Uri Bülbül
«Von
der deutschen Systemphilosophie entzückt, versuchte er diese
weltumspannende Systematik in seine Literatur zu übertragen, wozu auch
seine marxistische Schulung
beigetragen haben mochte. Trotz aller Offenheit seiner Dialektik, die
er
zu einer Rhizomatik weiterzuentwickeln suchte, wie er es in Anlehnung
an die moderne bzw. postmoderne französische Philosophie nannte, konnte
er
von der Idee einer allumfassenden monadischen oder monistischen
Literaturphilosophie nicht ablassen. Er wollte über das Einzelne und
Ganze zugleich schreiben und konkret und abstrakt zugleich sein. Das
machte ihm die Gattungsbestimmung seiner Texte und damit die eigene
Orientierung in seinen Gedankengängen schier unmöglich, was in seinem
sogenannten Labyrinth-Roman
seinen
Niederschlag fand.
Er schwankte zwischen philosophischer Essayistik und
fiktionaler Epik bei vollem Bewußtsein der Problematik um das
Spannungsverhältnis zwischen Botschaftsträchtigkeit und Ästhetik seiner
Arbeiten. Hierüber ließ er sich auch in seinen Arbeitstagebüchern aus.
Den Ausgangspunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen bildete die
Überlieferung über Samuel Beckett, er habe auf die Frage, was er denn
mit Warten auf Godot
sagen wollte, geantwortet, genau das, was in dem Stück vorkomme. Hätte
er etwas anderes sagen wollen, hätte er etwas anderes geschrieben.
Nicht
nur in seinem Arbeitsjournal beschäftigt er sich mit dieser
Problematik. Auch in seiner quasi poetologischen Arbeit in dem von ihm
gegründeten Literaturverein Schreibhaus e.V. setzt er sich mit der
Botschaftsträchtigkeit von literarischen Texten auseinander und betont
immer wieder und oft auch polemisch seine Ablehnung einer Message in
literarischen Texten.
Weitaus geringer sind scheinbar seine Probleme
mit Dramen. Dialoge liegen ihm, er schreibt sie gern in seiner Prosa,
er schreibt sie aber auch gern als Hörspiele und Theaterstücke. Zu
erwähnen sind in diesem Zusammenhang sein Kurzstück
Beschiss
und sein Hörspiel Der Auftrag.
Synoptisch erweitert er den Hörspieltext um epische Prosa und bringt
dadurch in die Unmittelbarkeit des dramatischen Geschehens, dessen
Ohrenzeuge man im Hörspiel wird, noch die vermittelte Distanz durch die
Erzählung, womit der Brechtsche V-Effekt abgewandelt in die
ZERFAHRENHEIT aufgenommen wird.
In der Maschine des Selbstgesprächs,
einer autobiografisch-theoretischen Rückschau auf seine Arbeitsweise
und seine schriftstellerischen Probleme kommt er auch auf sein
persönliches Verständnis vom Brechtschen V-Effekt zu sprechen.
Das Unmittelbare sei das Dramatische; durch die Einführung der Erzählung
in die dramatische Handlung werde eine Instanz der Distanz geschaffen, nämlich
der Erzähler, ob als Spielleiter oder Kommentator. Eine Erzählung ordne immer
das unmittelbare Geschehen der Ereignisse, bringe eine Perspektive der
Wahrnehmung ins Geschehen und schaffe eine epische Chronologie, die nicht
identisch sei mit der Abfolge der Ereignisse. Das Medium Film aber sei die
wahre dialektische Synthese zwischen Epik und Dramatik, wobei im Wesentlichen
die Kamera die Erzählinstanz bilde zugleich aber Distanz überwinde und eine
eigenartige Unmittelbarkeit vermittle.
