31. Juli 2011

Was kann, was muss ein Lebenswerk sein? Was muss es enthalten? Was muss es bieten? Ich habe mich der Flüchtigkeit verschrieben, dem Theater, dem Spiel mit Worten auf der Rampe. Kurzum: der Bedeutungslosigkeit. «Seht her! Hier stellt sich jemand zur Schau! Einer zieht eine Show ab.» Das gehörte wohl auch immer zu meiner Persönlichkeit und ist seit September vergangenen Jahres deutlicher hervorgetreten, hat mich ein wenig verändert, aber nicht geändert, hat mich ein wenig verwandelt, aber nicht gewandelt. Ich bin derselbe im selben Fluss und bin es nicht. Ein Dialektiker von alters her. Ach was! Ich ist ein anderer.

Die vergangenen Monate -es sind fast zwölf seit dem letzten Nachrichten-Eintrag- waren sehr kämpferisch und haben mir sehr viel abverlangt. Auftritte, Empfänge, Diskussionen, Polemiken, Briefe, Sitzungen, Vorträge - von allem war etwas dabei, und ich habe es genossen. Manchmal verunsichert, immer unroutiniert im besten Sinne des Wortes. Die Dinge waren authentisch - so authentisch, dass zwei Menschen aus meinem mehr oder weniger entfernten Bekanntenkreis sich völlig demaskiert haben. Ich glaube, das Schlimme für sie war nicht, daß sie sich vor mir entblößten. Das Schlimme für sie ist nun mehr der Blick in den Spiegel, den ich ihnen, ohne es zu wollen, vorgehalten habe.
Einer dieser Menschen schon kurz vor seinem Lebensabend, gerade mit dem Schritt in den Ruhestand; der andere noch in der vollen Blüte des Lebens mit einem Kleinkind und Familie und Karriere - beide dem Ordnungsdenken so verhaftet, daß es sie erwürgt. Beide im festen Glauben an die institutionelle Ordnung der Gesellschaft und ihrer Hierarchien, beide in diesem Gefüge sich abstrampelnd wie im Hamsterrad. Beide kamen völlig unbeabsichtigt in eine Situation, die ihnen eine Wahl ließ, die sie wahrscheinlich in ihrem Leben nie gesehen hatten; und beide verrieten ganz ohne Not den freien Geist zugunsten der Affirmation des Bestehenden. Beide ihren Verrat spürend plötzlich voll Gift und Galle. In einem bürgerlichen Reihenhaus zu sitzen und auf einen wohlgepflegten Garten zu schauen macht ein verlebtes Leben posthum nicht lebenswert. Und plötzlich gesagt zu bekommen, daß der Ort der Freiheit keine Zwangsanstalt ist, sondern der Genuss der Freiheit hier und jetzt anfängt, wirft ein seltsames Licht auf das Leben, das man im Begriff ist zu verleben.

Ich habe Haushaltsauflösungen nach dem Tod erlebt; wie schnell die Dinge verfliegen, für die man ein ganzes Leben lang geschuftet hat?! Ich habe Erbschaften zerrinnen sehen. Nichts hat im Leben so sehr Bestand wie der Radioaktive Müll, den wir gedankenlos produzieren auf dem Kulminationspunkt der Hochtechnologie. Natürlich schreibe ich dagegen an und kann es nicht lassen. Doch wird meine Literatur meine Halbwertszeit nicht erhöhen. So wird meine Freiheit zum schönen Zeitvertreib. Und ein Polizist, der es zum Landtagsabgeordneten gebracht hat und sich als der kulturpolitische Sprecher der Sozialdemokratie wähnt -hat die Sozialdemokratie wirklich so wenig zu Kulturpolitik zu sagen?- betet eine Phrase daher, die er für ein schönes Gleichnis hält: den Kopf in den Himmel gestreckt mit beiden Füßen auf dem Boden. Ja, mein Lieber, nun kommt es leider auf den Boden an. Haben wir es mit Glatteis zu tun, auf das du uns zu führen versuchst, um Pfründe zu retten? Oder stehen wir barfuß auf heißem Wüstensand und verbrennen uns die Fußsohlen? Reckt sich der Kopf in den Himmel, um von einem Blitz getroffen zu werden, oder bringt die gute Höhenluft Geistesblitze in ihm hervor?

Es ist gewiss immer wieder wichtig, nach dem Wesen des Staates zu fragen sprich nach dem Staatswesen; und es ist nicht minder wichtig, nach der Gesellschaft und der Gemeinschaft zu fragen, nach der Polis, nach dem Gemeinwesen. Die Bürokratie verselbständigt sich immer mehr - nicht nur in der Verwaltung und in der Exekutive, sondern auch und auf eine ganz besonders dekadente Weise in der Politik, in der Legislative. Das Wesen der Polis krankt: es ist etwas faul im Staate, aber Hamlet vermag die Verhältnisse nicht zu reflektieren. Immer mehr Bedeutung und immer mehr Sinn gehen verloren. Das Handwerk der Staatsführung wird zu einem Pfuschkonglomerat. Die Ministerien laufen aus dem Ruder, die Ministerialbeamte funktionieren nicht mehr; die Regierungen verstehen nichts mehr von ihrem Handwerk und agieren philosophisch auf dünnem Eis. Das aber scheint nicht nur ein Phänomen der deutschen Gesellschaft zu sein. Wendehalsigkeit und Windbeutelei greifen um sich.

Wie ekel, schal und flach wird da die Welt?! Wie wird alles vom Schein beherrscht?! Aber weit davon entfernt depressiv zu werden wie Hamlet, spüre ich große Lebenslust kombiniert mit Tatendrang, wissend, dass Erfolge Wunden heilen können und die übermächtig erscheinenden Gespenster in die Flucht schlagen. Vielleicht geht demnächst ein Traum in Erfüllung, etwas, das Freunde und ich vor Jahrzehnten zu planen und herbeizuträumen anfingen, bis fast alle abfielen. Eine ehemalige Freundin, die eine Lebensgefährtin sein wollte, aber es mit mir nicht über einen kleinen und mittlerweile bedeutungslos gewordenen Abschnitt brachte, die mit plante, diskutierte und wie eine treibende Kraft wirkte, steht nun sogar gegen dieses Projekt im Lager des Establishments, wohin sie sich feige verzog, um ihre Arroganz zu krönen. Die Jugend ist hin und verblasst ihre Träume und verkauft ihre Ideale. So verdümpelt sie in den Büros eines verknöcherten Stadttheaterapparates den letzten Rest eines unverstandenen Lebens, das sie mit Lebenslügen zu ästhetisieren sucht ohne jeden Kunstverstand.

Da ich mir derlei Leben nicht mit ansehen kann, halte ich mir ein Schnupftuch vor die Augen. Sollen sich doch die Henker des Geistes, die das Leben nicht zu verschönern vermögen, geschweigedenn zu revolutionieren in ihrer Façon beglücken.
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