Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
  Blindtexte - Improvisationen
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Blindtext

«Binnen weniger Tage wurde ich», heißt es auf einem Zettel, «in mein fünftes Lebensjahr zurückgeschleudert, wo ich seit dem verharre und kämpfe...» - wogegen eigentlich? Es ist ein unedfinierbarer Schmerz gewesen, der sich körperlich manifestiert auf der Brust, was das Atmen erschwert und zur Bewusstheit zwingt, man muss Seufzen und Luftholen, tief einatmen und auch ausatmen nicht vergessen! Körperlich ist das nicht bedingt, sondern durch etwas, was ich Liebe oder verliebtheit nenne, durchaus im Zweifel, ob das die Sache trifft. Aber was trifft die Sache schon? Wan haben Worte je die Sache getroffen? Ich frage mich, ob die Entwicklung der menschlichen Sprache mit der Ratio tatsächlich ein Gewinn war fürs Leben? Im Sinne der Vitalität, der Lust, der Freude, der Intuition, der Spontaneität. Wie wichtig all diese Dinge sind und wie sehr sie auch diffizil entwickelt und zu einer eigenen Sprache fähig, sagen wir lieber statt Sprache - Ausdrucksmöglichkeit, habe ich erst spät begriffen - spät aber womöglich nicht zu spät: durch Diego. Dieser wundervolle Hund, mein Freund und mein sozialer Sohn, hat mir eine komplett neue Sichtweise der Welt eröffnet, des Lebens und des Handelns, hat viele ungestellte Fragen aufgeworfen und ganz schnell beantwortet und meinen Draht zu ihm, der dadurch ermöglicht war, weil ich das Spontane in mir nicht ganz abgelöscht hatte, meine Emotionalität mochte und sie nicht ganz verraten habe, weil ich meine Gefühle und Gefühlswelt nicht verachte, sondern mag, auch wenn dort einige Irrlichter sind, diesen Draht zu ihm und dessen Grundlagenmaterial hat er ausgebaut, hat es wie eine fruchtbare Erde genutzt und dort ganz viele sensualistische Samen gesät. Jahre vorher schon wollte ich doch so gerne den Sensualismus für mich zu einer lebbaren und erlebbaren Philosophie machen und dadurch auch das Leben neu erleben. Überhaupt wollte ich dadurch anfangen zu leben, was nun seltsam klingt und paradox: denn leben wollen funktioniert doch nicht und ist ein Paradox, man lebt das Leben, das man lebt, auch ein vom Leben entfremdetes Leben ist ein Leben - so traurig das ist - auch das traurige, leblose, avitale Leben ist Leben! Das gibt es! Es wäre unsinnig, eine allgemeingültige Hierarchie vornehmen zu wollen - die Ratio, die doch auch zum Leben gehört, in die Menge allen lebendigen Seins fällt, auch wenn sie lebensfeindlich ist, zwingt einem Begriffe auf, Hierarchien und Ordnungen. Wenn die Ratio mit ihrer Logik ins Spiel kommt, und sie bringt immer ihre Logik mit, dann kommen wir automatisch zu Hierarchien, denn die Logik orientiert sich am Baum und hat eine Krone und tief in der Erde Wurzeln. Die begrifflichen Wipfel sind dem Himmel nahe und die letzten Ausläufer der Wurzeln stecken tief in der dunklen, feuchten Erde. Eine Ratio ohne diese Ordnung der Dinge die durch die Logik zusammengehalten wird, gibt es nicht. Um den Automatismus aufzubrechen begab ich mich in die Rhizomatik, die von Deleuze und Guattari aus einer Mischung aus Psychoanalyse und Philosophie entstand und eben das Hierarchische aus unserem Denken eliminieren oder doch zumindest relativieren wollte. Ich hantierte zuvor mit Begriffen wie Metaphysik und Dialektik, Unveränderlichkeit und Fluss aller Dinge, Kampf der Widersprüche und dem Aufgehobensein im dreifachen Sinne: eliminiert, höher nivelliert und aufbewahrt. Ein braver Marxschüler wollte ich sein, studierte und studierte und bewegte mich zugleich und das muss wohl dieses lebendig Lebendige in mir gewesen sein in praktischer Politik und Liebe. Überhaupt war ich über Liebe in diese praktische kommunistische Politik gekommen, was natürlich affin und sehr zugeneigt, das Dogmatische hierzu musste sich aber erst noch entwickeln und entwickelte sich in der kommunistischen Partei, zu der mir meine Geliebte auf einer Wiese liegend mir geraten hatte. Ich wollte mit ihr leben, ich wollte ihr nahe sein, ich wollte in ihrem Land mit ihr leben, ganz in ihrer Lebensweise sein - ich wollte in die DDR. Sie nannte sich der erste sozialistische