Uri Bülbül

18. August 2004

BRACHLAND Eine Novelle

"Wollen Sie die Geschichte weitererzählen?” fragte Lemming gereizt.
"Nein, nein”, erwiderte Niklas, "Ich wollte Ihnen lediglich die Möglichkeit bestärken, daß ich tatsächlich Ihrer Phantasie entsprungen sein könnte. Denn Sie denken sich ja nun wirklich seltsame Gestalten aus!”
Lemming schmunzelte: "Ja, ja, seltsame Gestalten. Ich sitze in der ewigen Finsternis meiner cartesianischen Einsamkeit, getäuscht von einem bösen Dämon, der mich täuschen kann, so viel er will, und denke mir einen Mann aus, der mir zuhört und meine Geschichte zerpflückt. Aber vielleicht sind Sie auch der böse Dämon!”
Mehr als ein Achselzucken hatte Niklas für diese These nicht übrig.
Lemming fügte noch hinzu: "Aber wichtig ist, daß wir existieren, nicht wahr, Niklas? Ich kann, da mag mich der Dämon täuschen, so viel er will, immer uneingeschänkt sagen: Ich bin, ich existiere!”
Niklas lachte: "Ja, Sie finden immer was, um sich einzureden, daß Sie existieren, Lemming! Sie sind ein Zauberer!”
"Schön, daß Sie es so unumwunden zugeben können, Niklas”, sagte Lemming.
"Ja, aber nicht ohne einen sophistischen Hintergedanken”, sagte Niklas verschmitzt grinsend, "Wenn ich nur ein Produkt Ihrer Phantasie bin, dann können letztlich nur Sie sich selbst den Mist eingebrockt haben, von dem Sie vorhin sprachen. Ich wasche meine Hände transzendentalphilosophisch in Unschuld.”
Niklas und Leming in einer zunächst undefinierten Wohnung, Lemming erzählt "zum Zeitvertreib" die BRACHLAND-Geschichte von den zwei Landstreicherinnen Vanessa und Elena. Kommt Ihnen die Geschichte bekannt vor? Sehen Sie? Niklas auch!

Gewiß bedarf das ÄSTHETIKUM auch einer Einleitung. Da aber ein Hypertextprojekt nicht linear ist, muß die Einleitung auch keineswegs am Anfang stehen. Seien Sie versichert: An der Einleitung ins Ästhetikum wird gearbeitet. Indes aber steht eine andere Arbeit kurz vor dem Abschluß: BRACHLAND. Eine Novelle.

29. Juli 2004

Die Nachrichten aus dem Büro sind im Juli etwas länger geworden, haben sich zu einem zweiteiligen Essay unter dem Titel:

Von Salonchauvinisten und alten Freunden und die zu erobernde Frau als Terra incognita

verselbständigt. Woran ich geplanterweise weiterarbeiten wollte, ist natürlich liegen geblieben. Dennoch hoffe ich, daß der Essay inhaltlich das ÄSTHETIKUM bereichert. Ein Versuch poetischer Art, um das Thema zu umreißen, womit ich mich im Juli beschäftigt habe, ist nebenbei entstanden. Ob ein Text-Bild daraus wird, was in «gefiltert & geebnet» platziert werden kann, steht in den Sternen.

10. Juni 2004

Im Navigationsframe ist einiges dunkel. Es wären ohnehin nur tote Links. Sie würden zu nichts als zu einer Fehlermeldung führen: Sie klickten auf «Philosophie» und erhielten nur ein «ERROR». Die Dinge brauchen ihre Zeit und müssen reifen. Ideen müssen überdacht und in Text verfasst werden. Und oft verlieren sie ihren Glanz, kaum daß sie in Worte gekleidet sind. Andere wiederum erhalten eine Erscheinung, die ihnen nicht zukommt, ein Gewicht, das sie einfach nicht haben. Die Kodifizierung einer Idee stellt sie zugleich auf die Probe.

Die passenden Worte zu finden ist das Eine, etwas anderes von der Wahrheit überzeugt zu sein. Aber wie sagte Nietzsche einst: Überzeugungen sind die größten Feinde der Wahrheit? Es muß ein spielerisches Reigen sein zwischen Wort und Idee, und immer wieder muß man sich herumwirbeln lassen vom trügerischen Schein wahrgeglaubter Phantasmen, noch bevor sie sich zur Ideologie verfestigen oder praktisch zur Politik werden. Irgendwo reitet Europa auf dem Rücken eines zahm geglaubten Stiers davon und niemand ahnt auch nur das Ende des Märchens. Am Strand schäumen sanfte Wellen um nackte Füße, zerriebene Muscheln massieren die Sohlen. Jenseits der Alpträume von havarierten Tankern ist die Welt noch in Ordnung. Selten werden ertrunkene Flüchtlinge an Land gespült. Weit draußen auf dem Meer treibt ein Ölteppich, und an Land am Abend rüsten Redner rhetorisch auf, bis aus dem Teppich ein Kopftuch wird. Die Welt will beschrieben sein, in Wort gehaucht bei Sonnenuntergang. Erlkönigs Töchter rufen. Wehe den Fiebrigen!

