitivs wird: Der Augen Blick. Der Blick der Augen, die Art und Weise also, wie die Augen jemanden anschauen, in poetischer Inversion. In dieser Schreibart findet sich der Ausdruck auch im Titel der Seite. Auf dem Bild eine Frau in ein Rauhfasertapetenmuster eingebrannt, zusammengekauert und selbst den Betrachter anschauend und auf ihrem Körper verteilt fremdartige farbige Flecken, für mich die Symbole des fremden Blicks auf ihr im wahrsten Sinne des Wortes. Der Ausdruck einer schieren Unmöglichkeit mit den Augen weiter oder tiefer zu sehen. Betrachtet man die Flecken als Pusteln, als Ausschlag der Haut, was eigentlich kaum sein kann -dazu wirken sie zu fremdartig-könnte man auch auf die Idee kommen, daß der Blick der Augen die Frau empfindlich stört, daß sie allergisch darauf reagiert. In jedem Fall aber gehören die Flecken nicht zu der Frau. Sie sind ihr fremd. Das Thema im Text des blauen Bildes ist in dieser Hinsicht sogar eindeutig, spricht aber nicht einfach nur den Blick der Augen an, sondern den fotografischen Blick durch die Linse. Ich habe bestimmt nichts dagegen, wenn jemand diese Stelle nicht als Fotografiekritik interpretiert, sondern die Linse als fotografische Linse zur Metapher für einen gewissenVoyeurismuswerden läßt. Ob fotografisch oder anderswie oberflächlich, also nicht ein Blick als Kommunikationsmittel, indem man etwa sagt: Sie tauschten vielsagende Blicke aus. Der hier gemeinte Blick will festhalten, erfassen, einfrieren oder einbrennen. Und geht insofern sogar weit über einen einfachen Voyeurismus hinaus. Sein Ziel ist eine Verobjektivierung nicht im erkenntnistheoretischen Sinne, sondern tatsächlich als reine Vergegenständlichung. Die Frau in der Tapete als reine Oberfläche bei einer vergegenständlichenden, oberflächlichen Betrachtungsweise, die keine Kommunikation sucht, sondern «seinen» Gegenstand nach der Willkür der eigenen Libido abtastet. Der Text aber hat durchaus eine innerliche Dimension; Sein lyrisches Ich ist das Ich der Frau mit der deutlichen Bekundung des Mißfallens der Blicke durch die Linse (metaphorisch gesprochen). Das zweite, das rosa Bild ist wie eine zweite Strophe eines Gedichts mit der Frage «Wann erkennen? Wann den Blick abwenden?» Erkenntnis kann da nur bedeuten, daß der Blick durch die Linse unerwünscht ist. Vergegenständlichung nein, Kommunikation ja. Denn immer, wenn ich mich beim Betrachten des Bildes auf die Augen der zusammengekauerten Frau konzentriere, sehe ich auch eine «Einladung» und nicht nur eine Abweisung. Die Frau zieht sich nicht eine Decke über den Körper und Kopf; Sie will nicht gänzlich vor dem Blick verschwinden. Da ist im Bild noch etwas anderes, worüber der Text schweigt.

Aber trägt nicht genau dieser Punkt die Handschrift eines Chauvis? Wie ich Karin verstanden habe, hatte sie nicht einmal so sehr dieses Bild «Der Augen Blick» im Sinn, als sie meine Text-Bild-Synthesenkritisierte, sondern ging von einem Gesamteindruck aus, der auch durch «Abschied bei Nacht» vermittelt wurde. Aber auch die «Traumfrau» -oder gerade sie!- lädt zu diesem Urteil ein. Die Frau, vergegenständlicht zum Lustobjekt, präsentiert sich dem männlichen Blick. Aber man kann dennoch nicht sagen, daß er auf seine Kosten käme. Die Frau liegt wahrscheinlich nackt auf dem Sofa, ihre Körperhaltung und was man von der Brust erkennen kann deuten daraufhin. Aber das Bild wird von dem dominiert, was hinter der Frau liegt: ein Fenster mit einem Garten in herbstlichen Farben und einem überdimensionierten, schemenhaften Alptraumgesicht. Der männliche Blick kommt in seiner Zentralperspektiviertheit nicht umhin, diese veräußerlichte Innerlichkeit derjenigen, die auf dem Sofa liegt wahrzunehmen. Man kann sich natürlich fragen, warum ausgerechnet die veräußerlichte Innerlichkeit der Frau alptraumhaft erscheinen muß. Vielleicht liegt die Antwort eben im besagten männlichen Blick. Ihm ist der eigene Wille, die Innerlichkeit dessen, was er als Gegenstand besitzen und beherrschen möchte (gleich seinem Auto) ein Graus. Mein Nachbar sagte einmal, sein Auto «zicke» weniger als eine Frau, vergegenständlichte damit in einem Atemzug die Frau und personifizierte sein Auto.

