Uri Bülbül | Das Ästhetikum

 
 
 
 
  Blindtexte - Improvisationen
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Blindtext

Écriture automatique, sagt man und schreibt aus dem Bauch oder hohlen Kopf, schreibt, was einem in den Sinn, wenn einem auch rein gar nichts in den Sinn kommt, automatisch ist das allemal. «Überleg nicht lange», sagt eine Stimme, «erzähl ruhig von mir. Du hörst mich nicht wirklich, ich bin nie dagewesen außer zu deinen literarischen Zwecken, sonst sprichst du zwar immer mit dir allein, tritts in einen Dialog, ohne dass du deine Identität spaltest, nicht einmal einen Hauch änderst! Andere hören Stimmen. Dein Nachbar sagt, man könne es im MRT nachweisen, da könne man die Aktivität der Hirnregionen sichtbar machen und erkennen, wie sie aktiv werden, wenn die Versuchsperson über Kopfhörer Musik zu hören bekommt oder ein Hörbuch. Und diejenigen, die von sich sagen, sie hörten Stimmen, haben diese Aktivitäten in der entsprechenden Hirnregion, auch wenn ihnen nichts Akustisches über Kopfhörer eingespielt wird. Aber warum meldet sich die Stimme, die zu diesem Menschen spricht, ausgerechnet dann, wenn eine hirnphysiologische Untersuchung ansteht? Du hingegen sprichst mit dir selbst, außer einem Piepton, der von einem Tinnitus herrührt, kommt nichts über deine Ohren. In deiner Psyche Schweigen im Walde. Ich weiß, du wirst zu einer Gegenrede ansetzen, aber lass doch mal von mir gesagt sein, dass du auf der Stelle trittst, dich im Kreise drehst, deine Literatur nur eine Form der Nabelschau ist, die sich aber zugleich dagegen wehrt, etwas an sich selbst sehen zu wollen.Du holst aus, du erzählst damals wie heute eine Menge - jede Menge "Intertextualität" und "performative Interpretationen", wie du deine Hamlet-, Danton, Ödipusdeutungen nennst und neuerdings hast du auch angefangen dich mit Desdemona zu beschäftigen oder eigentlich mit Othello! Du bemühst dich, du bemühst dich um Erkenntnis, um Wahrheit, um Wirklichkeit, meine Güte, du mühst dich ab - du mühst dich sinnlos ab, du absurder Held bar jeglicher Heldenhaftigkeit! An Ödipus hat dich die Politik interessiert, an Ophelia Hamlets Rücksichtslosigkeit, Mißtrauen und seine Abwehr der Liebe, die eigentlich Verrat an Ophelias Liebe war. Alle Schwüre umsonst und mit einem Schlag macht er sie zunichte. Ich weiß, ich weiß, das schmerzt Ophelia sehr und du bist so nah an ihrem Schmerz, du bist bei ihr und die deutest den zu rächenden König- und Brudermord an Hamlets Vater als einen Tyrannenmord. Dir ist der Onkel lieber und sympathischer. Er feiert Feste, gibt Empfänge, sendet Friedensbotschafter aus, um neue Abkommen mit den Nachbarstaaten zu schließen und die Kriege zu beenden. Er scheint leben und leben lassen zu wollen. Nur hat er dafür seinen Bruder und Hamlets Vater umgebracht. Mich würde es nicht wundern, wenn du zu einer größeren Verteidigungsrede des Mordes ausholen würdest - du, der du doch sonst so gerne gewaltfrei sein möchtest, friedlich und anarchistisch. Und du siehst in Ödipus einen politisch verantwortlich handelnden Machthaber, der sich seiner Verantwortung für das Gemeinwesen bewusst ist, und du, der doch so viel für die Anarchie übrig hast, blickst wohlwollend auf einen Jähzornigen, Aufbrausenden - auf einen König par excellence in deinen Augen - auf Ödipus"! Du, der du so viel Verständnis für Frauenfiguren haben möchtest, nanntest in einem deiner früheren Texte Iokaste "lüsterne Schlampe"! Du, der du sonst, die sexuelle Freiheit lobst, die Erotik des Lebens, magst plötzlich Iokaste nicht verstehen, die Ödipus auffordert, das Forschen sein zu lassen! In einem deiner Theateraufführungen wird einer der Kernsätze: "Lass das Forschen sein!" Aber Iokaste fügt noch hinzu: "Mein Leid genügt" Du willst womöglich gar nicht sehen, dass sie nicht ihren Liebhaber, sondern ihren Sohn schützen möchte, dass sich ihr Verhältnis zu Ödipus längst gewandelt hat, und sich längst nicht mehr um erotisches Begehren handelt! Und dann versuchst du schier verzweifelt die Depression zu verstehen, die Danton ergreift und siehst dieselbe Depression