24. Mai 2004

Eines Tages im Mai

Blick zurück: viele Projekte gescheitert, viele Ideen verworfen, viele Illusionen zerstört. Der Blick zurück auf ein Trümmerfeld. Was kann man aus den Fragmentruinen machen? Gibt es eine Chance auf Neubeginn oder einen Formwillen, der daraus einen Steinbruch kreieren könnte, um neue Gedanken- und Werkgebäude zu errichten? Ist hier ein Romantiker am Werk, der sich zu einem Fragmentarismus aufschwingen will? -die Bruchstücke verbinden, ein Puzzle aus dem machen, was niemals zusammenzugehören schien? Kann es eine Antwort darauf geben, was das Ästhetikum sei? Und kann das Ästhetikum jemals das werden, was es der Idee nach zu sein versprach? Wichtiger fast als der Formwille könnte hierbei das Durchhaltevermögen werden. Am Rande des Wahnsinns nicht zu verzweifeln, nicht die Flucht anzutreten, auch nicht die nach vorn! Auszuharren und weiter zu arbeiten - das könnte Weg und Ziel sein. Schreiben ohne ein Publikum im Kopf, ohne Hoffnung auf Gehör, auf Erfolg oder Resonanz. Schreiben um des Schreibens willen und weil geschrieben werden muß, was als Idee am Horizont aufging.
Eines Tages im Mai ist Aufbruchstimmung, eine alte romantische Reisesentimentalität. Wohin geht es? Warum die Eile? Sind denn die Kapitelüberschriften schon im Gepäck? Ein Exposé geschrieben? Eine Einleitung gefunden? Können neue Versprechen abgegeben werden? Neue Etappen formuliert?
Die Antworten entwickeln sich hier. Schritt für Schritt. Post an mich ist möglich (uri@uribuelbuel.de), aber nicht nötig. Geld verdirbt den Charakter, sagt man. Der Wunsch, Geld zu verdienen die Kunst. Und das Ästhetikum ist eine Kunst. Sie haben hier keine Kommerzielle Site vor sich.
Sicherlich bedarf es eines Manifestes. Es könnte erklären, verdammen, Grenzen ziehen. Es könnte einen revolutionären Ton einschlagen, dem Geniekult huldigen, auf handhabbare Form bringen, was rhizomatisch ausufert. Es könnte aber auch das Projekt in den Würgegriff von Proklamationen legen. Diese Gefahr ist ebenso nah wie der Wunsch nach Verlautbarungen. Aber wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt in ihr um! Die Gefahr holt uns ein, stellt uns, und stellt uns womöglich in einer Situation, in der wir auf sie nicht vorbereitet sind. Wir müssen uns selbst den Gefahren stellen und können nicht so tun, als gäbe es sie nicht! Wir können nicht den Kopf in den Sand stecken. Wir müssen selbst das Heft in die Hand nehmen. Also: wer sich nicht in Gefahr bringt, kommt in ihr um!
Dennoch wird dieser Tagebucheintrag aus dem Büro als Manifest genügen müssen. Das Abenteuer beginnt mit der Philosophie, mit dem Ästhetikum. Das Ästhetikum ist eine grundsätzliche Alternative zu rationalistischen Philosophieansätzen. Es ist eine Philosophie der Sinnlichkeit, die Wahrnehmung und Erleben betont und vitalistische Elemente enthält, die dem Nietzscheanischen Ästhetizismus entlehnt sind. Es ist, wie jede Philosophie, natürlich ein Bemühen um Weltverständnis im Prozeß der Selbstverständigung des Denkenden Subjekts. Das Denkende Subjekt aber denkt im Ästhetikum nicht wie das Denkende Subjekt cartesischer Prägung auf eine rein begrifflich-logische Art, sondern auch intuitiv, gleichnishaft und in Bildern. Das Denkende Subjekt des Ästhetikums versucht sich und die Welt auch sinnlich zu erfassen. Im Gegensatz zum Anästhetikum, das ein Betäubungsmittel ist, ist das Ästhetikum ein philosophisch-literarisches Mittel, das die Sinne wecken und schärfen soll. Das Ästhetikum verfolgt das Ziel einer phänomenologischen Sensibilisierung. Damit genug der Proklamationen. Letztendlich kann allein das Ästhetikum selbst beweisen, was es ist. Aber einer Ankündigung bedurfte es schon. Es ist eine Anlündigung, die auch mich selbst ermutigen und ermuntern und in die Pflicht nehmen soll. Eine Schuldigkeit, wie ein öffentlich abgelegtes Gelübde. Im Büro brodelt es.

