Uri Bülbül
14. September 2005"Alfons Albermann" hat eine stattliche Größe angenommen, wenigstens, was die Seitenzahl anbelangt. Gut und gerne dreißig Seiten habe ich über ihn, die vielen Frauen, die ihn umgeben, und die Geschichte, die er erleben wird, erzählt. Die Geschichte selbst, da darf ich auch nicht zu viel verraten, steht noch aus, obwohl ich in meinen Aufzeichnungen und in meinem Kopf ganz genau weiß, was ihm widerfahren wird. Ganz nebenbei: ich glaube, "Alfons Albermann" wird auch eine autobiografische Erzählung - natürlich hat er nichts mit mir zu tun :-) Das wäre ja nun auch zu einfach. Aber der Erzähler spricht von einer schriftstellernden Person, die nicht namentlich genannt wird. Irgendwie erinnert er mich an jemanden, dem ich mal begegnet bin. Kennen wäre wirklich zu viel gesagt, und erkannt habe ich ihn auch nicht, obwohl das delphische Orakel es einem schon am Eingang anrät.Die Post mit BRACHLAND ist raus. Nun soll das Manuskript seinen Weg durch Lektorenhirne nehmen, nachdem schon einige meiner Bekannten die Novelle nicht gelesen oder für mich nicht kommentiert haben, obwohl ich sie inständig darum gebeten hatte. Nur ein einziger, dafür aber ein wahrer Freund, hat sich die Mühe gemacht und sich telefonisch mit mir auseinandergesetzt. Reaktionen von anderen sind sehr wichtig, weil man selbst immer die Distanz zum eigenen Text verliert und manchmal sogar nicht einmal merkt, daß man etwas doppelt erzählt. Jedenfalls trägt die Novelle als Teil des Hypertextromans den Untertitel "Lemmings Erzählung". Und Lemming ist die Figur, der ich mich im nächsten Teil meines Hypertextromans intensiver zuwenden werde. Ich nenne diesen Teil gerne den Labyrinth-Roman. Er ist der wesentlich ältere Teil der Arbeit und wird nun noch später fertig, als gedacht, weil sich auch "Alfons Albermann" vorgedrängelt hat. Aber das essayistische Erzählen hat mich nunmal gepackt und gänzlich in seinen Bann gezogen. Und der Labyrinth-Roman, das muß ich sagen, hat so gar nichts Essayistisches. Der Hypertext-Roman insgesamt trägt den Titel ZERFAHRENHEIT, wie man auch der Startseite meiner Homepage ansehen kann. Den Prolog-Teil des Romans habe ich auf eigene Faust im Netz veröffentlicht. Wenn alle Teile mal fertig sind, wird das Netz-Lebenswerk ;-) auf CD-ROM gebrannt und gegen schnödes Geld dem Publikum feilgeboten. Und Teile daraus, wie zum Beispiel das BRACHLAND gibt es auch irgendwann als Buch zu kaufen und zu lesen. Das ist der Plan. Die ZERFAHRENHEIT wird sieben (!) Erzählungen enthalten, und neuerdings steht auch fest, daß eine davon ALFONS ALBERMANN sein wird. Die Fabel der ZERFAHRENHEIT werde ich heute nicht darlegen. Der Prolog jedenfalls verrät nicht so viel, als daß man auf ihn verweisen und sich mit diesem Verweis begnügen könnte. Sie mit einem Gattungsmerkmal charakterisieren zu wollen, trägt leider auch nicht weit. Könnte ich beispielsweise sagen, es handle sich um einen Kriminalroman, so könnte man sich etwas darunter vorstellen, auch wenn man noch nichts Genaues über die Fabel wüßte. Aber, so viel ist gewiß, die ZERFAHRENHEIT ist kein Kriminalroman. Sie ist über ihre Struktur charakterisiert ein Hypertext-Roman, was nun so gar nichts über die darin enthaltene Geschichte aussagt. Wer BRACHLAND liest, kann sich schon Einiges zusammenreimen, obwohl die Novelle, wie es sich gehört, mitten im Geschehen beginnt: Lemming hat bereits seine Amnesie und Niklas soll ihm dabei helfen, sich wieder zu erinnern. Niklas spricht einen grausamen Verdacht aus, und man weiß nicht so recht, ob er damit seinen Klienten ärgern will, testen oder ob er tatsächlich konkrete Hinweise hat. Ich würde ja sagen: Genießen Sie die Novelle, vielleicht erfahren Sie mehr. Aber zunächst ist mein Lieblingsverleger am Zug, der zwar mein Liebling, aber