Uri Bülbül

 

30. Juli 2005

Die letzten Nachrichten liegen eine Weile zurück. Einen Eintrag hatte ich geplant und geschrieben, dann aber habe ich ihn doch nicht - oder zumindest noch nicht ins Netz gestellt, und wieder verging die Zeit. Meine Novelle BRACHLAND ist inzwischen fertig und wartet auf ihre Veröffentlichung. Leider wartet sie nicht bei einem Lektor auf dem Schreibtisch unter einem gigantischen Stapel nicht durchgesehener Manuskripte, der diesen Lektor zu erschlagen droht und dem Verlag unnötige Versandkosten auferlegt und allen eigentlich nur schlechte Laune macht, nein, sie wartet geduldig im Büro. Trotz aller guten Vorsätze, mit denen ich mich auf den Weg in die Hölle gemacht habe, ist im Büro ein unermessliches Chaos ausgebrochen. Man könnte sagen: es ist die alte Krankheit - zu viele Projekte, zu viele Fragmente, zu viele Baustellen, zu vieles begonnen -und bis vor kurzem hätte ich gesagt: und nichts beendet. Nun aber, nun kann ich stolz mir selbst und der Welt verkünden: Die Novelle, auf die niemand gewartet und mit der niemand gerechnet hat, ist fertig.
Am Chaos hat das nichts geändert.  Mit Begeisterung habe ich mich in neue Abenteuer der Ideen gestürzt, habe die KULTURPROGRAMM-Redaktion wieder aufleben lassen, habe einen politischen Essay über die vergängliche Zukünftigkeit gegenwärtiger Tendenzen begonnen, habe mich mit Émile Durkheim und Max Weber beschäftigt und eine Idee zu einem Essay über Webers schlampigen Umgang mit Platon ausgebrütet, habe eine kleine Kurzgeschichte mit dem Titel Suizid geschrieben und nebenbei für unseren Literaturverein SCHREIBHAUS gearbeitet. Allmählich wird es ernst mit der Literatur-Akademie im Internet.
Ab und zu zwingt einen der Verein auch zu kulturpolitischen Betrachtungen und Aktivitäten, zumal die Stadt, in der ich lebe selbst in ihrer Kulturpolitik und Kulturförderung geradezu kulturfeindlich agiert. Aber das ist ein weites Feld und einige Leute aus anderen Städten, denen ich mein Leid geklagt habe, erwiderten nur, in meiner Stadt sei es eben auch nicht anders als anderswo. Ich aber, ich ärgere mich, weil ich nicht woanders bin, sondern hier und manch einer sähe mich lieber woanders. Aber so leicht will ich es niemandem machen: Man muß wahrscheinlich überall der menschlichen Natur die Kultur abtrotzen, und genau das will ich hier und heute tun, solange ich lebe.
Ganz zu meiner Überraschung ist mir vor einigen Wochen ein alter Freund über den Weg gelaufen; nein, ich habe ihn angerufen. Er ist Musiker und ich brauchte für eine Lesung kurzfristig einen Musiker und meldete mich nach Jahren wieder bei ihm. Er erzählte, er könne meine Hilfe gut gebrauchen, er habe mit einem Kompagnon zusammen ein Theater übernommen, brauche nun jemanden, der die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit machen könne, bis ich sagte: Halt, moment mal! ICH habe DICH angerufen, also bekomme ich zuerst Deine Hilfe, die ich dann tatsächlich auch prompt erhielt. Die Lesung verlief für meinen Geschmack recht ordentlich, dennoch entstand Streit und zwei Anfängerautorinnen verließen unter Protest und Emailgenörgle das Schreibhaus. So etwas frustriert und bindet kurzfristig Kräfte, Gedanken und Gespräche kreisen nur noch um die Streitigkeiten, obwohl das Schreibhaus den "Verlust" locker verkraften kann.
Der Blick wurde einfach wieder nach vorn gerichtet, auch wenn eine ganze Woche mit rückwärtsgewandten Diskussionen verstrich. Es gab neue Aktionen, weitere Kulturaktivitäten und wieder wurde der menschlichen Natur ein Stück Literatur abgerungen. An entsprechenden Stellen wird es wieder einiges zu lesen geben.
Mein SILBERBURG-Zeichenbuch aus handgeschöpftem Papier mit einem Umschlag fadengebunden und Zuckerrohrfaser ummantelt ist noch immer nicht ausgepackt. Die Sehnsucht nach dem Haptischen ist in Ideen- und Projektewust untergegangen. Aber die Glut glimmt noch. Anfang November werde ich im psychosozialen Kommunikationszentrum der Ruhr-Universität Bochum eine Vernissage mit Gefiltert & Geebnet haben. Traumhaft wäre es natürlich bis dahin mein handschriftliches Unikat von der Einleitung ins ƒSTHETIKUM fertig zu stellen. Aber die Einleitung hat noch nicht einmal den Grad des Virtuellen im Computer erreicht. Mit anderen Worten: Der Text ist noch gar nicht verfasst :-(