13. Oktober 2003

Es ist nicht unüblich, daß Schriftsteller und Philosophen nicht nur an einem Thema, an einem Buch arbeiten, sondern mehrere Themen und Projekte zugleich beackern. Der Vorteil einer solchen Arbeitsweise ist, daß man die toten Punkte bei einzelnen Projekten leichter überwinden kann, indem man einfach das Thema bzw. das Projekt wechselt. Der Wechsel der Themen ist auch ein Wechsel der Perspektiven, so daß man auch wieder die Sinne öffnet für neue Ideen. Der Nachteil liegt auf der Hand: man verzettelt sich schneller, bringt nichts mehr fertig, verlangsamt die Arbeiten dadurch, daß man auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen versucht. Aber es gibt hinter der Heuristik noch etwas Bemerkenswertes, vielleicht etwas Geheimnisvolles, vielleicht etwas Metaphysisches ;-)
Ein Schriftsteller arbeitet doch nicht ein Buch nach dem anderen, eine Geschichte nach der anderen, ein Thema nach dem anderen ab! Es gibt doch so etwas wie einen roten Faden, der sein Werk durchzieht. Warum interessiert mich dieses oder jenes Thema und ein anderes nicht? Warum habe ich so geschrieben, wie ich geschrieben habe und nicht anders? Warum habe ich dieses Thema gewählt, warum meine Figuren so konzipiert? Ich war über die Äußerungen einiger Schriftsteller sehr enttäuscht, als ich hörte, was sie zu ihren Arbeiten und Arbeitsweisen zu sagen wußten oder eben nicht wußten. Sie überlassen die Suche nach Antworten auf die spannenden heuristischen und hermeneutischen Fragen anderen: der Nachwelt, der Literaturwissenschaft, ihren Biografen, ihren Lesern. Ich finde die Kräfte, die hinter meinen Werken walten, viel spannender als die Werke selbst. Ich möchte mein Auge nach Innen stülpen, auf Links drehen und meine Netzhaut betrachten. Ist die größte philosophische Herausforderung nicht die Selbsterkenntnis? Auf der Suche nach dem roten Faden und nach dem Antrieb meiner Schriftstellerei und nach den Gründen und Abgründen meines Versagens und vom Wunsch beseelt, endlich Ordnung in meine Arbeiten zu bringen, habe ich mich zu Projektreferaten entschlossen, die mir helfen, meine Arbeiten zu koordinieren und in einen inneren Zusammenhang zu bringen. Dieser Zusammenhang war nicht immer da, und auch nicht immer sichtbar. Er wird in den Projektreferaten oder Arbeitstagebucheinträgen rekonstruiert und konstruiert. Das gibt mir Halt und Sicherheit, wovon andere Kollegen nur träumen können. Das weiße Blatt verliert seinen Schrecken, einen Moment der Ideenlosigkeit gibt es nicht. Selten erfüllte die Metaphysik ihren Zweck so gut wie an mir. Sogar den Abgrund der letzten Sinnlosigkeit vermag ich manchmal zu vergessen. Ich bin Daidalos und baue an meinem Labyrinth, auch wenn es wie ein Kartenhaus zusammenstürzen oder niemals eine Funktion erfüllen oder auch nur von jemandem erblickt werden wird. Es wird höchstwahrscheinlich nicht einmal eine Nachwelt geben, die sich für meine Schriften, für meine Gedanken oder gar für meine Person interessieren wird. Und dennoch vermag ich meine Augen davor zu verschließen und mich der Faszination des Schreibens hinzugeben - des Schreibesn, das auch ein Konstruieren ist. Es ist eine Lebensfunktion wie Atmen oder Verdauen. Allein darauf kommt es an. In meinem Cogito-Traktat habe ich mehr dazu geschrieben. Allerdings hat das Traktat noch vor dem 6. Projektreferat Anmerkungen von mir erhalten und diese Anmerkungen wiederum Randbemerkungen, so daß die Schrift nun eigentlich einer gänzlichen Generalüberholung bedarf und noch keinen Eingang ins «Ästhetikum» gefunden hat. Wer das Stichwort «Cogito» anklickt, wo es verlinkt ist, wird zur Zeit mit einer leeren Seite im Lexikon konfrontiert. Das wird sich wahrscheinlich nach dem 8. Projektreferat ändern. Auch ist ein Essay «Das Ego und sein Cogito» in Planung. Wohl dem, der in meinem Essay-Titel eine Parallele zu Antonin Artauds «Das Theater und sein Double» entdeckt :-))) Nach dem Theater der Grausamkeit nun auch eine Literatur der Grausamkeit?
"Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren. Schluß machen mit allen Gegensätzen.Kunst und Leben, Bewußtsein und Körper, Zeichen und Bezeichnetes nicht mehr unterscheiden. Unter der Grammatik Liegt das Denken Begraben.Den Körper zur Hieroglyphe machen, zum Schauplatz einer Artikulation vor den Wörtern: der Geste, des Atems, des Schreis, Die Nerven, die Haut die Knochen sprechen lassen. Sich selbst erzeugen, im (narzißtischen Wüten gegen alle genealogischen, sozialen, religiösen Zuschreibungen: Ich Antonin Artaud, ich bin mein Sohn/mein Vater, meine Mutter/und ich selbst".
A. Aratud
Ich Uri Bülbül bin kaum mehr als ein Projekt.