auch bei Hamlet. Aber du kommst zu keinem Ende, zu keinem Ergebnis, du kommst zu keiner Geschichte, zu keinem Roman, du kommst an keinen Verlag, du deutest und spekulierst, du sinnierst und zweifelst, bis sich der Fels des Sisyphos vom Berg hinabgerollt auf deine Brust legt. Du nimmst die Last auf dich und befreist den absurden Helden und wirst ein absurder Märtyrer - zumindest du selbst siehst dich so, empfindest dich so, im stillen Kämmerlein in deinem Oberstübchen wissend, dass du lügst, dass du dich selbst belügst, aber im Grunde gar keine Wahrheit hast und damit auch keine Alternative und dann fragst du dich sophistisch infam, ob es dann noch eine Lüge ist, wenn man die Wahrheit gar nicht kennt. Du zitierst Nietzsche mit "wir sind uns fremd, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst" und gibst dir dadurch das Gefühl, ein Stückweit aus dem Sumpf heraus zu können! Wozu soviel Verbal- und Gedankenakrobatik, wenn dir nicht einmal die Nabelschau so recht gelingen mag? Manchmal bedienst du dich einer einmal gefundenen Ausrede, dass du um des Schreibens Willen schreibst, wie man um des Lebens Willen atmet. Warum aber schreibst du dann nicht einfach eine endlose Schriftrolle? Warum philosophierst du über Hypertextpoetiken und poetische Hermeneutik - da fliegen die Begriffe! Schau: ich liefere sie dir, damit du tote Links entwerfen kannst. Nun hast du dich in eine neue Metapher verliebt: den Friedhof toter Links - zuvor war es das Archiv für ungeschriebene Texte - ja, dann greifst du auf die Romantik zurück, das Leben sei des Künstlers Werk und jeder Mensch sei Künstler! Und Literatur sei Kommunikation. An Philosophemen fehlt es dir nicht. Du benutzt sie wie Salzkörner, die du in die Suppe streust. Wenn es Menschen gäbe, die deine Ergüsse lesen würden, wären deine Worte Sand in deren Augen gestreut, aber das lässt niemand mit sich machen. So bist du verdammt ganz alleine nur für dich zu schreiben und kannst froh sein, dass du noch eine Metapher gefunden hast: den Blindtext! Warum hast du von James Joyce nichts gelernt? Warum schreibst du nicht ohne Punkt und Komma? Deine Interpunktion ist eines Germanisten unwürdig, aber ach ja, ich vergaß: du bist ja gar kein Germanist! Aber jetzt mal ganz ehrlich: ein Schriftsteller bist du auch nicht, obwohl ich nun Gefallen an dem Spiel finde und mir durchaus vorstellen kann, dass du einen Blindtextroman schreibst. Nein! Ich gestatte keine Zwischenfragen! Du hast den Punkt des Redens verpasst! Du hast das Schweigen gewählt und nicht den Dialog! Du hast gehofft, ich würde nicht treffen, du hast gehofft, der Blinde sei kein Seher! So hast du deinen Ödipus verstanden! Schau! Er empört sich auch über Teiresias! Er ist sogar aufbrausend bereit, eine Verschwörung zu vermuten. Aber die Wahrheit wiegt schwer, die sich nähert wie eine Lawine oder wie der eben erwähnte Fels, der auf deiner Brust liegen bleibt. Nein! Ich kann ihn nicht beiseite rollen, ich kann dich sicher nicht befreien! Obwohl ich kruz daran gedacht habe zu sagen, dass ich du sei! Aber nein, ich habe Spaß daran entdeckt, dass Ich ein anderer bin! Da siehst du: wir kommen nicht voran! Wir finden auch kein Ende! Wir haben sogar für unsere écriture automatique Regel vergessen einzuhalten und haben keine Zeit festgesetzt. Nun kann ich meine Rede endlos halten und du wirst nie wirder zu Wort kommen! Kein Dialog, kein Drama, kein Disput, nun gibt es nur noch den einen und ewigen Monolog, bis du in Ohnmacht sinkst, wie du ja auch schon angefangen hast, von Erkenntnisohnmacht zu sprechen! In der Ohnmacht ist auch sprechen nicht möglich und erst recht kein Widersprechen. Du hörst mich nicht, du erkennt den Sinn meiner Worte nicht, du kannst zu mir keinen Widerspruch formulieren, weil du ich bist! Bisher waren deine inneren monologe tatsächlich dialogisch! Du warst immer mit dir und nie allein, du hast mit deinem Anderen schön vernünftig kommuniziert, du hast dich auffordern lassen, du hast dir sagen lassen, es sei richtig, in der Schwere der Not, auf Vorsätze zu verzichten, besser und der Situation