Damit untergrabe der Film aber auch die von Brecht intendierte kritische
Distanz zum Geschehen. Schaffe neue Identifikationsmomente mit der Fiktion
und belebe die Katharsis wieder. Die Hollywood Filmindustrie mit ihrer
Ästhetik und Dramaturgie führe damit die Fiktion zur totalen Illusion und sei
das gegenwärtige Opium für das Volk.
Versucht man nun angesichts dieser Äußerungen und seines literarisch-philosophischen
Materials seinen politischen wie philosophischen Standpunkt zu bestimmen, stellt man
fest, daß ein stereotypes Kategorienschema leicht versagt. Er bezeichnet sich als
Kommunist und leitet das von seinem Verständnis des Kommunistischen
Manifestes ab: er wolle eine Gesellschaft, in der die Freiheit eines jeden
einzelnen Menschen die Freiheit aller bedeute. Keine Gesellschaft könne wirklich
frei sein, in der auch nur ein einzelnes Individuum unfrei lebe. Dieses Individuum
sei dann der Gradmesser der Freiheit der Gesellschaft. Da er an die Idee und die
Möglichkeit einer solchen Gesellschaft glaube, sei er Kommunist.
An anderer Stelle läßt sich Uri Bülbül auf die Diskussion ein und über die Frage aus,
ob Christentum und Kommunismus vereinbar seien. Natürlich bezeichne der Ausdruck
Kommunist seinen Glauben, wenn man so wolle, seine Religion, wie eben der
Ausdruck Christ einen Christen bezeichne. Insofern könne man Kommunisten
mit Christen gleichsetzen, da es sich in beiden Fällen um eine Religion handle und
nicht, wie Marx und Engels uns glauben machen wollten, in dem einen Fall um eine
wissenschaftliche Weltanschauung und im anderen um Mythos. Ob diese Gleichsetzung,
die sicherlich auch nicht unumstritten sei, aber auch eine Vereinbarkeit impliziere,
dürfe wirklich bezweifelt werden, denn schließlich würden viele Kriege um des
Glaubens Willen geführt. Andererseits räume er aber auch ein, daß es Christen gebe,
die eine friedliche Gesellschaft sich als eine kommunistische Gesellschaft vorstellten.
Auch Jesus' Vogelmetapher sei in dieser Richtung deutbar, wenn es da heiße:
«Seht die Vögel! Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der himmlische Vater ernährt
sie doch.» Hierzu aber hat Bülbül noch eine spezielle Deutung, mit der er nicht
hinter dem Berg hält:
Der Hinweis auf die Vögel sei keinesfalls ein Hinweis zur Beschreibung einer zukünftigen
Utopie im Falle einer Erlösung, sondern ein Imperativ, aus dem sofort Schlußfolgerungen
gezogen werden könnten. Das philiströse Schaffen, Raffen und das ganze Leben dem
ökonomischen Zweckrationalismus unterwerfen bekomme durch die Aufforderung «Seht die
Vögel!» einen Alternativdiskurs an die Seite gestellt. Eine gewisse Sorglosigkeit
sei vonnöten, um die gesellschaftliche Atmosphäre zu entspannen und den Blick über den
Tellerrand des materialistischen Utilitarismus zu lenken. Die Sorglosigkeit müsse
keinesfalls zum Nichtstun führen: es sei nicht im Wesen der Vögel zu säen und zu
ernten, wohl aber sei dies dem Menschen immanent. «Seht die Vögel» bedeute einfach nur:
Nehmt die Vögel wahr und lernt daraus! Es heiße nicht: Macht es ihnen einfach nach!
Kritiker wie Niklas Hardenberg haben Uri Bülbül aufgrund solcher Äußerungen eine
«gewisse protestantische Interpretationswut hervorgebracht aus eigenem Rationalismus»
vorgeworfen. Er reflektiere nicht genügend den Diskurs, der ihm durch manche
Fragestellungen aufoktroyiert werde, sondern gehe ihm naiv auf den Leim. Außerdem
sei er in seiner obigen Argumentation implizit essentialistisch, was sich mit seiner
sonst vor sich hergetragenen Postmoderne gar nicht vereinbaren lasse.