22. Januar 2003

Der Intellektuelle am Abgrund, zwischen Konformität und Selbstsuche. Und über ihm das Damoklesschwert, unbrauchbar, unnütz zu sein. Der Intellektuelle als Versager und Taugenichts. Unsere Gesellschaft will keinen philosophierenden Müßiggang. Darin scheint ein Bedrohungspotenzial zu stecken, was bei den 68ern schon einmal explodierte. Die 68er sind zu einem Mythos und Schreckgespenst geworden. Auch von anderen Ländern weiß man, daß Universitäten als subversive Unruheherde dienen und der Gesellschaft Revolten und Umstürze bescheren können. Hochschulpolitik hat nur bis zum gewissen Grade eine bildungspolitische und wissenschaftliche Komponente. Viel wichtiger ist die herrschaftspolitische Frage, wie kann man eine leise tickende Zeitbombe für Herrschaftsstrukturen entschärfen? Zu einer langen Entpolitisierungsstrategie gehört die Infragestellung der Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, die Erzeugung eines Legitimationszwanges, der viele panikartige Reaktionen und Diskussionen auslöste, die Erhöhung des Leistungsdruckes und Verschulung des Studiums unter dem Deckmantel, es effizienter machen zu wollen und Erhöhung des Konkurrenzdruckes unter den Lehrenden und Hochschulen, um eine breite Entsolidarisierung zu bewirken, die die Universitäten politisch handlungsunfähig macht. Wie in meinem Hypertextroman ZERFAHRENHEIT versuchte ich auch im AUFTRAG die Hölle unter der Schädeldecke eines Intellektuellen darzustellen. Niklas Hardenberg ist ein moderner Diogenes von Sinope. Er hat der politischen Macht nichts zu sagen als: Geh mir aus der Sonne! Es ist nicht ganz derselbe Niklas Hardenberg, der uns im AUFTRAG und später in BRACHLAND begegnet. In der Novelle ist er um die wichtige Erfahrung aus dem AUFTRAG reicher. Wenn es denn ein Reifeprozeß war, den er durchmachte, dann war der Verrat an seinen Idealen und Freunden der Motor dieses Reifeprozesses. DER AUFTRAG beschäftigt sich mit der Anatomie des Verrates - eine abstrakte und hoffentlich doch lebendige Darstellung in der (ver-)zweifelnden Abstraktion eines Cogito.

