19. April 2012

Nun wird alles umgemodelt. Kein Stein in meinem verbleibenden Leben soll auf dem anderen bleiben, wie es bisher war und aussah, als könne man nichts bewegen, ohne dass alles zusammenbricht. Das Geheimnis ist, und es ist ein Geheimnis in der Kategorie «Ei des Columbus» ;-) -das Geheimnis ist, dass es völlig egal ist, ob alles zerbricht oder nicht. Alles - das bin nicht ich! So viel Spaß am Leben, so viel Bewegungsfreiheit, dass ich jeden Tag vor Glück wie wahnsinnig aufschreien könnte - und zwar, ohne dass ich mit Konsumgütern beglückt werde, wie in der Fernsehwerbung.

Zur Zeit herrscht Umzugschaos. Die Wohnung, die ich seit 26 Jahren bewohnt habe, wird aufgegeben. Mein Arbeitsmittelpunkt ist nicht mehr das Chaos in meinen verstaubten Zimmern. Nun wird das sechs Jahre alte Textzentrum neu gestaltet und zu dem gemacht, was dem Namen alle Ehre machen könnte. Und ich habe das unbeschreibliche Glück, auf 35 Jahre Schreiben zurückschauen zu dürfen! Wenn Altwerden mit Glück verbunden werden kann, dann an der Stelle, wo sich Gesundheit mit Erfahrung paart. Und über Eines muss man sich ja keine Illusionen machen: die Gesundheit wird zerbröckeln. Die Erfahrung zerbröckelt erst mit Alzheimer oder Demenz. Letztendlich aber zerbröckelt das Leben. Und ich weiß nicht, ob es von mir eine Hinterlassenschaft geben wird, die den Namen «Nachlass» verdiente.

Die Internetseiten des Textzentrums sind down :-( Der langjährige Freund, der bisher in Treue und Verbundenheit den Server unterhielt, hat die Kosten nicht mehr tragen können - so schlecht kann es Künstlern gehen, aber wenn das schon zur Entmutigung führte, hätte man gar nicht den Weg der Brotlosigkeit einschlagen dürfen. Es stand schon mit meinem 15. Lebensjahr fest, dass ich mich der Schreiberei widmen würde, und es gab niemanden, der mich nicht davor gewarnt hätte. Es gab dunkle Jahre und schwere Phasen in meinem Schreiberleben - und zwar tatsächlich als Schreiber. Ein mangelndes Talent irgendwann zu spüren und dennoch nicht aufzugeben, ist keine leichte Sache. Und in der Tat ist es äußerst wichtig, sich selbst und anderen - aber eigentlich sich selbst vor anderen Rechenschaft zu geben. Deshalb ist die Erfindung des Bloggens eine bedeutende. Der Mensch ist ein soziales Wesen und bedarf als solcher der Vorstellung von einer Öffentlichkeit, die sich für ihn interessiert. Aber am liebsten eine Öffentlichkeit, die sich für ihn interessiert und ihn nicht dressiert. Auch ein soziales Wesen braucht einen Freiraum jenseits von Konventionen, Erziehungsmaßregeln, Verschulung, Ausbildung, Drill, Regeln und Gesetzen.

Ich kann es auch mit einer Hegelschen Formel sagen, die fast immer nur Widerspruch provoziert: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Aber bitte: von Einsicht ist die Rede. Und das ist nicht dasselbe wie Sichfügen, wo andere von einem Einsicht fordern und zu erzwingen trachten, weil sie diesen Zwang für Notwendigkeit halten oder (bei bösem Willen) nur deklarieren. Das festigt nur Technokratie und Bürokratie und hat herzlich wenig mit Freiheit zu tun.

Einsicht in die Notwendigkeit ist die Erkenntnis innerer Kausalzusammenhänge bei Sachverhalten und Phänomenen, ist die Erkenntnis davon, wie die Dinge miteinander verwoben und zu verändern und beeinflussen sind. Einsicht in die Notwendigkeit ist zu wissen, wie etwas funktioniert. Jede idealistisch-autoritäre Deutung davon, in dem Sinne wie etwa: "Du musst dich den Gegebenheiten fügen! Sieh das doch endlich ein!" ist das Gegenteil von Einsicht im Sinne von Einblick und Erkenntnis, was Handeln nicht lähmt, sondern erst erfolgreich macht. Denn wer die Natur beherrschen will, muss ihre Gesetze kennen; wer technische Apparate bedienen und sich zunutze machen will, muss wissen, wie man sie bedient. Wer nicht Motorrad fahren kann, wird nie die Freiheit der Landstraße spüren können. Wer nicht weiß, wie man ein Flugzeug fliegt, wird nie alleine in die Lüfte steigen. Da fehlt eben die Einsicht in die Notwendigkeit.

Den Begriff der Freiheit zu irrationalisieren und vom Begriff der Notwendigkeit zu lösen, schafft keine Handlungsräume, sondern beraubt den Menschen dieser. Manchmal muss ein Mensch vor einem Phänomen staunend und interessiert stehen bleiben wie vor einem magischen Würfel mit den farbigen Seiten, die man durch geschicktes Drehen passend zueinander bringen muss. Und man muss Wege ausprobieren, auch wenn sie nicht sofort zum gewünschten Ziel führen. Das Einzige, was wirklich falsch ist, ist die Lähmung!

Für mich ist das Schreiben ein solcher Zauberwürfel. Und zur Sortierung der Farben auf der jeweiligen Würfelseite gehört auch, das Schreiben so einzusetzen, dass ich davon leben kann. Das ist mir bisher nur mäßig gelungen, da aus verschiedenen Gründen der romantische Weg zu einem Bestseller-Roman mir verschlossen blieb. Das Experiment, die vielen Fragmente, die Unfähigkeit an einem einfachen Ganzen sich zu orientieren, die Umwelt, die einem immer wieder Klischees aufzwingt und Wege versperrt - es sind viele Faktoren, die es da zu nennen gäbe. Und zugleich führt das Nennen der Faktoren zu einer Individual- und Kulturanalyse dieser Gesellschaft, die Kunstfeindlichkeit traditionell hegt und pflegt und ihre Produktivität aus einer gedankenlosen Ingenieurs- und Handwerkskunst schöpft. Dieses Phänomen ist ebensowenig neu wie unerkannt, aber wirkungsmächtig und schier nicht aus den Angeln zu heben.

Die Nabelschau eines schreibenden Schriftstellers muss zwangsläufig ins Zentrum der deutschen Kultur führen. Da aber haben wir es nicht mit feinen Theater- und Konzertbesuchen und gediegenen Lesungsabenden zu tun, nicht mit schönen Bibliotheken oder wild-kreativen Jugendhäusern. Wir befinden uns in stinkenden Eingeweiden eines Drachens, im Kanalisationssystem der als Kulturlandschaft deklarierten Stadt Babylon.

Diese dunklen Kanäle zu erforschen und zu beleuchten habe ich mir in meinem gerade entstehenden Buch «Bedingung & Möglichkeit» zum Ziel gesetzt. Mehr als eine spärliche Taschenlampe werde ich dabei wohl kaum haben :-(


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