Uri Bülbül

21. März 2005

Am Ende des vergangenen Jahres packte mich die unbändige Lust, die elektronische Virtualität zu verlassen und wieder Texte auf Papier zu produzieren. Die Lust war so groß, daß ich keinesfalls mich damit begnügen wollte, Texte gedruckt in Händen zu halten. Nein, das Haptische sollte noch weiter gehen. Ich wollte ein Unikat schreiben. Die Einleitung ins Ästhetikum handverfaßt in einem SILBERBBURG Zeichenbuch mit naturfarbenem Papier in Handarbeit hergestellt und aus Zuckerrohrfaser ummantelt. Marshall McLuhan hatte mcih auf diesen Trichter gebracht. Ich hatte das Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit. Ich wollte Papier und Tinte riechen, ich wollte wieder Tintenflecken auf den Fingern haben. Dann aber das typische -für mich typische!- Zurückscheuen davor, daß Spuren der Nachlässigkeit auf dem Papier sich "verewigen". Hier ein Kleks, dort ein falschgeschriebenes Wort, da eine Streichung. Damit sollte man doch nicht ein SILBERBURG Zeichenbuch verunstalten! Sollte ich also lieber die Einleitung ins Ästhetikum im Computer vorformulieren und nachher nur noch handschriftlich abschreiben? Für gewöhnlich gehen viele Menschen den Weg genau in die umgekehrte Richtung: erst werden Gedanken auf dem Papier vorformuliert und dann in den Computer eingegeben. Dies wiederum halte ich für unsinnig. Wozu Papier verschwenden? Im Computer ist der Text virtuell und kann jederzeit problemlos und ohne Spuren zu hinterlassen verändert werden. Ich muß nichts durchstreichen und meine Ergänzungen und Einfügungen irgendwohin quetschen, wo kaum noch Platz auf dem Papier ist. Ich habe nur noch ganz wenige handschriftliche Aufzeichnungen. Sie entstehen immer dann, wenn kein Computer zur Hand ist oder wenn ich denke, es lohnt sich nicht, den Computer für einen klitzekleinen Minitext, für eine Randnotiz, für den Anflug einer vagen Idee einzuschalten und hochzufahren. Da wird schnell etwas auf einer Karteikarte notiert. Wenn ich einen Text verfassen will, sitze ich lieber am Computer, sobald der Text in meinem Kopf eine gewisse Gestalt angenommen hat. In der Virtualität habe ich jegliche Freiheit, den Text schnell so umzustellen, wie es mir beliebt. Wenn ich aber vor dem heiligen Papier stehe, vor dieser handgeschöpften Kostbarkeit, bin ich wie gelähmt. Hier kann ich nicht markieren und ziehen, markieren und löschen, einfügen oder ausschneiden. Hier muß jedes Wort sitzen. In diesem Buch kann unmöglich die Einleitung ins Ästhetikum entstehen. Ich bin nicht in der Lage, das Buch zu benutzen. Mein Hunger nach dem Haptischen ruht. Ich habe ihn vorübergehend ein bißchen besänftigt, als ich ihn mit Ausdrucken von sechs Bildern aus «gefiltert & geebnet» auf Fotopapier fütterte. Vier von diesen Bildern landeten hinter einem Glasrahmen und zieren nun die Vereinsräume des Schreibhauses. Und zwei sind dabei, im Chaos auf meinem Bücherregal unterzugehen. Die Idee des PANÄSTHETIKUMS ist so gut wie gescheitert und erledigt. Ich kann auch sagen: an der Felsbrandung der Druckpreise zerschellt :-) Das Haptische ist trotz allen Digitalprintoffensiven schlichtweg teuer. Und wenn ich bedenke, daß dieses Projekt ohnehin niemals einen kommerziellen Sinn erfüllen könnte, muß ich mir als mein eigener Unternehmensberater aus der Druckbranche konsequent davon abraten. Experimente sind nur in der Virtualität möglich. Wer sich auf das Haptische des Papiers freut, darf sich nicht der Drag-and-drop-Oberflächlichkeit hingeben, sonst wird es nicht nur teuer, sonst erntet er auch viel Spott. Über jeden Druck- und orthographischen Fehler haben sich meine Bekannten und Freunde in einer Kultur-Zeitung, die ich herausgab, diebisch gefreut. Und wie Murphys Gesetz gilt ehern für Printproduktionen, daß der letzte Druckfehler immer nach dem Druck gesehen wird :-( Mein Hunger nach sinnlichem Erleben bei der Textproduktion, nach der Nostalgie der Druckerschwärze ist nicht richtig gestillt und hat sich auch nicht direkt in Ekel umgewandelt. Nur eine Skepsis ist da und der Verdacht, daß der Buchdruck eine gewisse metaphysische Komponente hat.