keineswegs mein Verleger ist, und der womöglich von seinem Glück noch gar nichts ahnt und vielleicht, ja wahrscheinlich sogar gut und gerne auf dieses Glück in Form meines Manuskriptes verzichten würde und auch wird :-( Ich habe ihn gebeten, er solle mir eine ehrliche und offene Antwort geben und möge auf eine Standardabsage verzichten. Ja, das macht so einen wie mich, schon ganz schön glücklich, und ich wäre mutig oder verrückt genug, seine Antwort hier zu veröffentlichen, wenn er sich nicht schäbig auf sein Verlagsprogramm zurückzieht, in das mein Text angeblich nicht paßt oder sonst irgend etwas Ähnliches. Allerdings muß ich sagen, daß ich auch Standardabsagen gut verstehen kann: Lektoren und Verleger sind nicht mit einem Erziehungs- oder Aufklärungsauftrag versehen. Sie müssen ihr täglich Geschäft im Auge behalten und haben außerdem guten Grund zu befürchten, daß ein detailliertes Eingehen auf abgelehnte Manuskripte unsägliche Debatten nach sich ziehen kann. Ich erfahre in der Arbeit unseres Literaturvereins genügend Wahnsinn und Geniegeschwätz, daß es mir Angst und Bange wird, wenn ich mir nur annähernd vorstelle, wie es wäre, jeden Tag drei detailliert begründete Absagen zu versenden. Daraus können sich Korrespondenzen entspinnen, die den geduldigsten Lektor in den Wahnsinn treiben. Um die Literaturkritik ist es hierzulande, soweit ich es beurteilen kann, nicht gut bestellt. Der Raubbau an der Germanistik hat zwar noch nicht so sehr um sich gegriffen und zeigt auch noch keine Wirkungen, weil er zur Zeit noch in vollem Gange ist. In zehn Jahren allerdings wird es nicht nur keine AutorInnen geben, die Kritik verstehen und vertragen können, sondern auch keine Lektoren, die dazu fähig wären, Kritik zu äußern. Zur Zeit glaube ich noch daran, daß der Mangel im Umgang mit Kritik auf Autorenseite größer ist als auf der Seite der Lektoren, was aber genaugenommen eine wilde Spekulation ist, da die wortkargen Absagen keine Rückschlüsse auf die Kritikfähigkeit ihrer Verfasser zulassen. Die literarische Kultur zu fördern und zu stärken, müßte etwas mit den Universitäten zu tun haben und natürlich darüberhinaus mit der Arbeit von Literaturbüros und Literaturvereinen, mit Bibliotheken und Schulen, mit Feuilletons und Literaturzeitschriften. Der Diskurs aber ist insgesamt nicht über die Romantik hinausgekommen. Immer wieder wird mir kurz entgegengeschleudert: entweder man kann schreiben oder nicht, lernen kann man es nicht. Ich sehe es ganz anders: wie jede andere Fähigkeit läßt sich das Schreiben und der sprachliche Ausdruck trainieren und stärken, es lassen sich Fortschritte erzielen und Talente ausbauen. Ebenso kann umgekehrt ein Talent auch verschüttet werden, wenn es nicht Kritik erfährt und sich mit Hilfe der Kritik weiterentwickelt. Wenn Schreiben tatsächlich zum einsamen Geschäft wird, in dem die AutorInnen alleingelassen werden und nur noch in ihrem eigenen Saft schmoren und ihre Texte nur mit wohlmeinenden Familienangehörigen und Freunden diskutieren können, verliert die literarische Kultur. Wie der Fußball unzähliger Vereine bedarf, in denen trainiert, geübt und gespielt wird, bedarf auch die Literatur solcher Vereine, in denen geschrieben, diskutiert, gelesen und kritisiert wird. Im Unterschied zum Fußball sind solche Literatur- und Bildungsvereine seltener geworden. Der Deutschunterricht der Schulen fängt in diesem Bereich nichts auf, und richtet teilweise sogar ganz im Gegenteil einen erheblichen Flurschaden an. Pflege der schriftstellerischen Kultur oder ein bißchen niedriger gehängt: des Schreibens müßte bei Lehrerinnen und Lehrern beginnen und weitere Kreise ziehen. Wichtig wäre es in jedem Fall wegzukommen von den albernen Spielereien des sogenannten Creative Writing. Diese fördern weder die Schreibkreativität