28. Februar 2013
Das 50. Jahr

Der Januar ist verflogen, noch bevor ich «Prost Neujahr!» sagen konnte :-(

Am 19. Januar 2013 feierte ich im Textzentrum-Essen mit Freunden und Familie meinen 50. Geburtstag. Ich bin froh und dankbar darüber, dass sie gekommen sind. Es war ein sehr schöner und unterhaltsamer Abend. Selbst eine Rangelei mit meiner Frau über scheußliche Musik blieb nicht aus. Ebensowenig wie die Gedanken zum Alt- oder Älterwerden, zum Stand der Dinge in der literarischen und kulturellen Arbeit, der Versuch einer Bilanz, obwohl sie eigentlich unmöglich ist. Ich suche verstärkt die Konzentration und die dafür notwendige Ruhe, die mir Jahre, ja Jahrzehne nicht vergönnt war, obwohl äußerlich nichts dagegen sprach. Voller Pläne und Absichten war ich und lebte im Gefühl, ständig kämpfen zu müssen - einen Kampf um Legitimation einer Lebensführung, die ich gerne meine genannt hätte.

Doch war ich häufig nicht nur ruhe- und rastlos, sondern auch ohne Orientierung. Mal lockte mich das Eine, mal das Andere. Immer lebte und handelte ich auf Abruf, obwohl niemand außer mir an einen Abruf dachte. Ich rang nach Verbindlichkeiten, nach Ordnung, nach Erkenntnis, nach Worten, nach Gedanken und nach großen Aufgaben, ohne darauf zu achten, wie realistisch sie waren. Und dabei wuchs stetig die Unordnung; die ungelesenen Bücher, die unfertigen Projekte, die eigenen Fragmente unterschiedlichster Qualität, die vernachlässigten oder verschmähten oder verletzten Freundschaften. All die politischen Hoffnungen, Illusionen, der Wunsch zu gestalten bis ins Absurde übersteigert - wohin trieben sie mich? Einfach nur vor sich her? Ja, war ich denn so besinnungslos? Ich saß in der philosophischen Institutsbibliothek und exzerpierte wie ein Irrer, trat in hermeneutische Dialoge mit dem Text in bunten Farben, führte Argumentationen und Dispute und begriff keine Sekunde lang, dass ich meinem Treiben so keinen Sinn verleihen konnte. Ich begriff nicht einmal, dass ich in einer fundamentalen Legitimationskrise war, obwohl ich gerade Mitte der 80er Jahre immer und immer wieder von der «Legitimationskrise der Geisteswissenschaften» hörte und selbst sprach und schrieb. Es gab Podiumsdiskussionen und Gesprächsrunden an der Universität; wir verfassten Schriften in der Fachschaftszeitung und wollten das Unaufhaltsame aufhalten. Und heute noch schweifen meine Gedanken dahin, und es bleibt dabei, dass ich nichts begreife. Nichts von dieser geistig total unruhigen Phase kommt in eine vernünftige Schublade und wird aufgeräumt. Es ist der gespenstische Blutfleck im Spukschloss, der immer wieder kommt, ganz egal, wie oft und wie gründlich man ihn wegwischt. Ausgerechnet die letzten Tage im Februar haben mir noch einmal eine große Spießigkeit und ein Spießrutenlauf für mich beschert. Eine liebe Bekannte, der in ihrem Beruf gekündigt wurde, nahm Kontakt zu mir auf. Wir hatten vor einiger Zeit schon mal darüber gesprochen, dass sie eigentlich eine große Hilfe für mich in der Kulturarbeit sein könnte. Es gibt so viel zu tun, dass zwei gut aufeinander eingespielte Köpfe und vier Hände vollkommen ausgelastet wären. Sie stand aber in Lohn und Brot, hatte zwar Ärger an ihrer Arbeitsstelle, aber sie glaubte auch an eine Lösung der vorhandenen Probleme, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als meinen gewohnten Alleingang weiterzugehen, der ja eigentlich so ein Alleingang nicht ist, wenn man bedenkt, was ich am 29. Januar 2013 in meiner Rede zum Jahresempfang des Katakomben-Theaters gesprochen habe. Dennoch wurde meine Hoffnung auf einen weiteren hilfreichen Menschen plötzlich wieder geschürt, als sich die liebe Bekannte meldete und mir erzählte, sie sei mit einem Auflösungsvertrag von ihrem Job freigestellt worden. Und so tappte ich in meine eigene Falle der Hoffnung, die doch als Übel Pandoras Büchse entsprungen ist und zuletzt stirbt. Wieder offerierte ich ihr eine Kooperation, eine Zusammenarbeit und sie ließ sich darauf ein, aber mit Bedingungen, als könnte ich ihr die Sicherheit einer Beamtenlaufbahn gewähren.