7. Januar 2003

Nachdem die Publikation des wunderbaren Buches »Über die Summe der Häuser« mit Fotografien von Ines Meier und Texten von Kerstin Hetmann geklappt hat, arbeite ich nun an der Publikation von Hans-Jürgen Gawolls »Über nichts, alles und die Fremden • Philosophisch-literarische Exkurse«. Es ist ein Zufall, daß beide Buchtitel mit »über« anfangen, ansonsten sind sie sehr unterschiedlich, haben aber doch auch Gemeinsamkeiten, die nicht an der Oberfläche zu suchen sind. Ich könnte einen Aufsatz darüber ins Auge fassen. Er müßte den Titel tragen: »Über die Bedingungen der Möglichkeit der Heimaterfahrung in der Perspektive der Befremdung«. Ines Meiers Blick richtet sich auf zerfallende Fassaden, die, wenn man genau hinsieht, noch eine Menge zu erzählen haben. Hans-Jürgen Gawoll spürt Schnittstellen von Kulturen auf: Wo berühren sich eigentlich Orient und Okzident?
Im Moment liegt sein Aufsatz über Ökologie und Nihilismus neben mir. Das Problem ist nicht der ethische Nihilismus, der keine moralischen Werte anerkennt. Das Problem ist jener Nihilismus, der uns als solcher nicht auffällt, weil er gar nichts zu verneinen scheint, sondern sich in jenem versteckt, was er befürwortet. Es ist vielleicht ein antivitalistischer Nihilismus, der durch seine aufgestellten "positiven" Werte, das Leben schlechthin verneint. Wer sich ein wenig mit Nietzsche beschäftigt hat, mag nun an das Christentum denken. In diese Richtung gehend würde ich den Islam hinzufügen wollen. Wo findet man eine so augenscheinliche und aggressive Leibes- und Lebensverneinung wie in der totalen Verschleierung des weiblichen Körpers? Oder in dem Opfertod für ein besseres Leben oder Freiheit? Aber zurecht kann man auch fragen, ob eine totale Enthüllung des Körpers umgekehrt, wie es die westliche Kultur in ihrer Werbe- oder Pornoindustrie praktiziert, lebensbejahend sei. Ist eine dem Profit untergeordnete Sexualisierung der Kultur tatsächlich ein Ausdruck der Lebensfreude? Mir scheint, der Nihilismus hat viele Gesichter. Eines konstatiert Hans-Jürgen Gawoll in der »ökologischen Alternativbewegung«:
»Da sie vom Subjekt fordert, die Dinge in der Natur wieder richtig zu gebrauchen, verpflichtet sie den Einzelnen auf eine asketische Selbstgenügsamkeit. Mit dieser Verhaltensweise, die eine protestantische Arbeitsethik säkularisierte, leistet man nicht nur auf den ökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Reichtum der modernen Gesellschaft verzicht. Wenn man zudem den sinnlichen Menschen stigmatisiert, der sehend, fühlend, riechend, hörend, schmeckend und erotisiert im Augenblick aufgeht, verfällt man einem kleinbürgerlichen Nihilismus, der das verneint, was der Möglichkeit nach über die Verdinglichung des Lebens hinausweist.«
Ich komme allerdings nicht ganz umhin, einem unguten Gefühl der Ambivalenz bei der Formulierung vom »ökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Reichtum der modernen Gesellschaft« Ausdruck zu verleihen. Ich kann mir schon vorstellen, was Gawoll damit meint. Ich spüre aber auch eine Affinität zur Affirmation dieser Gesellschaft, die ich nicht teilen würde. Vielleicht ist das, was Gawoll als kulturellen Reichtum bezeichnet, als dialektische Opposition zum Wirtschaftssystem entstanden und der »ökonomische und wissenschaftliche Reichtum« kann in seiner dialektischen Negation bejaht werden - in seiner Aufhebung und Umverteilung. Vielleicht aber sind das auch nur die Sophistereien eines marxistisch verbildeten Freundes, der sein Wohlwollen ausdrücken möchte.