21. Januar 2005

 Die Kommunikation war nahezu abgebrochen -zumindest vorübergehend; -zumindest ziemlich erschwert. Es sind diese unverschämten Spams in rauhen Mengen, die sowohl den Server als auch meine emailprogramme belasten. Alle meine Bekannten, denen ich mein Problem schildere, haben nur eine Antwort: Spam-Filter. Ich finde es entwürdigend, meine Post von einer Maschine vorsortieren und auf eine Weise doch auch vorzensieren zu lassen. Mein Problem liegt auch an einer anderen Stelle, meine ich: die Spams dürften gar nicht erst auf dem Server landen. Man dürfte sie gar nicht erst verschicken. Spams sind Datenterror! Sie haben mit Kommunikation nicht das Geringste zu tun! Vielmehr legen sie sie lahm. Ich will mich an dieser Stelle gar nicht auf die Diskussion um die Begriffe "Kommunikation" und "Information" einlassen. Klar, wahrscheinlich reicht eine interpretierende Maschine aus, um diese Begriffe als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Angesichts der Spamflut bekomme ich aber große Lust auf alte, längst überholte und höflicherweise noch als "konservativ" bezeichnete Sinndiskurse zurückzugreifen.
Kommunikation ist, wenn ein Mensch einem anderen direkt in die Augen schaut, während sie sich unterhalten. Keine Kommunikation ist, wenn ein Hund befehlen gehorcht - und schon gar nicht ist es Kommunikation, wenn ein Spamfilter automatisch meine Post sortiert. Natürlich bin ich mir der Unhaltbarkeit dieser Position bewußt. Es geht hier auch nicht um Propositionen und Semantik, sondern um einen Wutausbruch! 50 oder mehr Spams pro Tag sind einfach nicht mehr lustig; es ist leicht zu errechnen, was passiert, wenn ich fünf Tage lang nicht meine Emails abrufe! Es ist vor allem dann problematisch, wenn ich dreu unterschiedliche Emailadressen habe. Die elektronische Post, die mich wirklich betrifft, weil sie auch tatsächlich an mich persönlich adressiert ist, liegt statistisch im Promillebereich. Das kann man auch als Menschenverachtung interpretieren. Ich bin eine Müllhalde für ordinäre Botschaften. Erst erwischte es das eine Emailprogramm: Absturz nach dem Versuch, die Spams zu löschen. Natürlich habe ich das getan, was auch viele von Ihnen getan hätten: Neustart und mal sehen, wie es weitergeht. Zunächst ging es auch weiter - noch eine Zeitlang. Dann streikte das Emailprogramm beim Löschen der Spams nach dem herunterladen und dann auch vor dem Herunterladen, beim Löschen der auf dem Server befindlichen Emails. Dann stieg ich auf ein anderes Programm um, und das ging mehrere Monate gut. Ich steckte in Arbeit und hatte bis Ende des Jahres keine Zeit, die Festplatte aufzuräumen, Sicherungen vorzunehmen und Reperaturversuche oder Defragmentierungen vorzunehmen. Doch dann kurz vor Jahresende erwischte es auch das zweite Programm. Es stürzt bereits beim Herunterladen ab. Nun muß ich der Datenflut Herr werden. Die Emailkommunikation jedenfalls ist nun erfolgreich zum Erliegen gekommen. Dafür gibt es aber auch eine Menge guter und erfreulicher Nachrichten aus dem Büro:

• Ganz besonders spannend und aufregend finde ich, daß der kleine Literaturverein, dem ich angehöre, Räumlichkeiten im sozialen Zentrum Bochum bezieht und seine Wirkungskreise erweitern wird.
• Sehr schön fand ich die Novemberlesung des Vereins unter dem Titel «Der Herbst hat seinen Herbst - Zur Phänomenologie der Traurigkeit» in Anlehnung an Wolf Biermanns gleichnamigem Titel eines Gedichtes. Unter dem gleichen Titel las ich eine essayistische Textcollage, die mit sehr viel Freundlichkeit vom Publikum aufgenommen wurde.
• Zwischen den Jahren begann ich in einem Anfall von Kreativität mit Notizen zu einem Hörspiel: «Der Mantel - Ein Hörspiel mit Stimmen, Geräuschen, Elvis und der Rhizomatik».
• Voraussichtlich ab März, aber vielleicht sogar schon ab Februar gibt es auch eine ÄSTHETIKUM-ZEITUNG FÜR PANÄSTHESIE in Printversion. Die Idee einer ganheitlichen Betrachtungsweise der Welt ist nicht neu. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Idee war sicherlich Goethe. Das ÄSTHETIKUM widmet sich der Verbindung dieser Idee mit Ansätzen poststrukturalistischer, sprachanalytischer und semiotischer Theorien. Und wo die Gedankenkraft noch hinreicht, sollte auch mehrwertige Logik nicht unberücksichtigt bleiben. Mehr dazu wird sich in der EINLEITUNG INS ÄSTHETIKUM finden, die ich im April an dieser Stelle zu veröffentlichen gedenke. Aber ich habe auch die schmerzliche Erfahrung gemacht, daß Zeitplanungen kaum einzuhalten sind. Mehr als eine Motivation, nicht aufzugeben und durchzuhalten waren sie bisher nie. Aber April erscheint mir aus heutiger Sicht nicht unwahrscheinlich. Also werde ich den selbstgesetzten Termin einzuhalten versuchen. Die ZEITUNG FÜR PANÄSTHESIE ist nicht als eine Monographie gedacht, wenn ich es mal vornehm ausdrücken darf ;-) Das heißt sie soll nicht mein Produkt allein sein, ist nicht meine Onemanshow! Ich hoffe KünstlerInnen, LiteratInnen und PhilosophInnen zu finden, die bereit sind Teile der Zeitung in eigener Regie zu gestalten und mit ihren Arbeiten Rhizomknotenpunkte zu bilden. Alle, die einer pluralistischen und anarchischen Logik folgen wollen, sind herzlich eingeladen, an der ZEITUNG FÜR PANÄSTHESIE mitzuwirken.
Die ersten beiden Seiten sind fertig und können zur Ansicht als PDF-Datei bestellt werden, wenn mein Emailprogramm wieder läuft. Die Druckversion der Zeitung wird voraussichtlich 2 Euro zuzüglich der Versandkosten betragen.
Mit der Zeitung hat für mich auch der Anfang der EINLEITUNG INS ÄSTHETIKUM Textgestalt angenommen:

Falls es bisher noch nicht deutlich geworden sein sollte: das ÄSTHETIKUM besteht derzeit aus drei großen Bereichen:

1. Der literarische Bereich trägt den Titel ZERFAHRENHEIT

und besteht aus Erzählfragmenten, Roman- und Hörspielelementen und der Novelle BRACHLAND. Die ZERFAHRENHEIT ist ein Teil des Hypertextes ÄSTHETIKUM und besteht selbst wiederum aus weiteren hypertextuellen Vernetzungen. Hierzu habe ich mittlerweile auch ein Exposé geschrieben, das ich noch einmal überarbeiten und dann ins Netz stellen möchte.