noch die Kritikfähigkeit. Sie sind noch weniger als Blechdosenkicken beim Fußball. Und vor allem tummelt sich in diesem Bereich Hinz und Kunz; jeder hat angeblich irgendeinen Kurs vorzuweisen, der ihn befähigt, selbst Schreibkurse zu "leiten", was unter dem Strich hierbei geschieht kann als eine Analphabetisierungskampagne eingestuft werden. Trotzalledem wird der Zufall immer wunderbare Autodidakten hervorbringen, die man dann als Glückspilze oder Genies feiern muß, weil die Kultur sich selbst dem Zufall überlassen hat. Deutschland braucht keine Germanisten, weil die Deutschen von Geburt an ihre Sprache so wunderbar beherrschen. 02. September 2005Die Lesung von Literatur.geortet "Feuer im Foyer" liegt hinter uns. Nun kann ein, zwei Tage lang ein Aufatmen durch das Büro gehen. Wichtig aber ist, daß schon neue und sehr lustvolle Aufgaben auf uns warten. Erwogen wird ein Theaterprojekt. Dieses aber kommt für September absolut noch nicht in Frage, weil der Terminkalender dieses Monats schon voll ist. Seit fast einem Jahr wartet das Medienbuch auf seine Vollendung, und genau dieses wird nun auch in Angriff genommen. Voraussichtlich werden die Arbeiten daran bis Ende Oktober dauern. Der September gehört aber auch der Erzählung "Alfons Albermann", die in den letzten Nachrichten aus dem Büro bereits Erwähnung fand. Die Entstehungsgeschichte dieser Erzählung hat etwas mit der Technik zu tun, die neu ins Büro Einzug gehalten hat. Die Computerisierung des Büros selbst ist mittlerweile fünfzehn Jahre alt. Neu dagegen ist die Erweiterung des Computers durch eine Tastatur mit eigener völlig unkomplizierter Speichereinheit, die an die hundert Seiten Text umfaßt. Es handelt sich um den AlphaSmart 3000, der dem Schreibhaus e.V. probeweise kostenlos von der Firma Backwinkel zur Verfügung gestellt wurde. Der AlphaSmart ist ein leicht zu bedienender quasi auf die Tastatur reduziertes und -was meiner Meinung nach besonders wichtig ist- absturzresistentes elektronisches Schreibgerät. Die Möglichkeiten seiner Textverarbeitung halten sich in Grenzen. Aber eine Rechtschreibprüfung ist ebenso per Knopfdruck möglich wie Ausdruck oder Kopieren und Einfügen von markiertem Text in eine andere Datei. Man kann Texte eingeben, bis zu acht Dateien verwalten, die etwa jeweils zwölf bis fünfzehn Seiten Text enthalten können und kann das Gerät leichter als einen Laptop mit einem enormen Standby im Vergleich zu einem Laptop mit sich führen und überall zum Schreiben einsetzen. Der Alpha Smart bootet nicht, hat keine Festplatte, stürzt nicht ab und kann jederzeit an- und ausgeschaltet werden, ohne daß die Dateien verlorengehen. In seinem Format ist er kleiner als eine A4-Kladde und kann genauso leicht benutzt werden. Für Autoren ein hervorragendes Schreibgerät, nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum Computer. Ganz ohne Software und Systemprobleme läßt er sich über USB-Port oder bei Mac über die Apple-Tastatur an einen Computer andoggen und überträgt seinen Inhalt nach einem einzigen Knopfdruck. In einer schlaflosen Nacht klemmte ich ihn mir unter den Arm, ging in die Küche und begann meine Erzählung "Alfons Albermann". Sie ist nicht mein erster literarischer Text, in dem die Schreibsituation und das Schreibgerät selbst thematisiert werden. Die materiellen und sozialen Bedingungen der Schriftstellerei zu reflektieren gehört zu meinem Autorenselbstverständnis. Böse Zungen bewerten das als eine erweiterte Nabelschau, die nicht nur in die Psyche schaut, sondern auch mal auf die Finger des Autors. Warum nicht?In der Geschichte des Niklas Hardenberg, die ich zunächst einmal in einem Hörspiel DER AUFTRAG festgehalten habe, um sie dann noch einmal in der Novelle BRACHLAND aufzugreifen, wird der Umgang mit technischen Hilfsmitteln