Karins Kritik, mein Blick richte sich zu sehr auf die Frau oder auf Frauen, wodurch sie vergegenständlicht würden, ist nicht von der Hand zu weisen. Ich würde aber sagen: das ist durchaus ein Hauptthema von «gefiltert & geebnet». Es geht mir keineswegs darum, bei der Vergegenständlichung der Frau stehen zu bleiben und damit dem Chauvinismus Vorschub zu leisten. Karin meinte, die Vergegenständlichung enthalte notwendigerwiese den Chauvinismus in sich, ganz gleich, ob ich ihn intendierte oder nicht. Wenn Personen wie Gegenstände dargestellt würden, wäre es auch die logische Konsequenz, sie nicht als Personen zu behandeln, sondern als willenlose Gegenstände. Mann könne die Frau dergestalt nicht anders wahrnehmen als ein zu besitzender und beherrschender Gegenstand. Also nicht als Person mit eigenem Willen und eigener Innerlichkeit.

Dem möchte ich nicht widersprechen, sondern nur ergänzend hinzufügen:  Das Subjekt sucht in seinem Gegenüber aber nicht einfach nur und ausschließlich einen reinen Gegenstand als Lustobjekt. Eine bis zur Leblosigkeit vergegenständlichte Frau, über die ein Mann verfügen kann wie über eine steife Statue, verschafft in der Regel keine Befriedigung. Es geht um eine ambivalente Vergegenständlichung. Die Frau soll ihren Willen vollständig dem des Mannes unterordnen, und insofern wird sie vergegenständlicht. Aber sie soll auch eine dem Mann angenehme und ihn bestätigende Subjektivität behalten. Das Subjekt sucht also in seinem Gegenüber auch seine Bestätigung. Ein untergeordneter Wille verschafft Bestätigung und Befriedigung, nicht ein ausgelöschter. Die Aktionen der Frau können durch dieVergegenständlichung nicht als eigenständige Willensäußerungen wahrgenommen werden, sondern immer nur als Reaktionen auf ein bestimmtes Verhalten des Mannes. Hier sei ein Vergleich mit dem Auto erlaubt: es kann nicht selbständig etwas wollen, Ziele formulieren und agieren. Es kann nur dem Willen des Fahrers untergeordnet «handeln». Alles andere sind entweder Fahrfehler oder Funktionstsörungen und Defekte. So tritt der chauvinistische Mann auch der Frau gegenüber. Wenn er eine negative Reaktion auf sein Balzverhalten erhält, interpretiert er es nicht als eine Willensäußerung der Frau, sondern entweder als seinen Fehler und sein Unvermögen, die Frau richtig, also sachgemäß anzubalzen oder als Funtionsstörung der Frau. Sie gilt dann als frigide, dumm, eingebildet etc. Interpretiert der Mann die ablehnende Willensäußerung der Frau als eigenes Versagen, so versucht er keineswegs immer, sein Verhalten zu korrigieren, sondern entwickelt eine Aggression gegen die Frau. Natürlich können diese Verhaltensmuster auch kombiniert auftreten, so daß der Mann erst sein vermeintliches Fehlverhalten zu korrigieren versucht, dann aber auf einen Erfolg insistiert und eine erneute Rückweisung mit aggressivem Verhalten quittiert. Schüchternheit, die auf Versagensängste bei Flirtversuchen zurückgeht, wird durch den Diskurs generiert, daß Männer alle Fäden in der Hand halten und Erfolg und Mißerfolg des Flirts von ihrem Geschick abhängt. Die vergegenständlichte Frau wird hier nicht anders als eine Marionette gedacht, die auf die geschickten Züge an den Fäden entsprechend reagiert. Widerspenstigkeit ist so gesehen nichts anderes als Widerstand, den auch mechanische Gegenstände dem menschlichen Willen entgegenbringen können wie verrostete Schrauben, die sich nicht aufdrehen lassen, Autos, die nicht anspringen, Bleistiftminen, die ständig abbrechen etc. Hier neigt man dazu, die «widerstehenden» Gegenstände zu personifizieren und entwickelt eine Wut, als hätten sie einen eigenen Willen. Es ist ein ambivalentes Verhalten, das so an den Tag gelegt wird. Dinge werden personifiziert und Personen vergegenständlicht. Einen Grenzfall zwischen Ding und Person bilden Körperteile, die manchmal fetischisiert werden und manchmal nur eine Personifizierung und Vergegenständlichung zugleich erfahren -sozusagen eine Vergegenpersonifizierung wie Beispielsweise der Penis.