2. Der zweite Teil des ÄSTHETIKUMS beinhaltet Philosophisches und Essayistisches

Hier besteht die Baustelle aus ein paar ausgehobenen Fundamenten. Wie sich das Rhizomlabyrinth in diesem Bereich entwickeln wird, wird sich im Laufe dieses Jahres zeigen. Die Gänge führen weg von rationalistischen und scholastischen Denkmodellen. Ein Redezvous der Sinne mit der Sinnlichkeit wie im literarischen Bereich des ÄSTHETIKUMs wird auch philosophisch angestrebt. Kann man Philosophie und Literatur überhaupt noch auseinanderhalten, wenn dieses Rendezvous tatsächlich zustandekommt? Von meinem heutigen Standpunkt aus kann ich sagen: aber sicher doch. Wenn zwei Menschen sich zu einem Rendezvous treffen, verschmelzen sie ja auch nicht zu einer neuen Wesenheit, obwohl ein Zusammentreffen gleich einem Schmetterlingseffekt alle Konstituenten des Daseins verändern kann. Dennoch könnte man nicht sagen, eine Verschmelzung im üblichen Sinne hätte stattgefunden. Die Identität in Form von Abgrenzung bliebe, die Identität im Sinne vom Gleichsein mit sich selbst änderte sich. Im ständigen Fluß des Seins kann man eigentlich auch einen Ausdruck wie Standpunkt nur apostrophiert verwenden. Es sei denn, man bliebe tatsächlich stehen wie ein Gefangener versteinerter Strukturen und Verhältnisse. Auch das gibt es. Es ist ein vielbeschimpftes und geschmähtes, aber wenig verstandenes Phänomen. Doch zurück zu Philosophie und Literatur: die Vernetzungen, die sich hier entwickeln werden, sind noch offen. Sie können aber in jedem Fall auf eine Auseinandersetzung mit dem Rationalismus gefaßt sein. In diesem Zusammenhang habe ich auch das interessante Buch von Lothar Kreimendahl «Humes verborgener Rationalismus» entdeckt. (Walter de Gruyter, Berlin, New York 1982) In diesem Teil des Ästhetikums, den ich auch gerne «Rhizomatik» nenne, werde ich mich der Kommentare zu diesem Buch nicht enthalten können.

3. Der dritte Teil des ÄSTHETIKUMs besteht aus Umgang mit Bildern, Fotografien, Collagen und Texten.

Eine Zeitlang plante ich sogar «Beiträge zu einer Ästhetik der Erotik». Das Büro ist voll von solchen Vorhaben, Projekten, Studien und Fragmenten. In irgendeiner Ecke liegen auch die Materialien, die mit der Absicht angelegt wurden, sich zu eben diesen Beiträgen zu formieren. Ich wollte mich damit durchaus auch von einer puritanischen Lust- und Sinnenfeindlichkeit losmachen, mußte aber alsbald sehen, was auf der anderen Seite des Zauns lauerte: eine kapitalistisch pervertierte Menschenverachtung, die mit dem Ausdruck «Pornographie» nur allzu euphemistisch umschrieben ist. Man kann darüber schweigen, weil darüber zu sprechen peinlich und schier unmöglich ist. Doch ist Schweigen kein gangbarer Weg, sondern eine Form der Anästhesie. Doch floriert nicht nur ein Markt der Pornographie, sondern es werden Menschen gequält, erniedrigt und ausgebeutet. Hier ist Schweigen ein Verbrechen.
Es ist allerdings auch ein Jammer, daß die Ästhetik der Erotik so schnell auf die Abgründe der Pornographie stieß. Ich schreckte zurück vor den Studien und widmete mich anderen Experimenten mit Bild und Text. Einiges davon halte ich schon für präsentabel. Sie finden es unter «gefiltert & geebnet». Im nächsten Schritt werde ich mich Theorien der Fotografie widmen. Das Schreiben mit Licht wird im virtuellen Raum zum Akt des Dichtens und Schriftstellerns. Und wie erstaunt ist man, wenn man die Bilder dann aus der Virtualität in eine manifeste Wirklichkeit auf Fotopapier zurückführt.
Bilder, Fotografien, Collagen, Texte werden neu kombiniert, modifiziert, fragmentiert und auf andere Weisen digital verarbeitet. Auch sie gehören zur Gattung Hypertext, zumal man mit Imagemaps von einem Bild aus unterschiedliche Seiten verlinken kann. Dies geht natürlich in der manifesten Wirklichkeit auf dem Fotopapier wieder verloren. Trotzdem entdeckte ich in letzter Zeit bei all meiner Liebe zum digitalen Medium wieder Formen, mit dem Druckmedium zu arbeiten.
In meiner Verlagspraxis habe ich immer wieder erlebt, daß nichts so sehr fasziniert und begeistert, wie ein soeben fertig produziertes Buch. Frische Druckereugnisse sind so lecker wie frische Brötchen und veralten ebenso schnell. Plötzlich werden geistige Prozesse manifest. Das fasziniert. Ich habe ja den Verdacht, daß hier eine metaphysische Sehnsucht ihr Unwesen treibt: Wer schreibt, der bleibt. Ich habe viel an Bibliophilie in meiner Verlagspraxis eingebüßt. Die Begeisterung der Autoren für ihre Produkte ließ nach der Produktion schnell nach, oder die Menschen entwickelten während der Produktion eine nahezu krankhafte Pedanterie. Wer bleibt, will natürlich auch perfekt bleiben :-) Erst wurde bis zum Druck eine noch nie dagewesene Pedanterie an den Tag gelegt und am Ende nach dem Druck eine mir vollkommen unvorstellbare Gleichgültigkeit. Hinzu kam das bornierte, kleingeistige Verhalten vieler Buchhändler. Für einen Grossisten waren die Auflagen zu klein, die einzelnen Buchhändler ließen sich lange bitten, bevor sie ein paar Exemplare gnädigerweise in Kommission nahmen. Am aufgeschlossensten und unkompliziertesten zeigte sich noch immer die örtliche Presse.
Die Faszination für das gedruckte Buch hat mich letztlich nie ganz gepackt. Die Faszination des Schreibens, was man auf gar keinen Fall mit dem Buch als Endprodukt verwechseln darf, immer schon. Ich bin ein begeisterter Anhänger des geschriebenen und gesprochenen Wortes - bibliophil bin ich deswegen noch lange nicht. Als ich die Möglichkeiten des Internets sah, was aufgrund meiner latent rationalistisch-konservativen Haltung lange genug dauerte, war die Buchproduktion für meine eigene Literatur nahezu obsolet geworden. Erst jetzt nach etwa fünf Jahren fange ich an, das Haptische zu vermissen. Gerne kehre ich auch wieder zur Handschrift zurück. Den Grund dafür habe ich noch nicht ganz herausgefunden. Der Hypertext ist unschlagbar und entfaltet sich vollständig nur in der digitalen Virtualität. Aber die Handschrift vermittelt einem eine sinnliche Befriedigung eigener Art. Die Haptik der Tastatur ist da ein anderer Genuß. Und ebenso der virtuelle Text auf dem Bildschirm. Es kam also bei mir der Zeitpunkt, an dem ich mich wieder nach dem handschriftlichen Schreiben gesehnt habe. Vielleicht aber waren es auch äußerliche Reize, die mich wieder mit der Lust auf Papier und Stifte erfüllt haben.

