Kein Zufall ist es, dass ich Écriture Automatique für mich entdeckt habe. Nicht alle Regeln dieser surrealistischen Kunst
möchte ich übernehmen und habe es auch nicht, also betreibe ich womöglich eher so etwas wie eine Écriture Variomatique. Dieses
Schreiben und dieses Schreibenwollen gehen ja nicht spurlos an meinem planerischen Verstand vorüber. Ich weiß zwar nicht, wann
genau ich mich wieder an einen «Blindtext» setze, wie ich meine autmatischen Schreibereien so gerne nenne, ich mag diesen Namen
sehr, er erinnert mich an den blinden Seher Theiresias und dass man paradoxerweise in der Blindheit mehr sehen im Sinne von
Erkennen kann als die Augen oberflächlich zu übermitteln in der Lage sind. Das Auge, ein so wichtiges Organ der Sinneswahrnehmung,
von dem man sogar sagt, es esse mit, so dass es sogar an der Nahrungsaufnahme elementar beteiligt sei, dieses Auge gerät
in der Erkenntnistheorie ins Zwielicht. Und am Ende steht als Symbolfigur Theiresias, der blinde Seher. Und auch Ödipus sticht sich
die Augen aus, weil sie ihm nicht die Wahrheit gezeigt haben. Die Blendung aber hat in der archaischen politischen
Rechtsauffassung auch etwas anderes zu bedeuten: der König bestraft sich aufs Härteste selbst, um dem Tod durch die Bestrafung der
Polis zu entgehen, der er vorstand und für die er verantwortlich war, aber für deren Wohlergehen er nicht sorgen konnte. Das hat mich
schon sehr früh an der Ödipus-Tragödie beeindruckt - die Anfangsszene vor dem Palast an den Treppen versammeltes Volk und
König Ödipus tritt aus dem Palast; ein Priester aus dem Volk übernimmt die Wortführung und spricht für das Volk: die Pest
wütet in der Stadt, ein Fluch lastet auf Theben und niemand ist scheinbar in der Lage dieses Fluch aufzulösen und für das
Wohlergehen zu sorgen - auch der König nicht! Und dann kommt die entscheidende Aussage, die für mein Deutungsgefühl auch eine
stillschweigende Drohung enthält: «Wir wollen dich, Ödipus, nicht als jemanden in Erinnerung behalten, mit dem wir aufstiegen
und wieder fielen!» Ödipus reagiert darauf mit Verständnis und antwortet, dass das Wohlergehen der Stadt ihm mehr am Herzen liege
als sein eigenes und dass er im Palast nicht ruhig schlafe, sondern dafür sorgen wolle, dass es der Stadt bald wieder besser
geht und er nichts unversucht lassen werde. Der Autor dieses Dramas Sophokles - selbst ein Staatsmann und Politiker! Und mich
hat dieses Politikverständnis tief berührt, als ich es das erste Mal für mich realisiert hatte, sah ich einen solchen
staatsphilosophischen Sachverstand in der gegenwärtigen Demokratie nicht schalten und walten. Korruption, Dilettantismus und
Oberflächlichkeit hatten in dem Staatswesen, was sich selbst für das Beste der Welt und der Weltgeschichte hielt, längst
das Sagen übernommen. Die Dekadenz der bürgerlichen Demokratie in der Bundesrepublik war längst allgegenwärtig geworden und
das Aufhalten des Erosionsprozesses schier in utopische Ferne gerückt. Und wir zeichneten da erst die erste Phase der
Kohlära mit der sogenannten Parteispendenaffäre und meineidigen Ministern, die sich beim Kassieren auf Erinnerungslücken
beriefen! Wir schienen noch weit entfernt von der informationstechnischen Revolution, vom Internet, Youtube, Google, Facebook
und weiteren sozialen Netzwerken und Wissens- und Informationsmaschinen, von Social Engineering und der Berechnung menschlichen
Empfindens und Verhaltens. Die Dinge waren im Anmarsch und vielleicht musste man überhaupt kein Prophet sein und kein blinder