Staat, der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden und ich verschlang die Worte, die Begriffe, die Vorstellungen, die ich damit verband, kamen nicht alle von außen und manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt von außen genährt wurden oder gänzlich Phantasiegebilde waren. Aber gibt es wirklich ausschließlich Phantasiegebilde, die nichts, aber auch rein gar nichts mit der Realität zu tun haben, außer dass sie sich selbst als Gebilde Realität zu verschaffen suchen!? Geflügelte Pferde bestehen aus Flügel und Pferd und beides findet man in der Realität, erst recht geflügelte Schuhe oder Helme oder einen Göttervater, der einen Adler auf den Schultern und einen Blitz in der Hand hat, obwohl Blitze in der Realität, ich muss sagen: in der physikalischen Realität nicht mit der Hand zu halten sind. Aber in der Vorstellung, in der Phantasie, wobei Phantasie und Vorstellung nicht synonym gemeint sind, werden die Phänomene ihrer Physikalität entschält und können eigene neue Verbindungen eingehen, so dass der Blitz in der Hand eines Göttervaters sein kann. Die Ratio holt sich dieses Bild aus der Phantasie wieder in ihre «realistische» Logik zurück, indem sie die Vorstellungen zu Symbolen macht, die andere Gedankeninhalte darstellen sollen. Ich ging meinen Weg, den ich ging, ich ging diesen Weg nicht alleine, Menschen, Ideen, Erlebnisse tauchten auf, beeinflussten mich, lenkten mich ein wenig um, aber was wäre, wenn sie mich nicht umgelenkt hätten, der ideal vorgezeichnete Weg war selbst nur eine mir aufoktroyierte Vorstellung, eine Idee, die zunächst nicht meine war, aber die ich zu meiner durch Verinnerlichung gemacht hatte. Der Weg entsteht durch Gehen! Pläne zu Wegen sind Pläne, Wege sind Wege, Leben ist Leben - das zu begreifen kann einen auch in die Kindheit zurückschleudern, in die Sehnsucht nach Liebe, Nähe, Geborgenheit, und in dem Moment des Geschleudertseins hat man ein Schleudertrauma und ist so traumatisiert, dass man den genüsslichen Gewinn, den die Last auf der Brust einem beschert, der einen schier umbringt, gar nicht genießen kann. Ich wache morgens schreiend auf, schreie aus Verzweiflung, oder woraus auch immer - aber immer schön laut aus der Kehle, damit die Last endlich verschwinde, was sie natürlich nicht tut, aber der Schrei kann auch als Atemtechnik verstanden und genossen werden. Morgens ist die Depression, der Druck, das Be- und Niederdrückende am schlimmsten - warum ist das so? Ich weiß es nicht, ich stelle das Phänomen fest, möchte es dabei nicht belassen, vielleicht werde ich irgendwann eine Antwort darauf finden, aber wozu sollte sie gut sein? Kann ich sie in mein Leben ummünzen, oder mal wirklich vitalistisch gedacht: kann mir eine solche Antwort, was ich ja auch «Wissen» nennen kann, Nahrung sein? Ich weiß, dass ich eine Geschichte erzählen wollte, ich weiß auch, dass ich den Faden zu verlieren drohe und um den Faden nicht zu verlieren, innehalten und meinen Text noch einmal in Ruhe genau lesen müsste und vielleicht auch beim Schreiben pausieren, aber genau das, so sagt es die écriture automatique solle man schön bleiben lassen, um vielleicht, das sage ich nun assoziierend, hinter den Zeichen, Sätzen und Syntax das Leben zu berühren, wie es Antonin Artaud mit dem Theater der Grausamkeit machen wollte. Ich hatte ja im Rahmen meiner Postdramatik eine Affinität zu Artaud sofort entwickeln wollen, aber die Theaterarbeiten entglitten mir oft durch diverse äußere Faktoren, die sich mir und meiner Theateridee als Realität einschrieben, alles umlenkten, mich zur Verzweiflung und manchmal auch zu Wutausbrüchen trieben und mich vom Eigentlichen, was ich eigentlich nicht erfasst hatte, aber wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt und nicht einfällt, wie es manchmal mit Namen passiert, alsbald zu erfassen fest glaubte. So nah lag es mir und fiel mir doch nicht ein und da quatschten andere mit an der Sache dieser einen verschollenen Idee gemessen unqualifizierten Bemerkungen, Vorschlägen und Anregungen dazwischen. Ich war und blieb irritiert, konnte mich nicht fassen, das war grausam, vielleicht hat aber Artaud auch genau das unter «Theater der