Einige meiner Freunde behaupten, daß das Internet überhaupt kein Textmedium sei. Sie stammen aus der grafisch-designerischen Ecke und benutzen die Internetseiten wie interaktive Plakatwände. Dem Rhizom aber entspricht der Hypertext als Medium optimal. Zum Hypertext aber gehören nicht nur graphische Zeichen, Typen, Buchstaben. Daher der Bereich «gefiltert & geebnet».
 

4. Die NACHRICHTEN AUS DEM BÜRO

Als einen weiteren und vierten Teil des ÄSTHETIKUMs möchte ich, auch wenn es sich ein bißchen sophistisch anmutet, die NACHRICHTEN AUS DEM BÜRO anführen. Sie haben es sicherlich gemerkt: Hier finden viele Reflektionen statt, essayistische Überlegungen und auch Plaudereien. Man kann diesen Teil bestimmt auch als eine Art Arbeitstagebuch lesen. Ich schreibe nunmehr seit 27 Jahren und vom ersten Tag an spielte das Tagebuch eine Rolle. Ich konnte ihm oft keinen Status einräumen, es ließ sich schwer einschätzen und noch schwerer wertschätzen. Selbst die Tatsache, daß es Autoren gibt, die von vornherein für die Öffentlichkeit bestimmte Tagebücher schreiben, konnte mich mit meinen tagebuchartigen Einträgen, die mehr oder minder regelmäßig stattfanden, nicht versöhnen. Wozu diese Selbstbespiegelung? fragte ich mich immer wieder. Hat das nicht etwas Wichtigtuerisches und Metaphysisches, als wollte man der Nachwelt noch etwas von sich hinterlassen? Erst mit der Entwicklung eines Arbeitsjournals vor etwa vier Jahren konnte ich letztendlich meinen Frieden mit dieser Art des Schreibens zur Selbstverständigung und Koordinierung meiner Gedanken und Arbeitsideen und Projekte finden. Heute würde ich sagen, daß die NACHRICHTEN AUS DEM BÜRO mit meinem nicht öffentlichen Arbeitsjournal gemeinsam einen wesentlichen Bestandteil meiner schriftstellerischen Arbeit ausmachen und davon nicht wegzudenken sind. Keine literarische Zeile könnte entstehen, wenn ich diese Form der Texte nicht hätte.

Der Einblick in die Werkstatt hat einen selbstreflexiven Aspekt, darüber hinaus gewährt er die Möglichkeit, Zusammenhänge zu erkennen, die nur Außenstehende sehen können. Ich mache mich durch diesen Text gewissermaßen zu einem Außenstehenden. Natürlich trifft auch der Ausdruck Selbstbespiegelung noch zu. Aber muß sich Selbstbespiegelung in Eitelkeit erschöpfen?

Der Geniekult ist ein Relikt vergangener Jahrhunderte und Epochen. Er hat nichts verloren in der Pragmatik hypertextueller Produktionsprozesse. Geistiges Eigentum und Urheberschaft mögen ökonomisch-juristisch von Bedeutung sein, kulturell sind sie irrelevant, weil nicht wirklich vorhanden. Ich schreibe nicht in einer Sprache, die ich mir selbst ausgedacht habe, ich folge nicht einer Bildung, die aus mir selbst kommt. Ich bin wie jeder andere auch ein Produkt einer Kultur - ja genau genommen sogar mehrerer unterschiedlicher Kulturen.
Insofern halte ich es mit dem alten anarchistischen Spruch: EIGENTUM IST DIEBSTAHL! Geistige Güter gehören allen Menschen. Von wem stammt der Spruch bloß? Woher habe ich ihn nur???

