Uri Bülbül

«Aphorismus» ist nicht das treffende Wort

Goethe und Werther - Mensch und Kot

Ich zupfe an den weißen Blütenblättern: sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich, sie liebt mich nicht... natürlich bin ich auf das Ergebnis gespannt: es wird eindeutig ausfallen: entweder liebt sie mich oder sie liebt mich nicht. Das letzte Blättchen sagt: sie liebt dich! Lässig werfe ich den Stengel weg. Es ist schön in einer binären Welt zu leben: alles ist schwarz oder weiß, heiß oder kalt, alt oder jung, Lüge oder Wahrheit, entweder oder. Das Dritte ist ausgeschlossen. Sie liebt mich. Das heißt sie liebt mich. Die lässige Bewegung, mit der ich mich des blöden Stengels entledigte - zählt sie nun dazu, zu meinem Auszählen der Wahrheit oder nicht? Sie liebt mich nicht. Und wenn ich sie fragte? Vielleicht sagte sie: Ja, ich liebe dich. Vielleicht sagte sie: Nein, ich liebe dich nicht und fügte hinzu: nicht mehr. Oder sie löge oder sie wüßte es nicht oder sie täuschte sich über ihre Gefühle oder...oder...
 Ich fange noch einmal von vorne an: wer meint, daß man mit Worten lügen könne, erinnere ich mich an einen Essay Gottfried Benns, wer meint, daß man mit Worten lügen könne, könnte meinen, daß es hier geschehe. Wie kann man ohne Worte lügen? Mit Taten? Ach ja, da ist sie wieder - die wunderschöne binäre Opposition: Lüge Wahrheit, Wort und Tat, Geist und Körper, Kopf und Bauch. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Theorie und Praxis. Wer meint, daß man mit Worten lügen könne... - unser Dichter scheint jedenfalls nicht davon überzeugt zu sein. Eine seltsame Distanz hat er da zu seinem Handwerkszeug, zu seiner ureigensten Materie - zum Wort.
 Es ist dieselbe Distanz, die mein Margaritenstengel zur Wahrheit der Gefühle meiner Geliebten hat. Der Dichter und sein Wort - ist es sein geistiges Kind, sein Eigentum? Kinder sind kein Eigentum, auch wenn ich von "meinen Kindern" spreche. Die Vieldeutigkeit der Sprache hat uns zu manch einem Trugschluß verleitet und zu manch einem Irrtum. Was für eine Paradoxie: Ein Possessivpronomen zeigt keine Besitzverhältnisse an! Wie soll man mit solch einem ungenauen Instrument lügen können, setzt dies doch voraus, daß man mit der Sprache die Wahrheit sagen kann. Der Dichter kennt sein Wort, weiß womit er arbeitet; es ist flüchtig sogar oder erst recht in geschriebenem Zustand. Es entledigt sich der Wahrheit, um sein eigenes Leben zu beginnen. Es entledigt sich des Dichters, nachdem es sich seiner erst bemächtigte, mit ihm spielte, ihn in andere Welten riß, ihm rebellisch bewies, daß es nicht sein Kind ist, wie Jugendliche in der Pubertät es ihren Eltern beweisen. Es machte ihm Kummer und Sorgen, um es dann lachend zu verlassen. Ja, des Dichters Worte sind seine geistigen Kinder, und sie gehen ihre eigenen Wege, finden ihren eigenen Sinn, finden in neuen Lesarten neue Freunde, neue Lebensweisen. Und der Dichter erschrickt wie der alternde Vater, der greise Dummkopf, der die Welt nicht mehr begreift. Und verfolgt mit seinen knöchernen Händen und verknöcherter Moral noch aus dem Grab heraus sein Werk, sein Kind und will als Sinn in ihm fortleben. Wie an solchen übermächtigen Eltern die Kinder, so leiden die Werke an ihren Dichtern.
 Ja, der Dichter, der sein geistiges Eigentum verteidigt, weil er ein Wort mißverstanden hat, der sich in der Bedeutungskiste vergriff und dümmlich einem Possessivpronomen auf den Leim ging. Lieber töten als gehen lassen. Das muß echte Liebe sein! Affenliebe!
 Die Angst des Dichters elf Minuten vor der Lesung: wohin wird meine Literatur gehen? Sie liebt mich, sie liebt mich nicht und die lässige Bewegung, mit der ich mich des Blütenstengels entledige. Mögen Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler und wer es noch so gern mag, in meinen Worten nach mir suchen, wie ich in der Margarite nach der Liebe und in Werther nach Goethe oder... - aber lassen wir das!
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