Uri Bülbül


 

13. Februar 2006


Nachrichten aus dem Büro
Es gibt ein Gedicht von Wolf Biermann, dessen Verse "die Tage verrasseln mich immer mehr ins immer weniger" Jahrelang mich begleitet und fasziniert, ja mir aus der Seele gesprochen haben. Und am 13. Dezember 2005, als ich meine bis jetzt letzten Nachrichten aus dem Büro ins Netz setzte, schien der Kulminationspunkt des Weniger: das Nichts erreicht. Das Leben stockte, mir raubte ein Schlag privater Natur den letzten Atem, und doch schien alles leichtsinnig weitergehen zu wollen. Und drei Tage nach Silvester blieb alles stehen, endgültig, wie es schien und ein Überleben schier unmöglich. Nun begannen die Tage der tränenüberströmten kleinen Überlebensschritte. Ich hatte eine Amputation psychischer Art überlebt und nun lächelte mir die Welt in Form von Protesen zu und sagte: das Leben geht weiter. Freunde waren da; zwei gute, sehr gute, sehr liebe Freunde - still, präsent, aufmerksam, unaufdringlich. So schlimm also konnte eine Amputation nicht sein. Ich lebte und hatte das Glück, diese Freunde nun zu sehen - mit wachen Augen zu sehen, aus der Narkose erwacht, ihre Nähe zu spüren und zu wissen: ohne diese Operation hätte ich dieses Glück nie erfahren. Nach etwa einer Woche wurde mir der Kloß aus dem Hals und der Fels von der Brust entfernt: Die Amputation war keine Amputation, die Operation galt bestenfalls einem gutartigen Tumor - die ganze Hysterie und Todesangst schienen überflüssig. Und dennoch hatten sie ihren Dienst an mir getan; die Protesen verwandelten sich in Krücken und konnten abgelegt werden. Die ersten Schritte ohne sie glichen zwar nicht gerade einem eleganten Tanz. Man konnte aber nun ahnen, daß dieser nicht ausbleiben würde. Die Freunde waren noch immer da und entließen mich freudestrahlend in die Freiheit, während mir neue Kräfte wuchsen.

Das Büro nahm ein weitaus freundlicheres Gesicht an als früher. Das miese Februarwetter konnte ignoriert werden. Es gab allzu viele sonnendurchströmte Perspektiven, als daß ich meine Aufmerksamkeit einem trostlosen Zwergenmonat widmen könnte. Es war Zeit, über sich hinauszuwachsen und Liebe neu zu definieren. Ich grüßte Goethe, plauderte mit Erich Fromm und fand, daß er mir zu sehr frömmelte und entwickelte meine Idee von einem Derwischkloster. Wer sich darunter ein Kloster vorstellt, vernachlässigt, daß wir im 21. Jahrhundert angekommen sind und uns sogar mit einem leichtfüßigen Dreh der Postmoderne entwinden können, ohne metaphysische Rückfälle zu erleben. Ich nahm Abschied von meinen literarischen Gespenstern, von Hamlet, von Ödipus, von Sisyphos, ich schwamm ans Ufer und spürte Boden unter den Füßen und den Himmel über mir. Einen Teil des Lukas von der Startseite kann ich mit einem Schmunzeln zurückblicken lassen: großäugig und eckig. Der Lukas auf dem Boden aber strahlt und öffnet die Schritte nach vorn, als gäbe es die Schatten im Hintergrund nicht. Sie sind nicht mehr als die Projektionen auf der Leinwand alter Gespensterfilme. Iokaste, sage ich, so gar keinen Orgasmus mit Ödipus gehabt? Wäre doch schade um die verruchten Jahre. Müssen wir uns nicht aus dem Inneren des Lehmbodens aufrichten und uns von den ersten Sonnenstrahlen blenden lassen? Die demütige Verbeugung mit vor der Brust verschränkten Armen muß ich einstudieren, bevor ich zur ersten Derwischdrehung ansetzen kann. Es wird schwindelerregend werden. Na und?

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