08. November 2004

Zukunft schreiben - Überlegungen zur Ankündigung einer Schreibwerkstatt

Für den 18./19. Februar 2005 plant die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft einen Kongress unter dem Titel ZUKUNFT BILDUNG. Im Vorstand des Schreibhaus e.V. kamen wir auf die Idee, mit einem Angebot aus unserem Workshopprogramm an diesem Kongress teilzunehmen. Doch bei näherer Betrachtung des Programms erwuchs in uns der Wunsch nach einem speziellen Angebot für die GEW. Es geht ja schließlich um die Zukunft der Bildung und um Bildung als Zukunftsfaktor. Warum also nicht visionär denken, mutig die Scheren aus dem Kopf verbannen, sich nicht an finanziellen und bürokratischen Schranken orientieren, sondern einmal abheben und Höhenluft der Utopie schnuppern? Das Thema Bildung interessiert mich seit ich denken kann. In Baden-Württemberg war ich in den frühen 80er Jahren unter dem Kultusminister Mayer-Vorfelder Mitglied des Landesschulbeirates, später Mitglied der GEW, von der ich zunächst zu IG Medien wechselte, um dann die Gewerkschaften zu verlassen. Immer wieder packte mich das Thema der Bildung nicht zuletzt in Zusammenhang mit politischer Bildungsarbeit in Parteien und Verbänden. Bildung also mal als Erwachsenenbildung und mal als Schulbildung und Schulpolitik. Manchen mag es seltsam erscheinen, aber eines war mir sehr früh klar: wie sehr mich das Thema der Bildung auch interessieren mochte, niemals wollte ich in die Schule und als Lehrer enden. Mein Verhältnis zur Schule war sogar umgekehrt proportional: Je mehr ich mich für Bildung interessierte, desto weniger wollte ich in die Schule.

Im ÄSTHETIKUM gibt es einen ganzen Bereich, den ich der Bildung widmen werde. Auch in meinem Labyrinth-Roman DIE LEMMINGE DES PROMETHEUS IM VERRÜCKTEN LABYRINTH ZU BABEL klingt das Thema Bildung deutlich an. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um einen Bildungsroman. Oder vielleicht doch? Ich werde in der EINLEITUNG INS ÄSTHETIKUM ernsthaft darüber nachdenken.

Doch zunächst zurück zu Bildung: es müßte einen Paradigmenwechsel geben, einen Paradigmenwechsel, der den Begriff der Schule vollkommen umkrämpelt bzw. abschafft. Aus vermeitlichem oder tatsächlichem Bildungsgefälle dürfte kein Machtgefälle entstehen. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler müßte sich auflösen. Die Bildungseinrichtung, die ich auch nicht mehr Schule nennen würde, würde aus Mentoren, Investigatoren, Zeugen und Administratoren bestehen. Lernen wäre eine detektivische Erkundungs- und Forschungstätigkeit. Motiviert von neugier und Rätseln könnten Investigatoren sich bilden, indem sie von Mentoren geleitet -wie von Wegweisern- und von Zeugen, die sie befragen müßten, informiert, Wissen erwerben würden.

Das erworbene Wissen wäre in Inter- und Spezialdiskursen (Jürgen Link, 1983) zu memorieren und in eine narrative und referierende Form zu bringen. In Kolloquien wäre das erworbene Wissen ebenso zu präsentieren wie in geführten Heften, in individuellen Investigationstagebüchern, in Berichten, die man auch im Inter- und Intranet niederlegen könnte. Auch andere, künstelrische Darstellungs- und Präsentationsformen wären denkbar. So wäre Wissen nicht nur zu erwerben und zu memorieren, sondern auch individuell zu präsentieren und in einen öffentlichen Raum zu stellen.
Dies ist übrigens keine absolute Novität. Schulen praktizieren diese Dinge zum Teil schon, wenn beispielsweise gemalte Bilder in Klassenräumen oder Schulfluren aufgehängt werden. Dieser rudimentäre Ansatz des Öffentlichen müßte weiter ausgebaut, gefördert und entwickelt werden. Bildung bestünde aus der dialektischen Einheit von Investigation und Narration und Präsentation.

Dieses Paradigma müßte nicht alles neu erfinden und alles verwerfen, was es im bisherigen Bildungswesen gibt und entwickelt hat. Viele Methoden würden im Kontext des neuen Paradigmas neu evaluiert, würden anders gewichtet, könnten sich weiterentwickeln und neues Gewicht erhalten. Das Autoritäre wäre, wie einiges andere in der neuen Bildungseinrichtung, dialektisch aufgehoben. Es wäre nicht mehr machtgestützt, sondern würde auf Wissen basieren. In der Konsequenz wäre Respekt nicht Furcht vor der Macht, sondern Anerkennung der Lesitungen des anderen. Es wäre ein Bildungswesen ohne jeglichen Paramilitarismus, eine wahrhaft demokratische freie Assoziation freier Individuen in einer freiheitlichen und pluralistischen Wissensrepublik.

Der Typus des Lehrenden als Variationen des Feldwebelverschnitts würde sich in der neuen Bildungseinrichtung, in der Wissensrepublik ändern. Die Rolle des Lehrers gäbe es nicht mehr. Der neue Typus des Lehrenden wäre der des kultivierenden Mentors. Lehrende und Lernende fielen gemäß der dialektik des docendo discimus zusammen, und Mentoren wären Wegweiser und Betreuer. Ihre habituellen Verhaltensweisen würden sich wesentlich von denen der Lehrer unterscheiden. Das würde auch tatsächlich die Entstehung eines neuen Bildungsdiskurses bedeuten.