Vehement distanziert sich Uri Bülbül von linkem Rationalismus und
linker Aufklärungsnaivität. Auch sieht er die Entwicklung der Schriftkultur
nicht als ein rein positives Ereignis an, sondern bezieht kulturkritische bis
kulturskeptische Positionen gegenüber der Buchkultur und verhehlt keineswegs
seine Sympathien mit Antonin Artaud und Friedrich Nietzsche. Nicht minder
skeptisch aber
steht er anderen Medien gegenüber und versucht seine Kulturtheorie in der ganzen
Dialektik der Kultur zu entwickeln, die nun einmal den Dingen immanent sei. Trotz
seines Abschieds vom Marxismus, dessen Kritik er bisher nicht explizit formuliert hat,
weil dies seine Kräfte und sein Vermögen übersteige und außerdem lediglich
dem «rationalistischen Diskurs zugute» käme, hält er an einigen klassenkämpferischen
Positionen fest. Ob mit Lenin, Marx oder Machiavelli zu beachten sei auf jeden Fall
der Machtwille in der Politik, der einem eigenen System des Pragmatismus folge,
darin aber systemimmanent deliriere. Zudem versucht er ein positives
Menschenbild in einer positiven
Anthropologie zu etablieren: der Mensch sei, von Grund auf gut und werde nur durch
den Lauf der Welt und der Ereignisse darin deformiert. Daher bedürfe der Kommunismus
nicht eines neuen Menschengeschlechtes, sondern lediglich der Beseitigung jener
Faktoren, die den Menschen deformierten. Das aber bedeute letztendlich die
radikalste Systemveränderung, zu der der Mensch nach Marx fähig sei. Er selber
aber könne diesen historischen Optimismus nicht unbedingt teilen, sondern
neige in «so manch einer stillen Stunde» zum Kulturpessimismus.
Zum Verhältnis zwischen Rhizomatik und Dialektik sagt Uri Bülbül, dialektisch
seien die einzelnen Linien des Rhizoms zwischen zwei Knoten. Rhizomatik und
Dialektik schlössen sich keinesfalls aus. Allerdings schränkt er diese
These an dem Punkt der Höherentwicklung ein. Die Dialektik enthalte in sich
dialektisch die Gefahr des Rückfalls in ein hierarchisches Denken.
Eine Hauptthese der Dialektik sei, daß alles im Fluß sei. Doch handle es sich,
so Uri Bülbül, um einen Fluß, der bergauf fließe. So sei der Gedankengang immer
ein realistisches Trugbild wie die Bilder Eschers. Nichtsdestotrotz lehnt sich
Uri Bülbül an die Phänomenologie, Diskurstheorie, sprachanalytische Philosophie
und marxistische Dialektik an. Kein Wunder also, daß ein solcher Eklektizismus
letztendlich zur ZERFAHRENHEIT führt.
Uri Bülbüls ZERFAHRENHEIT ist ein Hypertext-Projekt, das aus mehreren
Romanzyklen besteht:
- Der Romanzyklus der die Rahmengeschichte enthält trägt den Titel
«Familienbande -
Alte Geschichten». Es handelt sich
um den Prometheus-Zyklus, in dem
zunächst Herakles, dann Hermes die Hauptrolle spielt.
Herakles ist längst in den Olymp aufgenommen und ist unsterblich geworden. Der alte Hass,
mit dem Hera ihn aus Eifersucht verfolgte, existiert nicht mehr. Herakles hat Hebe zur
Ehefrau bekommen und könnte eigentlich ein glückliches Götterdasein führen. Aber die
Friede-, Freude-, Eierkuchenatmosphäre des Olymps geht ihm gehörig auf die Nerven.
