Der Januar ist verflogen, noch bevor ich «Prost Neujahr!» sagen konnte :-(
Am 19. Januar 2013 feierte ich im Textzentrum-Essen mit Freunden und Familie meinen
50. Geburtstag. Ich bin froh und dankbar darüber, dass sie gekommen sind. Es war
ein sehr schöner und unterhaltsamer Abend. Selbst eine Rangelei mit meiner Frau über
scheußliche Musik blieb nicht aus. Ebensowenig wie die Gedanken zum Alt- oder
Älterwerden, zum Stand der Dinge in der literarischen und kulturellen Arbeit, der Versuch
einer Bilanz, obwohl sie eigentlich unmöglich ist. Ich suche verstärkt die Konzentration
und die dafür notwendige Ruhe, die mir Jahre, ja Jahrzehne nicht vergönnt war, obwohl
äußerlich nichts dagegen sprach. Voller Pläne und Absichten war ich und lebte im
Gefühl, ständig kämpfen zu müssen - einen Kampf um Legitimation einer Lebensführung,
die ich gerne meine genannt hätte.
Doch war ich häufig nicht nur ruhe- und rastlos, sondern auch ohne Orientierung. Mal
lockte mich das Eine, mal das Andere. Immer lebte und handelte ich auf Abruf, obwohl
niemand außer mir an einen Abruf dachte. Ich rang nach Verbindlichkeiten, nach Ordnung,
nach Erkenntnis, nach Worten, nach Gedanken und nach großen Aufgaben, ohne darauf zu
achten, wie realistisch sie waren. Und dabei wuchs stetig die Unordnung; die ungelesenen
Bücher, die unfertigen Projekte, die eigenen Fragmente unterschiedlichster Qualität,
die vernachlässigten oder verschmähten oder verletzten Freundschaften. All die
politischen Hoffnungen, Illusionen, der Wunsch zu gestalten bis ins Absurde übersteigert
- wohin trieben sie mich? Einfach nur vor sich her? Ja, war ich denn so besinnungslos?
Ich saß in der philosophischen Institutsbibliothek und exzerpierte wie ein Irrer,
trat in hermeneutische Dialoge mit dem Text in bunten Farben, führte Argumentationen
und Dispute und begriff keine Sekunde lang, dass ich meinem Treiben so keinen Sinn
verleihen konnte. Ich begriff nicht einmal, dass ich in einer fundamentalen
Legitimationskrise war, obwohl ich gerade Mitte der 80er Jahre immer und immer wieder
von der «Legitimationskrise der Geisteswissenschaften» hörte und selbst sprach
und schrieb. Es gab Podiumsdiskussionen und Gesprächsrunden an der Universität; wir
verfassten Schriften in der Fachschaftszeitung und wollten das Unaufhaltsame aufhalten.
Und heute noch schweifen meine Gedanken dahin, und es bleibt dabei, dass ich nichts
begreife. Nichts von dieser geistig total unruhigen Phase kommt in eine vernünftige
Schublade und wird aufgeräumt. Es ist der gespenstische Blutfleck im Spukschloss, der
immer wieder kommt, ganz egal, wie oft und wie gründlich man ihn wegwischt. Ausgerechnet
die letzten Tage im Februar haben mir noch einmal eine große Spießigkeit und ein
Spießrutenlauf für mich beschert. Eine liebe Bekannte, der in ihrem Beruf gekündigt wurde,
nahm Kontakt zu mir auf. Wir hatten vor einiger Zeit schon mal darüber gesprochen,
dass sie eigentlich eine große Hilfe für mich in der Kulturarbeit sein könnte. Es
gibt so viel zu tun, dass zwei gut aufeinander eingespielte Köpfe und vier Hände
vollkommen ausgelastet wären. Sie stand aber in Lohn und Brot, hatte zwar Ärger an
ihrer Arbeitsstelle, aber sie glaubte auch an eine Lösung der vorhandenen Probleme,
so dass mir nichts anderes übrig blieb, als meinen gewohnten Alleingang weiterzugehen,
der ja eigentlich so ein Alleingang nicht ist, wenn man bedenkt, was ich am 29.