Ich muß mich nun auch fragen lassen, ob ich nicht mit meinen Bild-Texten der Perpetuierung des männlichen bzw. chauvinistischen Blicks Vorschub leiste.

Für mich stellt sich hierbei zunächst die Frage, ob «männlicher» Blick und «chauvinistischer» Blick synonym sind. Bevor ich aber dieser Frage nachgehe, möchte ich zunächst ausdrücklich festhalten, daß es mir bei meinen Ausführungen und Überlegungen nicht um eine Rechtfertigungsstrategie für meine Bild-Texte geht. Sie sind, was sie sind und sind völlig der freien Betrachtung und Interpretation des Publikums überlassen. Ich werde sie nicht zurücknehmen, werde sie nicht überarbeiten und ihre Ästhetik einer vermeintlichen politischen Korrektheit unterwerfen. Ich muß sie weder ideologisch verwerfen noch verteidigen. Beides würde einer Erkenntnisgewinnung im Wege stehen. Ich muß die bisherigen Bild-Texte als Ausdruck oder Symptom einer bestimmten Entwicklungsstufe sehen und kann meine Meinung über sie ändern, ohne daß ich deswegen die Bild-Texte überarbeiten muß. Sollten sie tatsächlich dem chauvinistischen Blick Vorschub leisten, so kann ich nur sagen, daß dies nicht in meiner Absicht lag. Aber ästhetische Arbeiten folgen nicht monokausal einer Autorenintention. Vielmehr sind sie vielschichtig, was mit sich bringt, daß die Bandbreite der Rezeptionsmöglichkeiten, die zum Teil nur im Konzept angelegt sein können, die Intentio auctoris weit überschreiten. Der Autor verrät oder bewirkt Dinge, die nicht in seiner Absicht lagen. So kann durchaus auch mein möglicher latenter Chauvinismus durch die Werke zutage treten. Würde sich aber ein Kunstwerk auf die intentio auctoris reduzieren lassen, würde seine Ästhetik gegen Null gehen. In meiner Absicht liegt es nicht, den Chauvinismus zu fördern und ihm Vorschub zu leisten. Das allerdings hat mir Karin auch keinesfalls vorgeworfen. Ihre Kritik, so verstehe ich sie, setzt an meinem Unbewußten, und am Werk Ungewollten an. Wenn ich unter dem Gesichtspunkt der geäußerten Kritik meine Werke selbst interpretiere, beginnt hiermit für mich auch eine selbstkritische Selbstinterpretation, die Neues zutage fördern kann, wenn denn die Kritik nicht vollkommen sinnlos verpuffen soll.

Meine Überlegungen sollen also der Erkenntnisgewinnung und nicht der Rechtfertigung dienen. Wenn ich hypothetisch zwischen dem «männlichen» und dem «chauvinistischen» Blick distinguiere, dann nicht, um mir persönlich den «männlichen» und anderen den «chauvinistischen» Blick zuzuschreiben, sondern nur um die Möglichkeit zu bedenken, ob diese beiden Begriffe unterschiedlichen Gehalts sein können, selbst wenn sie zur Zeit auf dasselbe Phänomen referieren. Daher lautet meine hypothetische Überlegung: Müssen«männlich» an sich und «chauvinistisch» an sich ihrem Begriff nach dasselbe sein?