Verstärkt wird seine Haltung durch Hebes nahezu fanatische Ordnungsliebe. Sie organisiert
ein Götterfest nach dem andern zu Ehren des Zeus und zur Feier der Seligkeit im
Olymp. Sie kann und will die zusehends wachsende Unzufriedenheit ihres Mannes nicht
verstehen, geschweige denn teilen. Eifersüchtig auf Herakles' vergangene Liebe zu einer
Sterblichen, mit der er zuvor verheiratet war, giftet Hebe gegen die Menschheit und
favorisiert immer mehr ihre affirmative Haltung zum Olymp, was Herakles wiederum
verstärkt in die Opposition treibt.
Immer mehr kramt er in der Vergangenheit des Olymps und stößt auf den alten Streit
zwischen Zeus und Prometheus um die Existenz des Menschengeschlechts und um Prometheus'
Feuerdiebstahl. Er erfährt, daß Prometheus von Zeus dafür hart bestraft wurde und
macht sich auf den Weg, Prometheus zu suchen.
Als er ihn an einem Felsen im Kaukasus in Ketten gelegt findet, tötet er spontan den
Geier, der ihm die Leber zerhackt und sprengt die Ketten, die Hephaistos für
Prometheus geschmiedet hatte. Aber im Grunde gelingt die Befreiung nicht, da
Prometheus ein psychisches Wrack ist und vollkommen den Verstand verloren zu haben
scheint. Er debilisiert sinnlos vor sich hin.
Herakles wendet sich in seiner Ratlosigkeit an Hephaistos' Ehefrau Aphrodite, die
deutliche Sympathien für ihn hegt. Sie rät ihm, Hermes einzuschalten. Hermes ist
der Götterbote, Gott der Räuber und Diebe, ein Schalk und derjenige, der die Toten
über den schwarzen Fluss in den Hades bringt. Er ist auch der Gott des Schlafes und
der Träume und insofern ein intimer Kenner der Menschen. Aphrodite vermutet, daß
Hermes derjenige sein könnte, der in der alten Streitfrage zwischen
Zeus und Prometheus, ob die Menschen es
wert seien, auf der Welt zu überleben oder nicht, am besten vermitteln und vielleicht
eine Begnadigung des Prometheus erwirken könnte. Das wäre für Herakles eine Chance,
Prometheus im Olymp zur Rehabilitierung abzuliefern und straffrei zu bleiben.
Während damit Hermes auf den Plan tritt, beginnt für Herakles das Nachdenken
über die Unsterblichkeit und sein Wunsch danach, dem Dasein im Olymp für sich ein
Ende zu setzen. Siehe
Das Ende
der Unsterblichkeit.
Hermes' Wirken ist ausschlaggebend für den Lemming-Zyklus, für Teile des
Hardenberg-Zyklus und für die Reportagen aus dem Musentempel. Um die
an ihn herangetragene Aufgabe bewältigen zu können, beginnt Hermes mit Menschen
zu experimentieren.
- Der Lemming-Zyklus
- Die Lemminge des Prometheus oder Das verrückte
Labyrinth im Turm zu Babel
- Brachland
- Die Geständige
- Phrasenjahre
-
Reportagen aus dem Musentempel
- Die Nächte von Gethsemane
- Aus dem Bauch der Sphinx
- Hämoglobin
- Hardenberg-Zyklus
- Der Auftrag
- Hardenbergs Harem
- Das Ende meines Romans
- Platon in Oidipus' Augenhöhlen
- Poetik-Zyklus
- Alfons Albermann
- In Memoriam Alfons Albermann
- Hardenberg Vorlesungen
- Rogers Archiv für ungeschriebene Texte Der Schreibhaus-Keller
- Verwaiste Fragmente Gespenster am toten Hirn
(Fragmente der Zerfahrenheit)
- Beschiss
- Spinner
- Spiele
- Tragödie ohne Worte
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Geschrieben zwischen Eifel und Zweifel anno domini 2010
vom Autor selbst. Stand: 18. Juni 2012
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