Es ist ein Traum, eine Vision, eine Utopie - eine, über die in konkreten bildhaften Szenarios nachzudenken sich lohnte. Schließlich brauchen auch Visionen ihre Zeit zum Reifen, ihre Details zu entwickeln und zu entfalten. Irgendwann könnten sie aber ein vollständiges Bild ergeben, das seine Betrachter in den Bann zu ziehen vermag. Damit könnte die Wirklichkeit der Bildungsrepublik beginnen, in der es keine allgemeine Schulpflicht mehr gäbe - welch eine unpreußische Erfindung wäre dies!



Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse: Aktuelle Aufgaben der Literaturwissenschaft, München: Fink, 1983.
 

17. Oktober 2004

Ein Freund und Autor ist tot

Heute vor einem Monat starb, wie ich vor einer Woche erfuhr, ein Autor, der in meinem Kleinverlag veröffentlichte: Hans-Jürgen Gawoll. Promovierter Philosoph und Akademischer Oberrat im Hegelarchiv der Ruhr-Universität Bochum, der mir die Publikation zweier Gedichtbände ans Herz legte und auf zwei weitere Bücher hoffte, die ich im Lektorat hatte. Wir sind nicht mehr dazu gekommen, die Arbeiten an seinem Essayband voranzutreiben und abzuschließen. Meine Kommentare und Überarbeitungsvorschläge zu seinen Essays konnte oder mochte er nicht mehr beantworten. Am 4. September 2003 hatten wir unser letztes Treffen; Er sah sehr krank und geschwächt aus, auch wenn er nicht darüber sprechen wollte, was ihm fehlte. Wir waren verabredet, und ich hatte mich ein bißchen verspätet. Er aber schien das ganze Treffen vergessen zu haben. Meinen selbstgebackenen Kuchen mochte er nicht anrühren. Dennoch verlief das Gespräch in einer herzlichen Atmosphäre, und er gab mir wieder Kostproben seines Humors, den ich immer sehr an ihm geschätzt habe. Jedes Wort wirkt hier nun fade und abgegriffen. Ich weiß, daß ich mich an einen Nachruf machen muß. Ich weiß aber auch, daß ich es ohne Weiteres nicht kann. Ich brauche Zeit zum Nachdenken und zu verstehen. Ich weiß, was er gerne gehabt hätte, und ich hoffe, daß ich es ihm nachträglich geben kann. Ein Nachruf allerdings war es sicherlich nicht. Lieber hätte er die Publikation seiner Essays gesehen und eine größere Resonanz auf seinen Gedichtband «Gedichte, die kein Leben schrieb». Ich will daran arbeiten und seiner gedenken. Der Nachruf hat Zeit. Wichtig ist, daß die Ecke auf meiner Site, die für ihn reserviert ist, aktualisiert ins Netz geht. Über sie hatte er sich scheinbar gefreut, kommentierte die Internetpräsenz mit den Worten «Was machst du mit mir?» Ich erschrak, weil ich nicht wußte, was er meinte und ich das Gefühl hatte, etwas falsch gemacht zu haben. Er aber beruhigte mich.
Im Zuge der Umstrukturierung meiner Site nahm ich Hans-Jürgen Gawolls Seiten wieder vom Netz. Nun müssen sie unbedingt wieder ins Netz zurück. Das ist nicht nur ein Ausdruck meiner Sentimentalität, sondern auch meine Pflicht als Verleger, der ich eine Zeitlang frustriert nicht mehr sein wollte. Aber es sind Klischees, die als Grenzen fungieren und Widersprüche suggerieren. Ich glaube, ich kann sowohl Verleger als auch Autor sein und muß mich nicht fürchten, mich in Widersprüchen aufzureiben. Schließlich wollte Hans-Jürgen Gawoll sowohl als Philosoph als auch als Dichter fungieren.

BRACHLAND

Ein kleines Stück aus meiner Novelle, die einen Teil meines Hypertextromans ZERFAHRENHEIT bildet, möchte ich als Appetithäppchen präsentieren. Der Rest der Publikation steht in den Sternen.

23. September 2004

Nachtrag zum «deutschen Montag»

Marshall McLuhans "The Medium is the Message" - Das Medium ist selbst die Botschaft verstehe ich, wie man es meiner Übersetzung schon ansehen kann, mit einer gewissen positivistischen Pointierung im besten Sinne des Wortes. Ich selbst bin kein Positivist, was mich aber nicht davon abhalten sollte, einen Medienskeptizismus an den Tag zu legen, der gewissen Verstehensprozessen Bahn bricht. Vor drei Wochen schrieb ich über die Montagsdemonstrationen, wie sie in den Medien dargestellt werden. Es wird im Fernsehen suggeriert, die Demonstrantinnen und Demonstranten würden eine Kluft zwischen sich und den Parteien sehen. Fest steht, daß ich nicht bereit bin, jede Information, die das Fernsehen in meine cartesianische Höhle, die ich gerne als Büro bezeichne, hineinflimmert, für bare Münze zu halten. Was ich mit einiger Gewißheit habe, ist die Information, daß die für die Nachrichten verantwortlichen Fernsehjournalisten mit einer an Schwachsinnigkeit grenzenden Penetranz das Schema gebetsmühlenartig wiederholen, daß rechts und links, NPD bzw. DVU und PDS gleichzusetzen seien. Der Erkenntniswert dieser Glaubensformel ist gleich Null, und nichts erinnert so fatal an Staatsfernsehen à la DDR wie der Meinungskonformismus, der in diesem Punkt vorherrscht. Es ist das ideologische Schema der Nachrichtenmacher, was mich tatsächlich in meinem Büro erreicht. Es sind nicht die Montagsdemonstranten, die wahrscheinlich ein Spektrum von basisdemokratischen oder sozialistischen Linken bis hin zu Nazis abdecken, die die pluralistische repräsentative Demokratie für eine jüdisch-amerikanische Verschwörung halten und von einem Volk mit einem Führer träumen.
Was mich mit Sorge erfüllt, ist die Borniertheit und intellektuelle Unfähigkeit der Journalisten, die Phänomene ohne moraliensaures Gewäsch differenziert und verständlich darzustellen. Und was mich am Zustand des demokratischen Bewußtseins in dieser Republik bekümmert, ist die Tatsache, daß der Bundesinnenminister in einem Interview das Urteil eines so wesentlichen Verfassungsorgans wie des Bundesverfassungsgerichts so leichtfertig als Schutzschild für das politische und administrative Versagen seines Ministeriums benutzen kann. Ich denke, Weimar ist nicht an der Stärke und Genialität der Nazis gescheitert, sondern an der Schwachsinnigkeit der bürgerlichen Politiker. Möge es der Berliner Republik anders ergehen. Ich gehöre zu jenen Menschen, die ein Überlebensinteresse daran haben :-)