Mit der Formulierung «an sich» idealisiere ich die Begriffe des Männlichen und Chauvinistischen, d.h. ich löse sie von ihrer Referenz auf reale Gegebenheiten und Zusammenhänge ab, um Denkräume für Möglichkeiten zu schaffen, die zwar zur Zeit nicht real sind, aber vielleicht prinzipiell realisierbar wären. Dabei geht es mir keinesfalls um die Utopisierung der Geschlechterverhältnisse, sondern um denkbare Möglichkeiten, eben um Denkräume, die potenziell ihre Realisierbarkeit in sich enthalten. Gäbe es eine geschlechtergebundene anthropologische Konstante in den Geschlechterverhältnissen und könnte der männliche Blick essentiell nicht anders sein als chauvinistisch, ergäben sich daraus andere philosophische und praktische Konsequenzen als wenn man davon ausgeht, daß das Männliche und Chauvinistische an sich, also dem Begriff nach, nicht identisch sind. Es geht hier aber, und das darf man nicht vergessen, um eine philosophische Idealisierung, um Abstraktion von den realen Verhältnissen und von der konkreten Situation. Die praktische Konsequenz daraus, daß das Männliche und das Chauvinistische nicht nur in der konkreten Gegebenheit, also realiter, sondern auch in dieser idealisierten Abstraktion identisch seien, wäre, daß man nur politische, praktische Maßnahmen ergreifen könnte, um das Männliche zu bändigen und seinen Chauvinismus in Schrankenzu weisen. Die philosophische Prämisse hierbei wäre die unabänderliche, ewig gleichbleibende, metaphysische Natur des Männlichen als ein chauvinistisches Männliches. Diejenige philosophische Prämisse, die das Männliche idealiter vom  Chauvinistischen trennt, impliziert die Möglichkeit der Veränderbarkeit des Männlichen. Gesucht wird also idealiter eine Männlichkeit ohne Chauvinismus.  Hier soll gar nicht sosehr das Bild einer solchen Männlichkeit skizziert werden. Wichtiger ist über die Bedingungen ihrer Möglichkeit nachzudenken und Fragen aufzuwerfen, die beantwortet werden müßten, wollte man sich darüber Klarheit verschaffen, ob Männliches vom Chauvinismus getrennt werden kann.

Charakteristisch für den chauvinistischen Blick ist die Vergegenständlichung in Verbindung mit dem Machtdiskurs. Sowohl die soziale als auch die ökologische Umwelt wird als ein beherrschbarer und zu beherrschender Gegenstand angesehen, dessen man sich nach den eigenen Bedürfnissen willkürlich bedienen kann, wenn man sich dessen zu bedienen versteht. Es gilt, sich die Welt Untertan zu machen. Rücksichtslosigkeit, Geschicklichkeit, Kenntnisse über die Techniken des Umgangs gewährleisten Unterwerfung und Beherrschung. Die Frau erscheint da in ihrer subjektiven Unabhängigkeit und Innerlichkeit mit eigenem Willen als unberechenbar und unbekannt und wird mit dem Topos des unbekannten Landes beschrieben und eben als Terra incognita der chauvinistischen Eroberungslust und Machtgier anheim gegeben. Das Unbekannte muß erobert und beherrscht, urbar gemacht und das Wilde gezähmt, domestiziert werden. Erotik, Sexualität, Partnerschaft fallen im Chauvinismus unter das Machtkalkül.