Bis Montag hingegen muß die Ankündigung ausformuliert sein. Bald geht das Programmheft des Zentrums in Druck.
Dennoch habe ich erst einmal ungeachtet dessen unverdrossen an der General¸berholung meiner Seiten gearbeitet. Das Frameset erschien mir zu altbacken und manche Spielereien mußten dem Versuch einer neuen Klarheit weichen. Wer das oben Gesagte noch im Kopf behalten hat, wird verstehen, daß die Sehnsucht nach dem Haptischen von der Sehnsucht nach Ordnung verdrängt wurde. Um dem "Kopfchaos" Herr zu werden, mußte ich nun endlich damit anfangen, meine Seiten auf- und umzuräumen. Den Ausdruck "Kopfchaos" prägte eine Autorin im Schreibhaus, die sich vor zu vielen Baustellen fürchtete und lieber nicht zu viele Projektfelder für das Schreibhaus eröffnet sehen wollte. Nichts sprach mir so sehr aus der Seele wie dieses eine Wort. Die Ausstellung in der OASE wird unter dem Titel "Gefiltert & Geebnet- Bilderschriften und Schriftenbilder" stattfinden und das Motto "Die Fotografie ist die Fortsetzung der Schriftstellerei mit anderen Mitteln" haben. Die ästhetisch-logische Konsequenz wäre eigentlich, das handschriftliche Einleitungsunikat mit auszustellen. Wie das Meiste aber ist auch das Gefilter&Geebnet-Projekt ein kleines Molekularteilchen in den unendlichen Weiten meines Kopfchaos. Die Galerie allerdings habe ich schon weiterentwickelt. Schon im Büro umstritten ist das Bild "Kein Engel für Charly" und brachte mir erneut einen Sexismusvorwurf ein. Ich will ihn und das Bild erst einmal unkommentiert stehen lassen. Ich hätte es ja still und heimlich im virtuellen Papierkorb des Computers verschwinden lassen können, tat es aber nicht, was man als eine künstlerische Entscheidung sehen kann. Die ideologische Diskussion ist mir also nicht unbewußt. Ganz unabhängig davon weiß ich aber nicht, ob ich das Bild in der OASE ausstellen werde, weil mir andere Bilder mehr am Herzen liegen und der Ausstellungsplatz natürlich begrenzt ist, so daß ich in jedem Fall eine Auswahl treffen muß.
Am Anfang der neukonzipierten Seiten steht wieder ein Bild, das auf eine Fotografie von Ines Meier zurückgeht, die in Braunschweig Fotografie studiert: "eingehaucht in Vermauerungen". Man könnte darin trotz des Fensters mit dem Fensterkreuz den allmählichen Verfall, die ruinöse Zerfallstendenz und die damit verbundene Aussichtslosigkeit sehen. Die platonische Erotik der Ideen und der Erkenntnis, die Liebe zum Guten als Heliophilie ist kaum mehr als ein Schattenwerk im zerbröselnden Gemäuer. Der Philosoph ein Griesgram, die Schrift auf dem Bild verteilt wie der Kunst entledigte Graffiti. Keine Einheit, kein Wille eines agierenden Subjekts. Eben Verfall. Doch genau darin sprießt die Vielfalt. Das Gedicht, das dem ÄSTHETIKUM-Bild unterlegt ist, findet sich in der Gefiltert-Galerie unter dem Bild ÄSTHETIKUM. Eine Interpretation dieses Gedichtes muß ich zunächst schuldig bleiben - nicht, weil ich es ästhetisch-ideologisch für unangebracht hielte, die eigenen Gedichte zu interpretieren. Ich könnte kaum mehr dazu sagen als andere Interpreten auch und hätte keine größere Autorität als alle, die es lesen und für sich deuten. Ich muß die Interpretation aus Zeitgründen schuldig bleiben. Es warten andere Aufgaben auf mich. Wenn ich denn die Einleitung ins ÄSTHETIKUM schreibe, werde ich zumindest meine Kunstphilosophie so weit darlegen, daß deutlich werden kann, was hier nur angedeutet wird.
Die eingangs erwähnten Nachrichten aus dem Büro stammen vom 14. Juni 2005. Sie enthalten unter anderem einige Bemerkungen zur ZERFAHRENHEIT, zu meinem Hypertextroman. In einer Leserunde in der OASE trug ich den Prolog der ZERFAHRENHEIT vor. Das Ergebnis war niederschmetternd: Uri las sich einen Text vor und einige Kollegen schauten ihm dabei zu :-) Im Netz hatte ich den Prolog schon längst veröffentlicht. Und auch jetzt bei der Überarbeitung meiner Seiten komme ich gerne auf ihn zurück. Noch immer habe ich starke Sympathien für diesen Text und sehe ihn gerne altern. Heute wird die Site von toten Links beherrscht. Ab morgen sollen sie sich mit Leben füllen. In der Schwüle des vorletzten Julitages habe ich genug Zeit am Computer verbracht. Es wird Zeit, sich unter die Dusche zu stellen und den Abend zu genießen.
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