Januar 2013 in meiner Rede zum Jahresempfang
des Katakomben-Theaters gesprochen habe.
Dennoch wurde meine Hoffnung auf einen weiteren hilfreichen Menschen plötzlich wieder
geschürt, als sich die liebe Bekannte meldete und mir erzählte, sie sei mit einem
Auflösungsvertrag von ihrem Job freigestellt worden. Und so tappte ich in meine
eigene Falle der Hoffnung, die doch als Übel Pandoras Büchse entsprungen ist und
zuletzt stirbt. Wieder offerierte ich ihr eine Kooperation, eine Zusammenarbeit und
sie ließ sich darauf ein, aber mit Bedingungen, als könnte ich ihr die Sicherheit einer
Beamtenlaufbahn gewähren.
Ich selbst aufgrund meiner bedingungslosen
Leidenschaft für meine Kulturarbeit in einer ziemlich prekären Lage entwickelte
Ideen und Vorschläge für eine relativ sichere Kooperation für ein Vierteljahr, wurde
dann aber von ihr aufs Äußerste mit ihrem Sicherheitsbedürfnis und einem zirkulären
Wahn in der Argumentation strapaziert. Wahnhaft rationalistisches teleologisches
Denken, das alles vom Ausgang eines nicht durchgeführten Experimentes her sieht und
negiert und das ewige Drehen im Kreis über mehrere Stunden, kosteten viel Kraft
und Nerven. Aber einmal, einmal will ich die Käseglocke des Rationalismus beim
anderen Menschen durchbrechen, als könnte ich dadurch auch selbst in die Freiheit aus
dem Fliegenglas, in dem ich gefangen bin, gelangen.
Und schon ist der alte Blutfleck
wieder da! Das erinnert mich so sehr an Max Frischs «Stiller», der wieder aus seiner
gewonnenen amerikanischen Identität von seiner Geschichte eingeholt und wieder in
das Schweizer Dasein gepresst wird; wie der Dschin aus der Flasche, der wieder
in sein Gefängnis zurück überlistet wird. Vergangene Woche noch atmete ich glückliche
freie Luft, war meines Lebens froh und unbeschwert kreativ. Plötzlich geht es
wieder seit vier Tagen um Sicherheit, Existenz, Kunst als brotlose aber schöne
Tätigkeit; um ein "Ich würde ja gerne, ABER..." usw. usf.
Willkommen daheim im Fliegenglas! Oder als Geist in der Flasche - nun
aber mit der ernsthaften Frage: Bin ich eigentlich der Geist oder die Flasche???
Aber man kann die Dinge auch anders sehen - wen wundert's?
Wenn das dreißigtse Jahr jenes ist, in dem man die volle Reife erreicht, um einmal
den negativ spießig besetzten Begriff "erwachsen" zu vermeiden, dann ist das 50.
Jahr dasjenige, das eine knorrige Schönheit und Festigung darstellen könnte. Der
leiseste Windhauch und schon liegt man entwurzelt am Boden, das würde doch auf ein
schwindsüchtiges Selbstbewusstsein hindeuten. So ist es nun ganz und gar nicht um
mich bestellt. Vieles läuft gut; es gibt ein echtes Vorankommen; meiner Meinung
nach habe ich die Wage gefunden zwischen Aktivitäten und Denken, zwischen Theorie
und Praxis, zwischen Philosophie und Literatur, zwischen Kultur und Politik, zwischen
gutem Leben und den Opfern für die Leidenschaft. Ich habe mich noch nie so frei, so
ausgeglichen und erleichtert gefühlt wie in den vergangenen achtzehn Monaten. Und
als die Wohnung im Wallbaumweg leergeräumt und verlassen war, wurde das Aufatmen
zu einer schieren Euphorie :-) Und ein einziger Vormittag im Gartenhaus genügt,
um mir zu zeigen, dass der gespenstische Blutfleck nicht nur kommt, sondern auch
mir gar nichts anhaben kann. Ist halt ein hartnäckiger Fleck und hat herzlich wenig
mit mir zu tun. So ist der Dschin nicht in die Flasche zu bekommen. Und der Blutfleck
ist doch, mal ganz ehrlich, eine echte Attraktion und hübsche Dekoration, nicht wahr?