Berechnung, Beherrschung, Macht, Unterwerfung charakterisieren aber nicht nur den Umgang zwischen den Geschlechtern, sondern die meisten menschlichen Bereiche. Der Umgang mit der Natur wird ebenso unter denselben Aspekten gesehen, wie wirtschaftlicher Umgang, Sport oder Bildung. Die Vermutung, daß das Verhalten zwischen den Geschlechtern und die Sexualität gesellschaftlich überformt sein könnten liegt nahe. Aber dieser Vermutung wird die metaphysisch- essentialistische Behauptung entgegengestellt, der Mensch sei nun einmal so - die ganze Natur sei so geordnet. Erkenntnistheoretisch läßt sich diese Behauptung relativieren, wenn nicht gar widerlegen. Es ist nur eine bestimmte Sichtweise, die die Phänomene so erscheinen läßt, als seien sie im Wesentlichen Phänomene der Macht und der Beherrschung. Unter einem bestimmten Blickwinkel interpretieren wir die Natur so. Vergegenwärtigen wir uns, daß wir keine wertneutrale, von jeglicher Interpretation freie Geschichte von Natur und Gesellschaft haben können. Niemand ist in der Lage, aus eigener Erfahrung oder wissenschaftlich empirisch gesichert eine Aussage darüber zu treffen, «wie es immer schon war». Wir schreiben Geschichte aus derselben Perspektive, mit denselben Vorurteilen, wie wir auch sonst gewohnt sind, die Welt zu sehen. Das heißt Geschichte hängt von der Weltanschauung ab und liefert uns immer nur das, was wir zu wissen glauben. Aus der Geschichte lernen zu wollen oder Geschichte als Beweis anzuführen birgt immer die Gefahr, in sich zirkulär zu werden, als wollten wir sagen: wir lernen aus dem, was wir schon immer gewußt haben. Und die essentialistische Behauptung, der Mensch sei nun einmal so und könne sich nicht ändern, verdreht eine bestimmte Interpretation der Geschichte und verabsolutiert sie, um konservativ die herrschenden Verhältnisse zu zementieren und reaktionär andere, reformerische Ansätze zu blockieren. Gerade die Anpassungsfähigkeit von Lebewesen wird andererseits angeführt, wenn es darum geht eine Position zu favorisieren, in der die normative Kraft des Faktischen zum Affirmationsgegenstand erhoben wird. Anpassen sollen sich diejenigen, die von den Verhältnissen beherrscht werden. Eine philosophisch schlüssige Theorie für essentialistische Behauptungen gibt es nicht. Der Hinweis darauf, daß die Zustände bisher einen solchen Essentialismus zu bestätigen scheinen, kann damit zurückgewiesen werden, daß die Zustände zum einen so interpretiert werden, wie sie angeblich seien und zweitens gilt für diesen Hinweis, das Induktionsproblem. Die Tatsache, daß etwas bisher immer der Fall gewesen ist, ist nicht ausreichend, um als Beweis zu gelten, daß dieser Fall auch immer Bestand haben wird. Der erste Teil des Satzes: «eswar schon immer so, und es wird auch so bleiben», mag vielleicht noch wahr sein. Doch läßt sich daraus der zweite Teil keinesfalls zwingend notwendig ableiten. Wenn Männlichkeit und Chauvinismus immer schon identisch waren, was eigentlich auch nur eine Interpretation der Umstände unter einem bestimmten Blickwinkel ist, so kann man daraus keinesfalls mit Gewißheit ableiten, daß dies auch so bleiben muß. Durch die fehlende Stichhaltigkeit dieser Position eröffnet sich ein Denkraum für die Möglichkeit einer Männlichkeit ohne Chauvinismus.

Einen Sachverhalt zu denken, setzt ihn aber nicht als wahr in die Welt. Was ich hier schreibe, ist keine Wahrheitsbehauptung, sondern eine Möglichkeit. Eine, über die nachzudenken sich lohnt.

Gesetzt den Fall, idealiter könnte man Männlichkeit und Chauvinismus voneinander getrennt denken, ist die Frage naheliegend, unter welchen Umständen sich denn diese Trennung auch realiter vollziehen könnte. Was kann also den Ausschlag dafür geben, daß sich der chauvinistische Blick im männlichen Blick zurückbildet, sich von ihm abtrennt und letztlich ganz aus ihm verschwindet? Ein wichtiger Grund hierbei könntedie Veränderung realer Machtverhältnisse sein. Wenn sich immer mehr Frauen weniger gefügig zeigen, aus Rollenverhältnissen ausbrechen, die ihnen zugeschrieben werden, müssen diese Erfahrungen durch Männer verarbeitet werden. Brüskierungen, Frustrationen, Irritationen können durchaus Denkprozesse auslösen. Allerdings bewegen wir uns hierbei noch viel zu sehr auf rationalistisch-aufklärerischem Niveau. Bei der Veränderung von Lebenseinstellungen aber, und um nichts Geringeres handelt es sich hierbei, reichen abstrakte Erkenntnisse nicht aus. Selbst wenn ein Mann es lernt, sich äußerlich politisch korrekt zuverhalten, nicht frauenfeindlich zu äußern und keine Vergegenständlichung der Frau intentional vordergründig und offensichtlich zu betreiben, bedeutet das nicht, daß sich sein libidinöses Empfinden geändert und er eine andere Lebenseinstellung verinnerlicht hat. Eine begriffliche, eine rationalistische Aufklärung kann da wenig helfen. Die Frage ist fundamental oder radikal zu stellen: wie verändern sich Triebstrukturen?