angemessen schien zu sein, sich nichts vorzunehmen. Du wolltest das Treibenlassen akzeptieren und die Dinge auf dich zukommen lassen. Ich gehe nicht weiter in die Details ein, ich weiß, dass du Angst hast, dein Innerstes nach außen gekehrt zu sehen, aber du weist auch, dass ich das gar nicht kann. Denn ich bin du! Ich wäre gerne ein anderer und ich glaube, du würdest dies auch gerne sehen, könnte doch darin die Hoffnung keimen, dass ich dir etwas zeigen könnte, was du noch nicht weißt und auch nicht in dir trägst - etwas absolut Neues für dich sozusagen! So aber kann es nicht kommen, dass wissen wir beide! Aber vielleicht kann aus dem literarischen Spiel doch etwas erwachsen - natürlich hoffst du auf eine Erkenntnis, natürlich hoffst du auf Wahrheit, wofür du wirklich jedes erdenkliche Register gezogen hast, ergebnis- und hoffnungslos. Nun versuchst du dich an Hölderlin zu klammern. Das wird dir zu einer neuen Marotte! Aber bitte! Ich will das nicht schlecht reden, denn immerhin wäre das doch eine neue Marotte! Endlich wäre der Stillstand, den du nun auch noch mit einer Baummetapher, der auf der Stelle wächst, immer stärker, größer und mächtiger wird, dir zurecht gelogen hast, ja, du hörst richtig: zurechtgelogen! Endlich wäre dieser Stillstand durch eine minimale Bewegung aufgebrochen! Im zweiten Akt des "Warten auf Godot" hat der dürre Baum ein Blatt am seinem Ästchen - so ist nun dein Blatt der Hölderlin-Komplex! Hast du doch Jahre lang das Schreibhaus konzipiert, geleitet, dich mit deiner jungen Lebensgefährtin gezankt, bis sie den Druck nicht mehr aushielt, den dein Wahnsinn auf sie ausübte und dich verließ, ohne auch nur einmal ordentlich zu reflektieren, was dein Anspruch sein sollte an Kunst, an Literatur, an deine Mitmenschen, an deine Mitautoren! Da war ein Druck als Qualitätsanspruch, der sogar den "Anspruch auf Anspruch" ablehnte - was auch immer darunter verstanden werden sollte, niemand wagte so richtig nachzufragen, oder aber du hast die leise formulierten Fragen überhört, die Blicke ignoriert und hast deine Vorträge gehalten, deine Textkritik geübt ohne jeden Selbstzweifel! Um einen Dialog zu simulieren, hast du irgendwann eine dir sehr genehme und gefügige Figur ausgedacht, hast sie Niklas Hardenberg genannt und von einem Text zum anderen geschleppt, bis er sich in einem Projekt verselbständigte zu einem Hardenberg-Projekt heranwuchs. Aber Hardenberg ist keine Figur der écriture automatique, sondern gefesselt im dialektischen Widerspruch des Dialogs mit dir! Sein Zynismus ist nur dazu da, dich zu bestärken, Niklas Hardenberg ist dein Sparringspartner, der nicht punkten und gewinnen kann! Du beudest ihn schamlos aus! So hast du sehr bald noch vor Hardenberg die "Maschine des Selbstgesprächs" angefangen, du wolltest den Sinn deiner "Kunst" -entschuldige, dass ich das Wort apostrophieren muss!- in einer fortlaufenden Maschine des Selbstgesprächs eruieren, was aber wirklich passiert ist, möchte ich dir nun nach 26 Jahren sagen! Deine damalige Lebensgefährtin offenbarte an ihrer Mimik, dass sie an deiner "Maschine des Slebstgesprächs" deinen Stillstand erkannte und die Hoffnung aufgab, mit dir ein gemeinsames Leben führen zu können; denn sie wollte arbeiten, sie wollte Geld, sie wollte Karriere und Erfolg - sie wollte keinen Stillstand, den man zu einem Baum deklarierte! Nun werde ich müde und du zählst die Wörter deiner écriture automatique - die Maschine drosselt allmählich, wird bald still stehen so wie dein Baum, ich werde wieder du sein und du ich und wir werden wieder mit Niklas Hardenberg und vielen anderen dialogisieren - die Welt wird in einem SOKRATES-Roman surreal und spirituell werden, du wirst eine rationale Antwort auf die Frage, was denn Kunst in deinem Verständnis sei, geben, du wirst dein Qualitätsempfinden für "gute Literatur" begründen und die Begründungen bis zum Erbrechen paraphrasieren und mal ehrlich: du wirst sterben, ohne das Alter einer Eiche je erreichen zu können.»


 
 
Uri Bülbül
freier Literat und Philosoph
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