Das Foto vom 1. September 2004 entstammt dem Material zu Ines Meier/Kerstin Hetmann: ÜBER DIE SUMME DER HÄUSER. Das Buch erschien zunächst in kleiner Auflage in meinem Verlag und ist mittlerweile fast vergriffen. Da ich die schöne Literatur nicht kommerziellen Interessen unterordnen möchte, habe ich die wichtigsten Produktionen, darunter auch dieses Buch dem Schreibhaus e.V. überantwortet. Die nächste Auflage wird dort publiziert.
Das Foto paßte nicht in das Editionskonzept der Autorinnen und wurde aussortiert. Beim Aufräumen meiner Festplatte bin ich wieder darauf gestoßen und fand diesen Spruch sehr passend zu den Montagsdemonstrationen, deren rückläufige Tendenz einige mit (Schaden-?)Freude registrieren. Gut ausgesessen, Herr Schröder, möchte ich da fast meinen. Mich begeistert das dokumentierte Selbstbewußtsein des Sprayers, der zunächst in kleiner Schrift zur Unterschrift ansetzt und dann sich umentscheidet und in großen Lettern schreibt: «Ich bin Volker». Auf mich wirkt es wie ein Gegenkonzept zum faschistoiden und völkischen "Du bist nichts, dein Volk ist alles" oder in anderer Tonart "Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen". Wofür? Für Bundeswehreinsätze im Ausland? Dafür, daß Deutschland Kraftmeierei in Europa und in der Welt treiben und in Afghanistan seine "nationalen" Interessen vertreten kann? Witzig im Sinne von geistreich setzt da jemand seinen Individuennamen dagegen. Wer wird die Politiker zur Verantwortung ziehen für all die Menschenopfer, die sie kalkuliert für ihre Politik bringen?
Mitzubedenken ist vielleicht, wenn man über den Spruch auf der Mauer schmunzelt, daß Volker "Volksführer" bedeutet.

1. September 2004

Der deutsche Montag

Der Montag liegt nun zwei Tage zurück, ach dieser bedeutungsschwere historische Tag, der Wochentag der Deutschen. Ich könnte in den «Nachrichten aus dem Büro» mal über die Nachrichten schreiben, wie sie aus dem Fernseher im Büro ankommen: Da sind fleißige Bürgerinnen und Bürger, die «Wir sind das Volk» rufen und keine Parteien in ihren Reihen haben möchten. So weit zum Demokratieverständnis dieser Leute! Für sie stehen die Parteien dort und das Volk (das sind sie) hier. Und ein stalinistischer Graben zwischen Parteien und Volk, wie er sich schon in Brechts Gedicht zum 17. Juni zeigte. An ihrem Demokratieverständnis muß diese Gesellschaft noch arbeiten - nicht nur das montags demonstrierende Volk, sondern auch die Medien, die Berichterstatter und Kommentatoren, die Parteien und all diejenigen, die irgendwo sitzen und sich nichts dabei denken, wenn solche Nachrichten auf sie einflimmern. Der Gegensatz oder besser: der Interessenkonflikt zwischen arm und reich wird nicht durch antidemokratische Fauxpas beseitigt, sondern durch ein vitales Gerechtigkeits- und Demokratiegefühl. In diesem Sinne wünsche ich dem deutschen Montag alles Gute.
Foto: Ines Meier (Zittau)

Und nun...

wirklich etwas, was aus dem Büro kommt und nicht in erster Linie eine Reaktion auf das darstellt, was in das Büro hineinflimmert oder hineinflattert. Ich habe mit dem Aufräumen meiner Manuskripte und Fragmente begonnen. Zum Teil sind sie in Ordnern auf dem Papier und zum Teil auf der Festplatte. Ich habe nichts weggeschmissen, alles mehr oder weniger fein säuberlich aufbewahrt und stehe nun vor einem gigantischen Chaos von Texten, Fragmenten, Dateien, Versionen. Was davon kann und will ich veröffentlichen? Was läßt sich zu neuen Texten verwursten? Wovon muß ich mich endgültig verabschieden? Letztendlich müßte doch ein "Lebenswerk" auf einer CD-ROM Platz haben, oder etwa nicht?