Tatsächlich thematisiere ich in meinen Bild-Texten die Frau als Gegenstand der Lust, der Begierde. Es ist mein erotisches Interesse, das sich auf die Frau richtet. Wenn ich dadurch intuitiv die Frau vergegenständliche, wie es Karin monierte, dann nicht zuletzt deshalb, weil ich unterbewußt in meiner Erotik und Sexualität ebenfalls gesellschaftlich überformt bin. In den von mir geschaffenen ästhetischen Gebilden tritt dies unbeabsichtigt in die Allgemeinheit, in die Öffentlichkeit, verläßt den privaten Raum. Das Ästhetische spricht das Intuitive aus, weil sich das Intuitive nicht von der Rationalität völlig beherrschen und reglementieren läßt und wird verräterisch. Das allerdings gehört zum Kunst- und Literaturschaffen dazu. Wem hier die nötige exhibitionistische Ader fehlt und wer sich hier verraten und entblößt fühlt, kann nicht frei Kunst schaffen. Ohne meine Text-Bilder wäre etwas in Schweigen gehüllt geblieben und hätte sich der Wahrnehmung und der Erkenntnis entzogen. Ich kann aber auch sagen: das hätte mich der Erkenntnis entzogen. Ich wollte meinen Blick zunächst nur als lustvoll und erotisch interessiert beschreiben. Ich wollte sagen: «Der männliche Blick ist nicht interesselos, aber ist er deswegen automatisch chauvinistisch?» Dann aber sind Fragen und Gedanken aufgetaucht: Wie bin ich sozialisiert? Wie habe ich gelernt, meine Interessen zu artikulieren und durchzusetzen? Wie bin ich in meiner Erotik und Sexualität geprägt worden? Warum bin ich zum Beispiel nicht homosexuell? Warum reagiere ich auf weibliche und nicht auf männliche Reize? Warum begreife ich manche Phänomene überhaupt als «weibliche Reize»? Wie konstituiert sich «das Weibliche»? Wie ist meine erotische Wahrnehmung zustandegekommen? Warum empfinde ich die eine Frau als schön und attraktiv und eine andere nicht? Was hat mein Begehren geprägt? Sind das anthropologische Konstanten? Kann man Sinnlichkeit als rein individuelle Gefühlsregung ohne gesellschaftliche Konstituenten und Faktoren, mit einem anderen Wort: ohne gesellschaftliche Überformung begreifen? Nach welchen Verhaltensmustern kann ich mich auf eine Frau zubewegen? -mit ihr kommunizieren? Wird jeglicher Kommunikationsakt zugleich zu einer chauvinistischen Vergewaltigung? Ist es sinnvoller, auf jegliche erotische Interaktion zu verzichten und sich in Askese zurückzuziehen? Oder sollten wir keinerlei Fragen stellen, die Dinge nicht ansprechen, damit wir in der Maskerade des Schweigens und Verschweigens frei agieren können?

Wir verlassen das Büro meiner Freundin, gehen den langen Gang zu den Aufzügen. Sie sagt, sie möge den Text des «Abschiedsbei Nacht». Allein wegen der Frage: «Gehst du, Desdemona?» könnte sie den Text schon in ihre Miniaturenanthologie aufnehmen. Der Zufall und der Regen werden es schon einrichten, heißt es da,und ich denke an meine derzeitige Lieblingsfigur, die immer wieder von Hermes heimgesucht wird - alptraumhaft.

Über diesen Essay ist auch eine Diskussion im Kulturprogramm-Forum möglich.

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