Seher, um sie zu erkennen, GLOBAL 2000 lag als Bericht des Club of Rome an den US-Präsidenten vor, die Situation wurde dramatisch
aber die Entwicklung nicht als unumkehrbar geschildert. Vielleicht aber konzentrierten sich die Forscher zu sehr auf Ökonomie
und Ökologie und ließen die staatlichen Strukturen unberücksichtigt, politologisch gab es keinerlei Analysen darüber, wie die
Demokratien und staatlichen Strukturen weiterzuentwickeln seien, damit überhaupt die ökologisch wie ökonomisch erforderlichen
Veränderungen durchgeführt werden können. Ich könnte nun an die «Antiquiertheit des Menschen» denken, mir fehlten die Begriffe,
mir fehlten philosophische Kenntnisse wie Gedanken - ich seit Tschernobyl geschockt auf der Suche nach einer Philosophie, nach
Worten und Literatur überhaupt, um mich, mein Leben und den Kontext dieses Lebens verstehen zu können. Ich möchte von «begreifen»
nun nicht reden, habe gegen den Rationalismus, der in «Begreifen» und «Begriffen» impliziert ist, die sensualistische Skepsis
erst spät entwickelt. Ich selbst stand wohl, wie sollte es auch anders sein? -am Anfang meines Erkenntnisweges, wenn auch
Anfänge selbst natürlich nur fiktive Hilfskonstruktionen sind, um eine Erzählung überhaupt beginnen zu können. Wenn man sich
das alles zu Bewusstsein führte, wäre es auch gar nicht schlimm, mit den fiktiven Hilfskonstruktionen zu arbeiten, aber
Bewusstsein und Hilfskonstruktionen spielen uns immer wieder einen Streich, indem sie sich wichtiger und reeller nehmen als
sie tatsächlich sind und eine gewisse Tyrannei entwickeln. Die Jahre verstreichen und verstrichen und wenn ich nun die
Zeitabstände in meinen Erkenntnisstritten betrachte, und zugleich die Entwicklungen der katastrophalen globalen Tendenz,
weiß ich, dass ich machtlos und ergebnislos sterben werde. Es war schon immer eine vom jugendlichen Leichtsinn erzeugte und
vom kontextualen Irrsinn genährte Hybris zu meinen, ein Individuum wie ich, von allen Schaltzentralen der gesellschaftlichen
wie politischen Macht weit entfernt, etwas dazu beitragen könnte, die Welt zu retten. Vor etwa einem Jahr schickte ein junger
Freund aus der Tanzszene ein Zitat als Posting auf Instagram, was den sinnreichen Satz enthielt: «Du musst nicht die Welt
retten, die Welt ist in Ordnung, wie sie ist, kümmere dich um dich!» Davor hatte ich auch mehrmals den wundervollen Vortrag
von Paul Watzlawick rezipiert und zitert und kommentiert, dass die Lösung das Problem sei.
Was mich an diesem Vortrag inspiriert und interessiert, ist neben dem Inhalt die Form der Rhetorik der Gelassenheit, in der
Paul Watzlawick spricht. Der Vortrag läuft nicht nur inhaltlich darauf zu, dass wir Menschen, was Problemdefinitionen und
Lösungsvorschläge anbelangt gelassener werden sollten, sondern er lebt es uns im Vortrag rhetorisch vor. Was für wichtig und
für weniger wichtig befunden wird, worauf wir Wert legen, was wir anstreben oder zu vermeiden suchen - all diese Dinge
erfordern eine andere Geisteshaltung, was ich nun einen echten Kulturrelativismus nennen würde. Natürlich impliziert das,
dass alles einem egal sein sollte - aber eben egal nicht im Sinne von bedeutungslos, sondern im Sinne von
gleichgültig, wenn wir das Wort tatsächlich wörtlich nehmen: alles ist in gleicher Weise gültig.
Die Gleichgültigkeit in unserem Verständnis beinhaltet Teilnahmslosigkeit, Interesselosigkeit bis hin zu Apathie der Welt
gegenüber. Wir können aber Gleichgültigkeit umwerten: nichts ist bedeutungslos, wertlos, alles kann ernst genommen werden.
