Wie Schmetterlinge flatterten wir aufgeregt durch den August, alles war schön, sonnig,
bunt, voller Versprechungen, Ideen, Elan, und alles schien so leicht. Wir konnten uns
über den verschollenen Pass unseres Kollegen wundern; wir konnten die unmöglichsten
Stellen danach absuchen, die unwahrscheinlichsten Schubladen durchwühlen und uns
konnte bestimmt nicht irritieren, dass der Pass nicht auftauchte, eine Dame im
Beamtenentzücken in Macht- und sonstiger Geilheit im Konsulat die Ausstellung eines
Ersatzreisedokumentes verweigerte und daher der Flug vorerst platzte. Wir ertrugen es
mit Leichtigkeit, mit kurzem Zorn, aber siegesgewiss. Ein ganz großes «Was solls»
lag in der Luft und auf unseren Lippen. Wir bewunderten den Wein, der in die Höhe
schoss und mit jedem neuen Centimeter uns große Freude bereitete. Es gab niemanden,
dem nicht auferlegt wurde, unseren Wein vor der Eingangstür ins Textzentrum zu bewundern.
Wir hatten auch mit den Nachbarn ein Gesprächsstoff gefunden, uns begeistert, da konnte
uns die Olympiade mal kreuzweise. Wir waren auf der Insel der Seligen. Der Geschmack
von Paradies hatte sich auf den Lippen niedergeschlagen.
Apropos: Niedergeschlagen. So konnte es doch nicht ewig weitergehen! Der erste herbstlich
wirkende Tag noch im August versetzte mich in eine Unruhe, wie es der Herbstanfang
mit mir nie gemacht hatte. Nein, dieses Jahr freue ich mich nicht auf den Herbst, auf den
Regen, auf das Grau in der Luft. Dieses Jahr, so mein Gefühl, wird mich das Wetter
wirklich berühren und vielleicht sogar in eine Depression stürzen. Nachdem wunderschönen
heißen und sonnigen Wochenende ist heute ein regnerischer grauer Tag. Der Kollege hat aus
dem Urlaub einen Bart mitgebracht, als könnte er darin die Sonne gefangen halten und
die ganzen wunderbaren Energien, die er bekommen hat. Er ist anwesend und abwesend
zugleich. Hier geht die Arbeit weiter, aber der Schmetterling in uns ist tot. Wir können
hoffen, dass er Eier gelegt hat und auf die nächste Metamorphose warten. Warten aber
bedeutet, dass wir uns leisten könnten untätig zu sein. Diesen Wohlstand sehe ich nicht.
Meine Frau hat die Angewohnheit bei laufendem Fernseher im Schlafzimmer einzuschlafen.
Die privaten Sender können Werbekrach oder Actionfilmkrach machen, so viel sie wollen.
Sevim ist dadurch nicht aus dem Schlaf geschweige denn aus der Ruhe zu bringen. Seit
zwei Nächten aber laufen auf ZDF Sendungen zu den Anschlägen in New York am 11. September
2001. Der perfide Propagandaton der Stimme aus dem Off machte in der vergangenen Nacht
erst mich wach, dann einige Augenblicke später meine Frau. Sie wollte den Fernseher
erst ausschalten, sah mich aber am Bettrand sitzen und dachte, ich sähe fern, drehte
sich um und schlief weiter. Ich hatte mich nur aufgesetzt, um etwas zu trinken. Und mir
gingen die Worte meines Sohnes von damals durch den Sinn: «Papa, komm schnell!
Heute ist dein Glückstag!» Er war vor dem Fernseher und ich in einem anderen Zimmer,
während ich zu ihm ging, schossen mir Fragen durch den Kopf, warum denn heute mein
Glückstag sein könnte: hatte ich irgend etwas Lotterieähnliches gespielt? Oder
ein Manuskript an eine Redaktion geschickt? An einem Preisausschreiben teilgenommen?
Nichts dergleichen. Vor dem Fernseher war ich geschockt: Ein Passagierflugzeug war
in ein New Yorker Hochhaus geflogen, das nun in Flammen stand. Während ich noch
sprachlos in den Fernseher sah, flog ein zweites Flugzeug in ein Hochhaus. Erst
dachte ich für den Bruchteil einer Sekunde an eine filmische Wiederholung. Was ich
sah, sprach aber gegen diese Annahme; es musste ein zweites Flugzeug sein. Ein Unfall
gleich zweimal? Langsam erst wurde mir bewusst, dass es sich um einen Anschlag handelte.
Dann erst nach einigen Minuten konnte ich an das anknüpfen, womit mich mein
Sohn vor den Fernseher gerufen hatte: «Glückstag?! Sag mal: Bist du bescheuert?!
Da sterben Menschen, und das soll mir Glück bringen? Bin ich ein Bestattungsunternehmer
oder was?» Was für einen Eindruck musste ich bei meinem Sohn hinterlassen haben mit
meinen politischen Bemerkungen, Lästereien und Wutausbrüchen? Diesen galt es schnellstens
zu korrigieren.
«Ich dachte, du bist gegen Amerika!» rechtfertigte sich der 16-Jährige. «Wie kommst du
darauf? Ich bin gegen den US-Imperialismus, die Ausbeutung der ganzen Welt durch
die Industriestaaten, allen voran die USA, ich bin gegen Bananenrepubliken und
US-Militär- oder diplomatische Interventionen!»
«Ja, und? Es erwischt das World
Trade Center! Passt das nicht?» fragte er.
«Nein, es passt nicht! Da sterben
Menschen. Das Ding wird nicht abgerissen, weil es ausgedient hat und niemand mehr
dieses Geschäftshaus haben will. Es kann nichts Gutes und Schönes auf dem Tod von
Menschen gedeihen!» Über Gewalt, Revolutionen, politische Gewaltausübung brauchte ich
schon gar nicht sprechen. Es hätte in eine Predigt ausarten können.
Das propagandistische Ausschlachten des Themas und die Folgekriege, die die
USA als «Rückschlag», «Vergeltung", «Strafmaßnahme» oder was auch immer geführt
haben, haben in mir jedes Verständnis für die mediale Inszenierung des Mitleids
im Fernsehen ersterben lassen. Wenn wir der Toten gedenken, dann aller Toten,
aller Opfer von Gewalt. Was der Westen Demokratie nennt, ist eine Realität ohne
jegliche moralische Legitimation. Ich schaltete den Fernseher aus.
Der Herbst ist da. Er war noch nie weg!