24. August 2010

Übermorgen wird im Textzentrum-Essen eine Lesung sein, in der auch aus meinem Hypertextroman etwas vorgestellt wird. Eigentlich bin ich noch auf der Suche nach einem komplexen Exposé für das ganze Projekt, das ja nun in der Tat, ganz gleich, wie weit die Textfragmente gediehen sind, einen gewissen Reifegrad erreicht hat und nach Darstellung und Realisierung verlangt. Kreuzweise könnte nach drei Sphinx-Lesungen in vier Jahren ein weiterer Meilenstein für die ZERFAHRENHEIT sein.
Zwei Kollegen, Autoren, Freunde, der eine auch noch der Verleger des anderen Ein Geflecht der Verhältnisse. Im klassischen Literaturbetrieb schier undenkbar. Im Schreibhaus werden andere Wege beschritten: da gibt es Pfade jenseits des Geniekults, Berufs- und Erfolgneids, jenseits der Ellenbogen. Auch Literaten können sich gegenseitig unterstützen, aufbauen, solidarisch miteinander arbeiten. Literatur ist nicht Kommunikation der Einsamen als Kakophonie der ewig gehaltenen und sich wiederholenden Monologe der Autoren, Verleger, Rezensenten, Kritiker, Feuilletonisten und des Publikums, das schweigen und bewundern soll. Im Schreibhaus wird Literatur zur Kommunikation der vernetzten und verbündeten Subjekte. Es werden unsichtbare Fäden gesponnen, die spürbar die Atmosphäre prägen.
Seit Mai hat sich in meiner Arbeitswelt einiges verändert. Leider war sie streckenweise in den vergangenen vier Jahren aus meinem Lebensmittelpunkt gerückt, ohne natürlich je ganz verschwunden zu sein. Nun aber seit fast vier Monaten bin ich wieder zurück, lebe ich wieder, das heißt: ich schreibe wieder! Nicht nur Fiktionales, nicht nur die ZERFAHRENHEIT. Kulturpolitische und kulturpraktische Gebrauchstexte sind auch wieder entstanden und entstehen immer wieder. Eine Literaturarbeit, die sich nur um Fiktion dreht, ist meiner Meinung nach pathogen rationalistisch und macht Verschroben. Die gut gemeinten Ratschläge an mich, ich solle mich doch einfach nur auf meine Literatur konzentrieren und "endlich meinen Roman" schreiben, konnte ich immer gut in den Wind schreiben. Sie kamen immer von Leuten, die nicht begriffen haben, was ich will und suche. Vielleicht ist es auch paradox, vielleicht vollkommen unsinnig. Vielleicht ist es die Quadratur des Kreises mit beschränkten Mitteln. Vielleicht kann man mittels einer rationalistischen Kulturtechnik den Rationalismus nicht durchbrechen. Aber seit Nietzsche sollte man doch begriffen haben, daß man Widersprüche des Lebens nicht einfach wegdenken, sondern besser aushalten lernen sollte.

Ich habe leider nicht immer die Kraft in mir gefunden, diese Widersprüche auszuhalten und auszuleben. Es gab auch Ausweichmanöver, Fluchtversuche, Verdrängungen. Und allesamt waren sie lehrreich. Und nun soll alles in die Schrift fließen, in Sprache, in Worte gefasst werden, in Geschichten. Und nichtsdestotrotz werde ich analog zu dem Künstler ohne Werk ein Schriftsteller ohne Buch bleiben, ganz gleich, ob noch Bücher von mir gedruckt werden oder nicht. Denn meine Idee vom Schreiben ist längst nicht mehr die Idee eines Schreibens von Büchern. In meinen Augen ist das Buch vollkommen entmystifiziert und deklassiert. Die wahre Kraft, die Gewalt des Lebens, liegt in einer Sphäre hinter den Büchern, Bibliotheken und Sprache, obwohl diese Medien diese Gewalt durchaus auch spüren lassen, weil sie zeigen, daß sie mitschwingt: Plötzlich ahnt man etwas zwischen den Zeilen oder im Tonfall, in dem, was nicht grammatisch erfasst und geregelt ist. Was sich einer Deskription entzieht und dennoch da ist. Es ist ein vollkommener Unsinn, sich gegen Sprache oder Bücher zu wenden. Man muß sich nicht bewußt radikal positionieren. Das wird immer etwas Affektiertes und Gewolltes haben. Die Radikalität ergibt sich von allein oder auch nicht.

Wie ein Loch durch das konstituiert wird, wovon es umgeben ist, so wird womöglich die Gewalt des Lebens durch das konstituiert, was sich sprachlich und gedanklich um sie herum gruppiert. Wo die Sprache ist, ist keine Gewalt des Lebens, aber ohne die Sprache könnte man sie nicht wahrnehmen. Also bleibe ich in der Sprache - vielleicht will ich auch einfach nicht in das Loch fallen. Ich schreibe und schreibe, schreibe Tagebücher, Logbücher, Arbeits- und Projektpapiere, Artikel, Rezensionen, Kritiken, führe Interviews, besuche Pressekonferenzen, organisiere Lesungen, gebe und beteilige mich an Workshops und wieder schreibe ich und schreibe. Das Ganze ist eine textbasierte Kulturarbeit - vielleicht auch ein Leben in Schrift und Sprache, weswegen man mich Literat nennen kann, weil ich Liebhaber, Rezensent, Verfechter und Produzent bin, ohne einen einzigen fertigen Roman. Kein Buch existiert von mir, keine abgeschlossene Einheit, kein beendetes Werk - weil ich auch Angst habe, daß die Beendigung des Werkes mit dem Ende des Lebens zusammenfallen könnte. Wie Sheherezade schreibe und schreibe ich vielleicht um mein Leben. Aber irgendwie kann ich damit auch nicht ganz glücklich sein, obwohl ich mehrmals am Tag spontan durchatme und mich meines Lebens und seiner Schönheit dankbar erfreue. Es bleibt auch das Gefühl, daß eine Gefahr über mir schwebt, ein Damoklesschwert, das ich nicht verorten kann, aber auch nicht verleugnen.
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