Aber als ich den Einbettungscode auf Youtube für das Watzlawick-Video suchte, empfahl mir Youtube einen weiteren Film von
Watzlawick Das Leben als Spiel. Spontan schoss mir der Gedanke, als ich mir die ersten zwei Minuten des Films mit den
Mandelbrotbildern dazu anschaute, dass wir und auch Watzlawick höchstpersönlich etwas an seiner Theorie nicht ganz ernst nehmen
und dadurch das Spiel verletzen, nämlich, das Spiel der Kinder! Auch diese sind gleichwertig und womöglich ebenso erkenntnisreich
wie die mathematische Spieltheorie. Auch hier ist es egal, ob wir die Kinder in ihrem Spiel beobachten oder uns mit der
mathematischen Spieltheorie beschäftigen, wer Verstand hat, wird verstehen, wer Augen hat, wird sehen, so die etwas biblische
Ausdrucksweise für das Phänomen aus der Apokalypse. Letztendlich kommt es auf die Liebe an, die Liebe, die in meinem Denken
immer mehr an metaphysischer Dimension gewinnt, aber es auch egal ist, ob wir sie körperlich praktizieren oder geistig - Hauptsache
wir praktizieren nicht irgendetwas an der Liebe vorbei, was wir für Liebe halten und ausgeben! Ich habe in letzter Zeit sehr
viel die Kommunikation und das Spiel der Hunde untereinander beobachtet und sehr, sehr viele wichtige Erkenntnisse für meine
Philosophie daraus gewonnen. Bei vielen Hundespaziergängen reifte in mir der Gedanke der Umwertung des Zynismus heran, für
dessen Symbolfigur ich Diogenes von Sinope annehme. Diese Annahmen sind nicht rein subjektiv im Sinne von individuell willkürlich.
Ich schwimme in einem Universalfluss, dessen Strömungen mich beeinflussen und meine Gefühle wie Gedanken in diverse
Richtungen treiben. Insofern sind es gerade die Blindtexte, von denen ich mir Erkenntnis erhoffe, indem ich mich von rationalistischem
Schreiben gänzlich abwende: keine Gliederung, keine vorgefasste Argumentation, keine vorgezeichnete Argumentationslinie, es ist
eine Philosophie der Grausamkeit im Sinne Antonin Artauds, die hinter Begriffen, Logiken, Argumentationen, Zeichen das Leben
zu berühren versucht. Aber dennoch mache ich eine Gedankenschleife und frage mich auch da: bin ich nicht noch immer auf der
Suche nach einer Lösung? Habe ich wirklich die Probleme der Welt ad acta gelegt und wirklich verstanden, dass nicht ich
sie lösen kann und gar nicht erst nach einer Lösung streben sollte? Aber da kommt mir noch ein anderer Spruch in den Sinn,
den ich vor zwei Tagen gelesen habe: «Wenn du das Gefühl hast, nicht in diese Welt zu passen, liegt es vielleicht daran,
dass du hier bist, um zu helfen, eine neue Welt zu erschaffen». Ja, da wiederholt sich der jugendliche Leichtsinn meines
politischen Rationalismus und suggeriert mir, ich sei ein Teil der größeren Prophetie und müsse mich diesen Aufgaben
widmen. Ein 18-jähriger junger Mann, Teil der Kommunistischen Weltbewegung mit Aufgaben in seinem möglichst zu erweiternden
Wirkungskreis! Während Staatspolitik, Imperialaktivitäten militärisch, strategisch Menschenopfer fordern und die Welt an den
Rand des atomaren Untergangs bringen!
Ich bin nicht im geringsten Teil dieser Machtspiele - auch da nicht, wo ich Flugblätter
gegen die NATO-"Nach"rüstung verteile und daran mitwirken möchte, dass die Stationierung der Pershing II-Raketen verhindert
wird. Ich propagiere und posaune herum, dass sich in der kommunistischen Staatengemeinschaft alles anders entwickelt und noch
viel schöner und besser entwickeln würde, wenn es die Störungen aus dem Imperialismus nicht gäbe, währned in Tschernobyl
illegale Reaktorexperimente durchgeführt werden, um die Kraftwerksleistung zu steigern. Die Ausmaße der Katastrophe werde ich
erst rund drei Jahrzehnte später begreifen, als ich ein Bühnenstück unter dem Titel «Der nackte Wahnsinn» vorbereite. Irgendwo suche
ich die Teilhabe am Weltgeschehen, die einfach geschieht mit mir oder ohne mich - sie bedarf meiner nicht! Und ich? Ich weiß nicht,
ob mir das egal sein kann!