11. September 2012

Wie Schmetterlinge flatterten wir aufgeregt durch den August, alles war schön, sonnig, bunt, voller Versprechungen, Ideen, Elan, und alles schien so leicht. Wir konnten uns über den verschollenen Pass unseres Kollegen wundern; wir konnten die unmöglichsten Stellen danach absuchen, die unwahrscheinlichsten Schubladen durchwühlen und uns konnte bestimmt nicht irritieren, dass der Pass nicht auftauchte, eine Dame im Beamtenentzücken in Macht- und sonstiger Geilheit im Konsulat die Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes verweigerte und daher der Flug vorerst platzte. Wir ertrugen es mit Leichtigkeit, mit kurzem Zorn, aber siegesgewiss. Ein ganz großes «Was soll’s» lag in der Luft und auf unseren Lippen. Wir bewunderten den Wein, der in die Höhe schoss und mit jedem neuen Centimeter uns große Freude bereitete. Es gab niemanden, dem nicht auferlegt wurde, unseren Wein vor der Eingangstür ins Textzentrum zu bewundern. Wir hatten auch mit den Nachbarn ein Gesprächsstoff gefunden, uns begeistert, da konnte uns die Olympiade mal kreuzweise. Wir waren auf der Insel der Seligen. Der Geschmack von Paradies hatte sich auf den Lippen niedergeschlagen.

Apropos: Niedergeschlagen. So konnte es doch nicht ewig weitergehen! Der erste herbstlich wirkende Tag noch im August versetzte mich in eine Unruhe, wie es der Herbstanfang mit mir nie gemacht hatte. Nein, dieses Jahr freue ich mich nicht auf den Herbst, auf den Regen, auf das Grau in der Luft. Dieses Jahr, so mein Gefühl, wird mich das Wetter wirklich berühren und vielleicht sogar in eine Depression stürzen. Nachdem wunderschönen heißen und sonnigen Wochenende ist heute ein regnerischer grauer Tag. Der Kollege hat aus dem Urlaub einen Bart mitgebracht, als könnte er darin die Sonne gefangen halten und die ganzen wunderbaren Energien, die er bekommen hat. Er ist anwesend und abwesend zugleich. Hier geht die Arbeit weiter, aber der Schmetterling in uns ist tot. Wir können hoffen, dass er Eier gelegt hat und auf die nächste Metamorphose warten. Warten aber bedeutet, dass wir uns leisten könnten untätig zu sein. Diesen Wohlstand sehe ich nicht.

Meine Frau hat die Angewohnheit bei laufendem Fernseher im Schlafzimmer einzuschlafen. Die privaten Sender können Werbekrach oder Actionfilmkrach machen, so viel sie wollen. Sevim ist dadurch nicht aus dem Schlaf geschweige denn aus der Ruhe zu bringen. Seit zwei Nächten aber laufen auf ZDF Sendungen zu den Anschlägen in New York am 11. September 2001. Der perfide Propagandaton der Stimme aus dem Off machte in der vergangenen Nacht erst mich wach, dann einige Augenblicke später meine Frau. Sie wollte den Fernseher erst ausschalten, sah mich aber am Bettrand sitzen und dachte, ich sähe fern, drehte sich um und schlief weiter. Ich hatte mich nur aufgesetzt, um etwas zu trinken. Und mir gingen die Worte meines Sohnes von damals durch den Sinn: «Papa, komm schnell! Heute ist dein Glückstag!» Er war vor dem Fernseher und ich in einem anderen Zimmer, während ich zu ihm ging, schossen mir Fragen durch den Kopf, warum denn heute mein Glückstag sein könnte: hatte ich irgend etwas Lotterieähnliches gespielt? Oder ein Manuskript an eine Redaktion geschickt? An einem Preisausschreiben teilgenommen? Nichts dergleichen. Vor dem Fernseher war ich geschockt: Ein Passagierflugzeug war in ein New Yorker Hochhaus geflogen, das nun in Flammen stand. Während ich noch sprachlos in den Fernseher sah, flog ein zweites Flugzeug in ein Hochhaus. Erst dachte ich für den Bruchteil einer Sekunde an eine filmische Wiederholung. Was ich sah, sprach aber gegen diese Annahme; es musste ein zweites Flugzeug sein. Ein Unfall gleich zweimal? Langsam erst wurde mir bewusst, dass es sich um einen Anschlag handelte. Dann erst nach einigen Minuten konnte ich an das anknüpfen, womit mich mein Sohn vor den Fernseher gerufen hatte: «Glückstag?! Sag mal: Bist du bescheuert?! Da sterben Menschen, und das soll mir Glück bringen? Bin ich ein Bestattungsunternehmer oder was?» Was für einen Eindruck musste ich bei meinem Sohn hinterlassen haben mit meinen politischen Bemerkungen, Lästereien und Wutausbrüchen? Diesen galt es schnellstens zu korrigieren.

«Ich dachte, du bist gegen Amerika!» rechtfertigte sich der 16-Jährige. «Wie kommst du darauf? Ich bin gegen den US-Imperialismus, die Ausbeutung der ganzen Welt durch die Industriestaaten, allen voran die USA, ich bin gegen Bananenrepubliken und US-Militär- oder diplomatische Interventionen!»
«Ja, und? Es erwischt das World Trade Center! Passt das nicht?» fragte er.
«Nein, es passt nicht! Da sterben Menschen. Das Ding wird nicht abgerissen, weil es ausgedient hat und niemand mehr dieses Geschäftshaus haben will. Es kann nichts Gutes und Schönes auf dem Tod von Menschen gedeihen!» Über Gewalt, Revolutionen, politische Gewaltausübung brauchte ich schon gar nicht sprechen. Es hätte in eine Predigt ausarten können.

Das propagandistische Ausschlachten des Themas und die Folgekriege, die die USA als «Rückschlag», «Vergeltung", «Strafmaßnahme» oder was auch immer geführt haben, haben in mir jedes Verständnis für die mediale Inszenierung des Mitleids im Fernsehen ersterben lassen. Wenn wir der Toten gedenken, dann aller Toten, aller Opfer von Gewalt. Was der Westen Demokratie nennt, ist eine Realität ohne jegliche moralische Legitimation. Ich schaltete den Fernseher aus.

Der Herbst ist da. Er war noch nie weg!