Auch wenn viele Kolleginnen und Kollegen es nicht wahrhaben wollen, mit der «Elektrifizierung des Wortes», wie es Dieter E. Zimmer einmal genannt hat, haben sich die Bedingungen für die Textproduktion, Rezeption und Vertrieb radikal verändert. Man kann auch sagen: Es ist alles demokratischer geworden. Texte brauchen vor Grenzen ebensowenig Halt zu machen wie vor Verlagstüren. Man kann aber auch die Kehrseite sehen: Die Schriftsteller können mit ihrem Kapital, also mit dem Text, dessen Urheber sie sind, nicht mehr recht wuchern. Technisch ist es möglich, dieTexte allen Menschen billig, ja nahezu kostenlos zugänglich zu machen. Wovon aber sollen dann die Schriftsteller leben? Sie brauchen keinen Verlag, der in finanzielle Vorleistung tritt und die Bücher zunächst teuer drucken und binden läßt, um mit ihnen dann handeln zu können. Der Schriftsteller wurde bisher lediglich mit einem geringen Prozentanteil an dem Verkaufspreis des Buches beteiligt (5-25%). Etwas davon gab es sogar als Vorschuß vom Verlag, noch bevor die Bücher publiziert wurden, weil der Verlag sich ungefähre Absatzchancen ausrechnete. Nun gibt es das Buch im "on demand"-verfahren. Es muß nicht kostspielig gedruckt und in hoher Auflage irgendwo gelagert werden, bis die Buchhändler es bestellen. Das Buch wird digital in geringer Auflage bei Bestellung gedruckt. Dieses Verfahren ist bei konservativen Profis nicht beliebt, und wer sich seiner bedient, gilt überhaupt nicht als "richtiger" Schriftsteller - und schon gar nicht, wenn er dieses Verfahren selbst finanziert und keinen Vorschuß vom Verlag erhält.

Andererseits ist das Finden eines Verlages schier unmöglich. Warum sollte sich ein Verlag in Unkosten stürzen? Warum Bücher produzieren, die erst einmal lange liegen bleiben, bis sie vielleicht positiv und populär rezensiert werden und das Interesse an ihnen steigt? Warum warten bis ein vermeintlich vielversprechender Autor einen Literaturpreis gewinnt und dadurch auf sich aufmerksam macht? Warum nicht lieber auf Lizenzausgaben und Übersetzungen vertrauen, auf Autoren und Bücher, die sich bereits bewährt haben? Da bekommt der literarische Nachwuchs immer weniger Chancen. Qualität bleibt auf der Strecke. Allein Verkaufszahlen werden zum tragenden Moment.

Andererseits kann im Internet jeder veröffentlichen. Qualität spielt keine Rolle, eine Vorauswahl gibt es nicht, ein Lektorat findet nicht statt. Die Literatur wird zu einem Schuß aus der Hüfte. Die Texte könnten von romantischen Analphabeten stammen, die wild auf der Tastatur herumhämmern. Die Professionalität bleibt auf der Strecke.

Bei dieser Problemlage sehe ich keine Pauschallösung. So ist es mit der Demokratie: Wenn sich das Volk zu Wort meldet und unkontrolliert Texte verbreiten kann, bleibt viel Stuss einfach nicht aus! Na und? Hat uns die Verlagslandschaft nur Literaturnobelpreisträger beschert? Die Anzahl der Schmierenautoren, die Trivialität bis zum Erbrechen unter die Leute gebracht haben, war auch in einer wohlgeordneten Verlangslandschaft nicht gerade gering. Und das Schlimme war, man wußte nicht, welche Texte es noch gab. Vielleicht sortierten die Lektoren gerade jene aus, die zwar sehr "anspruchsvoll" aber eben wenig verkaufsträchtig waren. Im Zeitalter des Internets braucht kein Genie zu fürchten, vom Profitkomplott der Verleger verschwiegen zu werden. Es herrscht das freie Spiel der Kräfte.

Doch von diesem Spiel kann man nicht leben, wenn alle Texte kostenlos im Internet zu haben sind. Das ist in der Tat wahr. Aber vielleicht ist das Internet -pathetisch gesprochen- die technische Realierungsmöglichkeit der kommunistischen Idee: Jeder nach seinen Leistungen, jedem nach seinen Bedürfnissen. Es steht und entwickelt sich aber unter den Bedingungen des Besitzes und des Handels. Während ich die mir angenehme Seite des Internets favorisiere, weiß ich wohl, daß im selben Netz Produkte der schlimmsten Barbarei und Ausbeutung wie Kinderpornographie vertrieben werden. Vielleicht ist es eine den Dingen innewohnende Dialektik, die man nicht akzeptieren darf, sondern jederzeit zu überwinden trachten muß.

Geistige Güter auf ihren Warencharakter zu reduzieren und Professionalität im Schreiben monetär zu beurteilen, kann der Weisheit letzter Schluß nicht sein, auch wenn ich fast täglich erlebe, wie stolz und eitel die Kolleginnen und Kollegen auftreten, die einen Verlag "gefunden" haben. Erst dann sehen sie sich als vollwertige Schriftsteller. Und ich muß leider ein bißchen schmunzeln, da ich von einigen weiß, daß diese ihre scheinbare Professionalität teuer durch Vanitypress erkauft wurde. Sie sind Kinder einer bourgeoisen Kultur und wollen ihr nicht entwachsen. Und tatsächlich hat es in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Stimmung den Anschein, als könnte Bildung als Ware behandelt werden. Das stellt eine Gefahr nicht nur für die Entwicklung des Internets dar. Eine große Chance zur radikalen Demokratisierung der Kultur könnte auf der Strecke bleiben. Aber was hilft da jammern und wehklagen? Ich werde meine Festplatte aufräumen, meine Ordner und Regale durchsehen, meine Literatur verfassen und auch um mein Überleben in dieser Gesellschaft kämpfen. Wie heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Andererseits glaube ich aber gehört zu haben, daß gerade die Hoffnung das letzte Übel war, was die Büchse der Pandora verließ. Vielleicht aber habe ich mich auch nur verhört :-)

Darum hier mein Text: «"Aphorismus" ist nicht das treffende Wort».

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