Der Nihilismus fiel mir an anderer Stelle im Zusammenhang mit den audiovisuellen Medien auf. In meinem Essay »Das Flimmern in der Hölle«, der sich in dem mit Oliver Martin Ligneth-Dahm gemeinsam herausgegebenen Buch »Elektrische Tage • Schriften zum Film« befindet, wähnte ich den Menschen im dunklen Kinoraum, den auch ich klassischer Weise und wenig originell mit der platonischen Höhle verglich, entleibt und entsinnlicht auf ein popcornfressendes Auge reduziert. Ein ganzes Kapitel möchte ich in meinem Hypertext-Roman ZERFAHRENHEIT diesem Thema widmen und unter die Überschrift stellen: ENTLEIBUNG UND ENTGEISTERUNG. Hinzufügen müßte ich eigentlich: »in der europäischen Aufklärung und ihrem Rationalismus«. Das soll aber aus dem Text selbst heraussprechen. Unser Wahrheitsbegriff wird schon bei Platon, wenn auch als Gleichnis oder Metapher gebraucht, auf die Visualität reduziert. Nichts scheint mehr für Wahrheit zu bürgen als der Satz: »Das habe ich mit eigenen Augen gesehen«. So fängt auch die aristotelische METAPHYSIK mit dem Satz an: »Alle Menschen haben einen angeborenen Wissenstrieb. Ein Beweis dafür ist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen, die man, auch ohne ein bestimmtes Bedürfnis, um ihrer selbst willen liebt, und vor allen andern die Wahrnehmungen mittels des Auges.« Für mich ist das ein zentraler Satz der abendländischen Philosophie. Man prüfe einmal selbst, wieviele Ausdrücke, die mit Erkenntnis im weiteren Sinne zu tun haben, aus dem Bereich des Sehens stammen! Da gehört natürlich nicht zuletzt der Ausdruck »Aufklärung« selbst dazu. Man kann aber auch Redewendungen hinzu zählen wie etwa: »Mir geht ein Licht auf«, Jemand sei »unterbelichtet« oder tappe »im Dunkeln«, ein Sachverhalt sei »klar« oder wenn man eine andere Meinung hat: »das sehe ich aber anders« usw. usf.
So wird erst der Erkenntnisprozeß und dann im Zeitalter der Medien und des Cyberspace das Erleben insgesamt immer mehr auf das Auge reduziert. Kino und Fernsehen vermitteln uns nicht nur erste Eindrücke von der Welt, machen uns nicht neugierig auf die Welt, sondern sie vermitteln uns das Gefühl, die Welt zu kennen. Wir bekommen das Gefühl, eben alles schon gesehen zu haben. Im Türkischen ist ein kultivierter Mensch ein »besehener« Mensch, wie es im Deutschen ein »belesener« ist - jemand, der viel gesehen, viel erlebt hat und zudem wohlerzogen ist. Zur Erziehung gehört aber eben nach türkischer Auffassung das Zugesichtbekommen. Nicht allein die Schulbildung macht Bildung aus, sondern Einflüsse wie Familie und soziales Erleben. Hier scheint der Bildungsbegriff noch nicht vollkommen rationalistisch durchdrungen zu sein. In der heimischen Stube aber erleben wir mittels des Fernsehens die Welt. Unser Erfahrungsbegriff reduziert sich, unser Wissen reduziert sich, unsere Aufklärung verkommt zum Voyeurismus. Und das scheint in der Sache selbst so angelegt zu sein. Vielleicht ist das ein Aspekt der Dialektik der Aufklärung: sie entleibt und entgeistert, negiert den erotisierten Menschen, der nicht nur sehend ist, sondern auch fühlend, riechend, hörend, schmeckend. So wird Aufklärung in Bücherwurm- und Stubenhockermentalität, das Kind zum Stillsitzen verdammend von jeher gegen körperliches Erleben gerichtet, mittels des Auges zur Anästhesie der Vernunft.
     Dabei bin auch ich nicht frei von der Lust auf Sehen. Eine Zeitlang wurde in meiner Familie durch die privaten Sender auf der Flucht vor den Werbepausen gezappt, was zu dem ohnehin sehr unruhigen Fernseherleben zusätzlich Unruhe hinein brachte. Wie ich später feststellte, weckte das in mir die große Lust auf ruhige, gleichmäßige ungeschnittene Bilder wie sie beispielsweise ein Aquarium liefert. Immer mehr wandte ich mich ab vom Fernsehen und begann die flüssigen Bewegungen von Wasserschildkröten in meinem Aquarium zu genießen. Mittlerweile hat es ein Volumen von 250 l, beherbergt mehrere dieser wunderschönen und ruhigen Tiere, die nicht aufdringlich und aufmerksamkeitserheischend oder gar verlogen sind wie Nachrichtensprecher oder Politiker vor der Kamera. Ich kann meine Perspektive und die Einstellungsgröße selbst wählen, verzichte auf jeglichen Schnitt und bin Herr meines Blickes. Was äußerlich langweilig erscheint, wird so zum Ausgangspunkt für mediative Ruhe und zum Urlaub für die Sinne. Wäre ich nicht schon allzu sehr aufklärerisch entleibt, würde ich vielleicht sogar einen Tauchkurs machen, um dem Nihilismus einen Hauch von Vitalität entgegenzusetzen und der reinen Visualität des eckigen Kastens ein dreidimensionales Realitätserleben hinzuzufügen.