Grausamkeit verstanden» - wer weiß? Das Leben berühren - das setzt doch, soweit setzt eben die Logik nicht aus - das setzt doch voraus, dass man ein kleines aber wichtiges Stück vom Leben entfernt ist, wenn auch das Leben in greifbarer Nähe scheint. Aber auch das ist Leben, der Esel fällt mir ein, der der Möhre hinterher rennt, den sein Reiter ihm an einem Stöckchen vor die Nase hält. Manchmal bin ich gerne Esel, sie sind starke wie eigensinnige Tiere und genau die Stärke und den Eigensinn liebe ich auch an meinem vierbeinigen Freund Diego. Wenn ich irgendwie und irgendwo das Leben berühre oder das Leben in meinem Leben mich berührt und bis zu mir durchdringt, dann nur mit und durch Diego. Nichts ist sinnloser und irrsinniger als dem Rationalismus zu verfallen, der Sprache, der Logik, der Ordnung der Dinge, der Instituionen, der Weltgeschichte, der Arbeiterbewegung, der sozialen Gerechtigkeit oder wem auch immer - übrig bleibt... ja, was eigentlich? Ich habe den Rationalismus als das Irrewerden der Vernunft an sich selbst definiert - ich habe ihn in abgeschwächter Form, wie es sich später herausstellte, an meinen Eltern kennengelernt mit etwas hysterisch-paranoiden Komponente bei meiner Mutter und etwas devot-pragmatischen Komponente bei meinem Vater, ein wenig resignativ, ohne dass er resignierte, er war ein braver Vertreter der normativen Kraft des Faktischen - zu diesem Faktischen konnte er nicht nur stehen, es hatte ihn auch de facto in gewissem Sinne erfolgreich gemacht - er konnte Geld an seine Schwester und seine Mutter schicken, die zusammen in der Türkei in Ankara lebten, die Tochter war lange unverheiratet und die Mutter schon in der Jugend verwitwet und die beiden Kinder verwaist, aber mein Vater mit einer Vorstellung von einer Rolle, dass er diese seine nächsten niemals im Stich lassen konnte, was meine Mutter nicht verstand, woraus sich die Tragödie des Lebens für uns als Familie entwickelte - auch für mich als Kind, denn die Eheleute brachten mich hervor, setzten mich in die Welt und setzten mich der Welt aus, der sie ja auch ausgesetzt waren! Mein Vater hatte sich die Ermordung seines Vaters nach einer Hochzeit, auf der er war und auf dem Nachhauseweg ihm Leute auflauerten und niederstachen - wahrscheinlich aus einer Eifersuchtsgeschichte heraus, hatte sich doch sein Halbwaisendasein nicht ausgesucht, aber er übernahm Verantwortung für seine Mutter und seine kleine Schwester - ich weiß gar nicht, ob er, als er diese Verantwortung übernahm, vielleicht schon als Kleinkind von drei Jahren, ich weiß also gar nicht ob... und denke, dass er sich selbst dessen nicht ebwusst sein konnte. Das Leben gab ihm die Aufgaben direkt in seine Gefühlswelt ganz an einer Ratio vorbei, die sich doch mit drei Jahren nun wirklich nicht entwickelt haben konnte! Meine Mutter hatte ihre Prägungen, vielleicht war eine davon und ich entnahm es ihren Erzählungen, dass sich ihr Vater einen Sohn gewünscht hatte, das erstgeborene Kind sollte ein Sohn sein, war aber meine Mutter, die immer erzählte, sie sei wie ein Junge erzogen worden - zumindest vor der Pubertät - trug Hosen, kletterte auf Bäume und schlug sich mit ihren Cousins, die er verprügelte - so erzählte sie es und ich hörte durchaus auch einen gewissen Stolz daraus. So treibt das Leben uns in einem Fluss, es ist der Fluss des Lebens und wir sollen nun aus dem Schiffchen Ratio das Wasser des Flusses berühren und haben natürlich Angst, von Bord zu fallen. Der Fluss aber fließt mal langsam, mal schnell, mal reißend und mal in einem Wasserfall - wir könnten das alles «Wahnsinn» nennen, aber ich würde so gerne in meinem Schiffchen dieses Wort für etwas anderes aufheben. Ich weiß gar nicht, ob ich je einen Faden finden werde, der mich in den Blindtexten dahin führen wird, dass ich es berühren kann mit meinen literarischen, weil aus Buchstaben und Worten und Sätzen bestehenden Improvisationen -sind womöglich die Blindtexte das Analogon zum Theater der Grausamkeit - Texte der Grausamkeit! Was aber ist denn nun so grausam, muss mal Antonin Artaud darauf befragen!

 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
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