der Schriftstellerei motivisch thematisiert. In BRACHLAND dagegen rückt das Büro in einige Meter Entfernung und wird von den Protagonisten nur zur Spurensuche kurz betreten, wobei sie aber darin nichts finden, was sie interessiert. Erst im Folgeroman mit dem Titel DAS ENDE MEINES ROMANS wird sich der sogenannte intellektuelle Investigator Niklas Hardenberg, der zynische Mittvierziger, dem sich Lemming in seiner Amnesie anvertraut, um seiner Identität wieder auf die Spur zu kommen, als philologischer Spurensucher in dem besagten Arbeitszimmer betätigen. Spurensuchen führt natürlich zum Schreiben eines Textes - eben zu dem besagten ENDE MEINES ROMANS, aber führt es auch zu einem Ziel? Die große Erzählung als Kriminologie muß einfach thematisiert werden und noch einmal die Philosophie des Krimis überhaupt ;-) Kurz und wahrscheinlich verkürzt kann man sagen: Die Erzählsturktur des Krimis hat seine affirmative und apologetische Funktion darin, daß er auflösbare Fälle mit logisch aufschlüsselbaren Motiven, Handlungsabläufen und eben einem Ende mit der objektiven Lösung eines Falles präsentiert. An dem Ergebnis der Erzählung, der Untersuchungen und Verfolgungen läßt der Krimi nur ganz selten einen Zweifel offen. Die Ermittlungen führen, wie kompliziert und irrig sie auch verlaufen mögen, immer zu einem eindeutigen und unbestritten wahren Ergebnis. Die Teilverlorenheit eines Marlows im Großstadtdschungel und seinen seltsamsten oder luxuriösesten Milieus hat schon etwas Nostalgisches. Nur mit Eckpfeilern der Wahrheit läßt sich ein "Fall" konstruieren oder als solcher erkennen. Manche Krimis thematisieren diesen Aspekt und werfen die Frage auf: Liegt hier überhaupt ein Fall vor? Ist ein Verbrechen wirklich geschehen, oder spinnt sich der Ermittler in irgend etwas ein? Wie aber kann man, und das ist meine Frage, die mich immer wieder beschäftigt, der Wirklichkeit des Verbrechens tatsächlich auf die Spur kommen? Kann man sich hierbei auf das Strafrecht beschränken? Oder muß man moralische, kulturelle, soziale, psychische "Verbrechen" mit in die Waagschale werfen? Wo sind die Grauzonen der Legalität, wo sich mehr Menschen liebend gern aufhalten, als man glaubt, zumal man es für sich selbst nicht wahrhaben möchte. Einen interessanten Umgang damit hatte Gregor Gysi in der Flugaffäre. Der Witz bei der Sache ist nicht, daß es entgleiste und der Normalität entwachsene Individuen gibt, die sich dem Verbrecherischen auf eine gefährliche Art und Weise genähert haben. Der Witz ist, daß sich das Verbrecherische im Alltag vollkommen integriert und zur völligen Normalität wird und sich das Schuldbewußtsein abmeldet. Wenn aber das Verbrechen zur Normalität wird, kann man dann überhaupt noch und wenn ja mit welchem Recht von "Verbrechen" sprechen? DAS ENDE MEINES ROMANS wird Niklas Hardenberg an den Rand stalinistischer "Verbrechen" gegen die Menschlichkeit führen, die im Kleinen wie im Großen begangen werden. Vielleicht aber wird er auch einen Blick in die McKinsey-Welt werfen müssen. In dem Hörspiel DER AUFTRAG wurde Niklas Hardenberg eigentlich auch selbst zu einem "Verbrecher", und in den Gesprächen in BRACHLAND wurde dieses "Verbrechen" zur Normalität. Und unterm Strich aber gehört immer zur Normalität die Haltung: "Wieso? Ist doch nichts passiert!" oder "Selber schuld!" Können Täter mit ihren Opfern oder den Folgen ihrer Taten konfrontiert werden? Und wie reagieren sie darauf? Zu welchen Reaktionen und Erkenntnissen führen solche "Begegnungen"? Viele Fragen, die in einen AlphaSmart getippt werden können in einer schlaflosen Nacht. DER AUFTRAG beginnt mit einer klemmenden mechanischen Schreibmaschine und endet mit einem Laptop. Wichtig sind neben der Virtualisierung der Textwelt auch ihre Dynamisierung und die Mobilität der Autoren. |