27. Dezember 2002

Orientierungssuche und Arbeitsbilanz zwischen den Jahren. Wie verhalten sich eigentlich Philosophie und Literatur zueinander? Macht Theorie die Ästhetik der Literatur kaputt? Braucht Literatur eine Aussage? Gibt es »reine Unterhaltung«? Muß gute Literatur politisch sein? Kann Literatur Kritikfähigkeit fördern? Verändert sie die Wahrnehmung der Welt und hat damit auch eine erkenntnistheoretische Funktion? Kann, negativ formuliert, Literatur auch verdummen und abstumpfen, die Sinne lahmlegen? Wie sinnvoll oder unsinnig ist »die Moral der Geschichte«? Wo finde ich Maßstäbe für gute Literatur? Was ist »gute Literatur«? Suche ich Bekanntheit und Anerkennung? Oder schreibe ich »für die Schublade«? Spiegelt sich mein Unterbewußtes in meiner Literatur wider? Gebe ich in meinen Texten meine intimsten Seelenzustände preis? Betreibe ich also mehr oder minder absichtlich Seelenstriptease? Sind Schriftsteller Psycho-Exhibitionisten? 
Das sind Fragen, die Autoren ständig begleiten. Sie sind weder neu noch ein für allemal ad acta zu legen. Sie sind sozusagen Klassiker: schon seit langem vorhanden und immer wieder aktuell. Sie haben auch eine lähmende oder bremsende Wirkung. Glücklich diejenigen, die sie zu ignorieren verstehen. Aber wahrscheinlich gibt es niemanden, der von ihnen nicht eingeholt wird. Wäre jetzt zwischen den Jahren nicht die beste Gelegenheit, sie zu beantworten? Nicht endgültig, aber vielleicht doch für eine Weile zufriedenstellend?
Vor ein paar Tagen schrieb ich für eine Bewerbung um ein Stipendium an meiner Vita. Meine Lebensgefährtin meinte, es fehle darin mein künstlerisches Credo. Das muß wohl auch im kommenden Jahr so bleiben. Es wird sich nicht ausformulieren lassen. Es wird mehr oder minder intuitionsgeleitet bleiben, obwohl ich sagen kann, daß ein Anliegen meines Schreibens in der fruchtbaren Synthese von Philosophie und Literatur besteht. Aber solche Formulierungen verleiten zu falschen Schlüssen. Sicher geht es mir nicht darum, Belehrungen und pseudophilosophisches Moralisieren in gleichnishafte Geschichten zu packen. Wahrheitsdifferente Aussagen sind das Ende der Fiktion. Sie geht ihre eigenen Wege, folgt ihren eigenen Regeln, und am Ende soll kein Ja, so ist es! herauskommen. Eine Stimmung, eine Nachdenklichkeit, ein veränderter Blick - mehr wäre zu viel. Das zu erreichen ist schon eine Menge.
Aber immer wieder muß ich auch den klassischen Fragen an einen Autor nachgehen und Antworten für sie suchen. Nicht nur zwischen den Jahren.