Ich selbst aufgrund meiner bedingungslosen Leidenschaft für meine Kulturarbeit in einer ziemlich prekären Lage entwickelte Ideen und Vorschläge für eine relativ sichere Kooperation für ein Vierteljahr, wurde dann aber von ihr aufs Äußerste mit ihrem Sicherheitsbedürfnis und einem zirkulären Wahn in der Argumentation strapaziert. Wahnhaft rationalistisches teleologisches Denken, das alles vom Ausgang eines nicht durchgeführten Experimentes her sieht und negiert und das ewige Drehen im Kreis über mehrere Stunden, kosteten viel Kraft und Nerven. Aber einmal, einmal will ich die Käseglocke des Rationalismus beim anderen Menschen durchbrechen, als könnte ich dadurch auch selbst in die Freiheit aus dem Fliegenglas, in dem ich gefangen bin, gelangen.

Und schon ist der alte Blutfleck wieder da! Das erinnert mich so sehr an Max Frischs «Stiller», der wieder aus seiner gewonnenen amerikanischen Identität von seiner Geschichte eingeholt und wieder in das Schweizer Dasein gepresst wird; wie der Dschin aus der Flasche, der wieder in sein Gefängnis zurück überlistet wird. Vergangene Woche noch atmete ich glückliche freie Luft, war meines Lebens froh und unbeschwert kreativ. Plötzlich geht es wieder seit vier Tagen um Sicherheit, Existenz, Kunst als brotlose aber schöne Tätigkeit; um ein "Ich würde ja gerne, ABER..." usw. usf. Willkommen daheim im Fliegenglas! Oder als Geist in der Flasche - nun aber mit der ernsthaften Frage: Bin ich eigentlich der Geist oder die Flasche???

Aber man kann die Dinge auch anders sehen - wen wundert's?

Wenn das dreißigtse Jahr jenes ist, in dem man die volle Reife erreicht, um einmal den negativ spießig besetzten Begriff "erwachsen" zu vermeiden, dann ist das 50. Jahr dasjenige, das eine knorrige Schönheit und Festigung darstellen könnte. Der leiseste Windhauch und schon liegt man entwurzelt am Boden, das würde doch auf ein schwindsüchtiges Selbstbewusstsein hindeuten. So ist es nun ganz und gar nicht um mich bestellt. Vieles läuft gut; es gibt ein echtes Vorankommen; meiner Meinung nach habe ich die Wage gefunden zwischen Aktivitäten und Denken, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Philosophie und Literatur, zwischen Kultur und Politik, zwischen gutem Leben und den Opfern für die Leidenschaft. Ich habe mich noch nie so frei, so ausgeglichen und erleichtert gefühlt wie in den vergangenen achtzehn Monaten. Und als die Wohnung im Wallbaumweg leergeräumt und verlassen war, wurde das Aufatmen zu einer schieren Euphorie :-) Und ein einziger Vormittag im Gartenhaus genügt, um mir zu zeigen, dass der gespenstische Blutfleck nicht nur kommt, sondern auch mir gar nichts anhaben kann. Ist halt ein hartnäckiger Fleck und hat herzlich wenig mit mir zu tun. So ist der Dschin nicht in die Flasche zu bekommen. Und der Blutfleck ist doch, mal ganz ehrlich, eine echte Attraktion und hübsche Dekoration, nicht wahr?