Als Salomé gestern früh, ein wenig zu spät schon und in Eile, aber mit der
ihr eigenen Ruhe, ihre Schuhe anziehen wollte, vermisste sie einen Stiefel.
Ich war schon start klar und wartete auf sie, in gebührendem Abstand in der Küche,
von wo aus ich in den Flur sehen konnte, um ihr nicht auf die Nerven zu gehen
mit Gedränge. Schließlich hatte sie die Uhr ebenso im Sinn wie ich und musste
nicht durch mich stumm aber aufdringlich zur Eile angetrieben werden. Aber der
eine Stiefel war nicht da. Ich trat doch in den Flur, um ihr bei der Suche zu
helfen. «Muss ich nun mit nur einem Schuh zur Schule?» klagte sie. Im Schuhregal
war wirklich nichts zu sehen. «Hast du den Schuh vielleicht in deinem Zimmer?» fragte
ich. Nein, das wurde vehement abgestritten. Das wäre ihr sicher aufgefallen. Und
im Unterton die klare Botschaft, dass sie ihr Chaos beherrscht. «Dann vielleicht
vor der Tür?» «Was soll mein Schuh vor der Tür?» Auch ich hatte darauf keine Antwort,
machte aber die Wohnungstür trotzdem auf. Wir mussten beide lachen :-) So weit kann
Nikolaus entfernt sein.
Später begab ich mich ins Gartenhaus. Es war ein kalter Herbsttag, der erste kalte.
Aber es war auch überwiegend sonnig. Vorgestern war es deutlich wärmer und für mich
eine große Motivation, Gemeinschaftsarbeit für den Verein zu übernehmen. Die
Pflichtstunden sind zwar abgearbeitet, aber die große Wiese schon wieder stark Laub
bedeckt. In zweieinhalb Stunden karrte ich an die zehn Schubkarren voll Laub weg, was ich
zusammenfegte. Und gestern lag schon ein Hauch von Schnee auf der Wiese. Aber schon als
ich mit dem Rächen hantierte, den warmen Modergeruch in die Nase bekam und schwitzte,
fragte ich mich, warum es so lange gedauert hatte, bis ich wieder ein Verhältnis
zur Natur fand. Am Nachmittag des Lebens eine innige Wendung zu dem, was wir
gemeinhin Natur nennen: Wiesen, Bäume, Laub, Erde. Aber eigentlich ist das Kultur,
denn mitten in der Großstadt eine Kleingartenanlage mit einem öffentlichen Weg und
einer öffentlichen Wiese lässt sich schwerlich als Natur bezeichnen. Längst ist
vielleicht der Gegensatz zwischen Natur und Kultur hinfällig, und es muss allen Ernstes
überlegt werden, wie wir unser Verständnis von Welt überdenken.
Anfang dieser Woche verließ ein dicker Umschlag das Büro und nahm seinen Weg nach
Frankfurt. Darin enthalten zwei Teile der ZERFAHRENHEIT.
Bereits am 19. November 2012 konnte ich im Arbeitstagebuch Folgendes festhalten:
Brachland ist zu Ende lektoriert :-) Mich interessiert ein Schreiben als Gratwanderung zwischen Fiktion und Wahrheitsbehauptung, zwischen Philosophie und Literatur, die Mischung aus Reflektion und Leben, und zum Leben gehört auch die Politik - nicht als Ideologie, sondern lebendige Wirklichkeit. Zur Literatur gehört die Intertextualität und zur Philosophie eine skeptisch-analytische Phänomenologie. Die sprachlich-ästhetische Realisierung dessen, hoffe ich in meinem Hypertextroman ZERFAHRENHEIT zu finden, dessen Teile die Novelle BRACHLAND und das Hörspiel DER AUFTRAG darstellen.
Nun beginnt wieder die Zeit des Wartens und Hoffens. Natürlich müsste ich längst schon
eines besseren belehrt worden sein und den Gedanken aufgeben, mit einem Verlag ins
Geschäft kommen zu müssen. Und ich meine, wenn ich das schreibe, mit einem seriösen,
guten, etablierten Verlag und nicht etwa mit einem Bezahlverlag oder mit einem
wie ethnotopia, der mich als seinen Autor führt, obwohl ich darum gebeten hatte,
dort von der Liste genommen zu werden. Ich bin kein Ghetto-Autor, schreibe nicht über und
schon gar nicht wegen meines «Migrationshintergrundes» und ich würde niemals bei
einem Literaturfestival mitmachen, das sich «LiteraTürk»
nennt und alle deutschsprachigen
Autoren, die ausländische Eltern haben, diskriminiert. Aber das muss jeder selbst
für sich entscheiden. Und gerne hätte ich es auch für mich entschieden, nicht bei
ethnotopia aufgeführt zu werden,
da ich nach der ersten kleinen Publikation von mir über unser
postdramatisches Theater sah, dass eine weitere hoffnungsfrohe Zusammenarbeit mit diesem
Verlag mir unmöglich ist.
Der eigentliche Autorenwahnsinn besteht aber darin, dass man zu hoffen beginnt,
kaum dass man die Versandtasche zugeklebt hat. Und dieser Wahnsinn weckt nicht nur
Hoffnungen in einem, sondern verstellt auch häufig den Blick für die wahre Qualität
des Manuskriptes. Möge ich doch wenigstens von dem letzten Fehler verschont bleiben.
Ich vermisse schon lange einen weitergeführten Diskurs über ästhetische, literarische
Ansprüche, über Qualität, aber auch über die Fragwürdigkeit der Maßstäbe. Das
Schreibhaus hat es eine ganze
Weile versucht. Ende der 90er gab es eine kurze und intensive Phase des Diskussionen.
Letztendlich aber wollte außer mir sich niemand in meinem Verein professionell und
mit dem nötigen germanistischen Handwerkszeug ausgestattet mit Literaturkritik,
literarischer Kreativität und ihrer Vermittelbarkeit auseinandersetzen. Nichtsdestotrotz
gibt es eine lebendige Szene kreativen Schreibens. Das literarische Niveau aber ist
unter aller Sau. Die Bestsellerlegende «Harry Potter» hat alle Hirne verzaubert und
eine analytische Diskussion außer Kraft gesetzt. Dafür aber kulturindustrielle
Wertmaßstäbe als Qualitätskriterien zementiert. Verkaufszahlen, Lizenzrechte,
Verfilmungen.
Während ich unter der Last meiner eigenen Ansprüche an meine Arbeit ächze und diese
gegen die allgemeinen Widrigkeiten des Alltags und des Kulturbetriebs zu behaupten
und reorganisieren suche, wobei auch immer Reformen im eigentlichen Wortsinne fällig
werden, geht das muntere Sch... bzw. Treiben natürlich weiter. Auch das gehört zu meinem
Autorenwahnsinn, dass ich mich in diesem Geschehen zu platzieren und positionieren und,
als wäre das nicht schon genug, es auch zu beeinflussen suche. Dazu habe ich bei der
Ideenarchitektur der
KulturAkademie-Ruhr,
die ich im Auftrag des Trägervereins des Katakomben-Theaters entworfen habe, auch
die Literaturarbeit installiert und mein Literaturbüro, das
Textzentrum-Ruhr mit ins
Spiel gebracht.
Damit ist die Literaturarbeit aber nicht getan und erledigt, sondern hat nur eine ideelle
Basis erhalten, um auf- und ausgebaut zu werden. Nackter Wahnsinn! Aber jedem Anfang
soll ja angeblich auch ein Zauber innewohnen ;-)