26. November 2002

Eine Zeitlang war es sehr in Mode, die Schriftstellerei als Handwerk zu bezeichnen und auch als Handwerk zu betrachten. Irgendwie wollte man sich romantischen Vorstellungen gegenüber abgrenzen. Schriftstellerei sollte nichts mit Dichtergenie zu tun haben, sondern - eben mit Handwerk. Daher wurde die Schreibstube des Schriftstellers zur »Werkstatt« erklärt. Während zuvor die Romantiker (Romantik hier nicht allzu eng als Epochenbezeichnung zu verstehen) sich nach außergewöhnlichen und nicht alltäglichen Bewußtseinszuständen und geistigen Welten sehnten und so etwas wie ein Bohemienbewußtsein für Künstler und Schriftsteller bevorzugten, sollte sich nun die Schriftstellerei dem zuvor als philiströs verachteten Alltagsmenschen annähern. Manche nannten es sogar »Volksverbundenheit«, was natürlich auch einen gewissen elitären Standpunkt präsupponiert: Man fühlt sich anders als das »gewöhnliche« Volk, aber diesem doch verbunden. Gegen den Geniekult kultivierte man nun die Werkstätten des Schreibens, das Handwerk der Literatur und Text statt Dichtung. Aber pragmatischer war diese Einstellung kaum.
Doch selbst wenn man zugesteht, wozu ich auch gerne bereit bin, daß die Schriftstellerei nur zu einem geringen Teil mit Dichtergenie zu tun hat, ist es unmöglich, sie als Handwerk zu bezeichnen. Ein Schreiner ist Handwerker, ein Klempner oder Dachdecker, aber doch kein Schriftsteller. Ein Buchbinder ist ein Handwerker, von mir aus auch ein Setzer, wenn es diesen Beruf überhaupt noch gibt und er nicht digital modernisiert zum Layouter geworden ist. Aber ein Schriftsteller ist kein Handwerker. Er ist ein Kopfwerker und sonst nichts.
Natürlich muß auch ein Handwerker bei der Arbeit denken, planen usw. Aber das Ergebnis seiner Arbeit soll kein Gedankenwerk sein, sondern ein Handwerk, also auch konkret anfaßbar. Und das hat auch nichts mit dem allseits beliebten und sattsam bekannten Gegensatzpaar Theorie vs. Praxis zu tun. Theorie und Praxis sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ein Tischler macht einen Plan, überlegt, wie er etwas zuschneiden muß, misst nach usw. Das ist seine Theorie, zu der auch die Begriffe und Kenntnisse der Regeln seines Handwerks, die Technik und die Vermittelbarkeit dieses Handwerks an andere Menschen gehören. Ein Roman ist keine Theorie. Jedes Fach, jedes Handwerk oder allgemeiner jeder Beruf hat seine Theoretiker. Ein Schriftsteller ist daher nicht per se ein Theoretiker seines Berufes und schon gar nicht Theoretiker gegenüber den anderen Berufen, von dessen Theorie er höchstwahrscheinlich nichts versteht. Er ist, wie schon gesagt Kopfwerker. Doch das ist nicht zu verwechseln mit Theorie.
Man mag einwenden, im Zusammenhang mit der Schriftstellerei von Handwerk zu sprechen, sei auch mehr eine metaphorische Ausdrucksweise. Doch wozu diese uneigentliche Übertragung? Ich vermute, daß Schriftsteller, die sich »Handwerker« nennen, und sei es auch nur im übertragenen Sinne, nicht von der Dignität ihrer eigenen Arbeit überzeugt sind. Sie haben das Gefühl, ihre Arbeit der Arbeit der Handwerker gleichstellen zu müssen, indem sie sie gleich benennen. Für sie sind nur Blaumann und Werkzeugkasten Insignien der Arbeit. Wenn sie keine Schwielen an den Händen bekommen oder ölverschmutzte Finger, haben sie nach ihrem Begriff keine Arbeit geleistet. Daher das verzweifelte Mühen um die Metapher mit dem schlechten Gewissen, nur herumzusitzen oder spazieren zu gehen oder nur Kaffee zu trinken oder auf dem Bett bequem ausgestreckt ein Buch zu lesen. 
Kopfarbeit aber konnte bis vor kurzem nahezu überall vonstatten gehen. Erst in den letzten Jahren hat sie sich durch den Computer verändert, der uns Kopfwerker an das Gerät und damit an einen Arbeitsplatz bindet. Ich bin versucht zu sagen: die Schreibmaschine gewährte uns da größere Freiheiten. Aber angesichts der leicht tragbaren Elektronik in Form von Laptops ist diese Behauptung obsolet. Der Computer macht es möglich, gigantische Mengen von Notizen und Texten, ständig dabei zu haben, so daß der Arbeitsplatz eines Schriftstellers wirklich vollkommen mobil geworden ist. Notizen, Aufzeichnungen, verschiedene Versionen eines Textes waren noch nie so leicht mitzuführen und zu verwalten wie heute mit dem Computer. Die Festplatte enthält all die Dinge, die wir früher anderweitig zu verwahren und zu verwalten hatten. Das elektronische Archiv macht den Text so ätherisch wie die Gedanken im Kopf. Sie sind schriftlich fixiert und manifest vorhanden und doch in der elektronischen Virtualität leicht flüchtig. Das Schriftbild kann uns die endgültige Reinheit und Klarheit eines Buches vermitteln, jede Notiz erhält in Druckbuchstaben und Blocksatz eine unabänbderlich wirkende Erscheinungsweise, und doch ist der Text im elektronischen Archiv auch beunruhigend schnell zu verlieren. Der Umgang mit dem Computer ist sicherlich nicht uns allen in Fleisch und Blut übergegangen. Wir tauchen nicht vollständig ein in die Virtualität, unser Büro bleibt auch oft physikalisch manifest. Auf dem Papier können viele von uns noch besser Korrektur lesen als auf dem Bildschirm. Aber nichtsdestotrotz entfernen wir uns immer mehr von der Mechanik einer Werkstatt, die nie das Zuhause eines Kopfwerkers war. Den Ort, wo mit Dokumenten, Ordnern, Karteien und Verzeichnissen gearbeitet wird, nennt man nicht Werkstatt, sondern »Büro«. Das Wort selbst ist mit »Tuch« verwandt und bezeichnete einen mit einem Tuch überzogenen Tisch, auf dem Geldmünzen geprüft und gezählt wurden. Dann übertrug sich der Ausdruck auf den ganzen Raum und bezeichnete Amtsstuben und Verwaltungszimmer.
Wenn ich anderen einen Einblick in meine Arbeit als Schriftsteller gewähren will, soll der erste Schritt damit getan sein, daß ich sie nicht mit Metaphern des Handwerks belege.

17. Oktober 2002

Wenn der »Interpret« von der Etymologie her ein »Zwischenredner« ist, so verstehe ich meine Literatur als ein Zwischenreden in den langen literarischen Monolog der Jahrhunderte. Ein Dazwischenreden. Ein Zwischenruf mag von manchen als Störung empfunden werden und von anderen als eine ironische, witzige oder satirische Erheiterung - mir ist beides recht. Den unendlich scheinenden Monolog durch dazwischenreden zu unterbrechen und durch eigene Interpretationen einen Dialog zu suchen und dabei für Erheiterung oder einfach nur ein Aufhorchen zu sorgen, ist eine große und großartige Aufgabe, der ich nur gerecht zu werden versuchen kann.
SeitenanfangHomeNachrichten aus dem Büro Start