Uri Bülbül

 

03. Oktober 2005

Am vergangenen Freitag saß ich vor dem Bildschirm und machte mir Gedanken darüber, wie ich meine nächsten Nachrichten aus dem Büro gestalten könnte. Über Alfons Albermann habe ich bereits berichtet, und noch möchte ich keine Textauszüge ins Netz stellen. Mehr liegt mir ein Essay am Herzen, den ich in der FRÜHSTÜCKSPOSTILLE des Schreibhauses, der Literaturzeitung des Vereins in einer Miniauflage, veröffentlicht habe. Über DIE VERGÄNGLICHE ZUKÜNFTIGKEIT GEGENWÄRTIGER TENDENZEN  wollte ich schreiben, als ich beim Abruf meiner Emails auf die Nachricht meiner Lebensgefährtin stieß:
«Hallo Uri,
gerade ist es 13:02 und ich bin hier fertig!!! Gehe vielleicht noch kurz in die Mensa und komme dann nach Hause.
War keiner mehr da, nur ein Anruf während der Sprechstunde. Mich wird hier also keiner vermissen ;-)
Die Zeit habe ich genutzt, um ein bißchen im Internet zu lesen und habe in der Süddeutschen von einer neuen Kampagne gelesen:
http://www.sueddeutsche.de/,panl2/panorama/artikel/455/61394/
Schlimmer geht immer. Am besten gefällt mir natürlich das Alice-Schwarzer-Plakat.»
Mit «hier» meint sie ihr Büro im germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum, wo mit dem 30. September 2005 ihr Vertrag als Mentorin zur Beratung und Examenshilfe auslief. Der Vertrag wurde nicht verlängert, weil das Mentorenprogramm eingestellt wurde. Sang und klanglos wickeln sich die Geisteswissenschaften ab, und die Ruhr-Universität Bochum hat es sich zur Aufgabe gemacht, hierin die Vorreiterrolle zu übernehmen. Mitte der 80er Jahre wurde von der Seite der Politik und Wirtschaft ein gigantischer Legitimationsdruck auf die Geisteswissenschaften erzeugt, was allmählich Wirkung zeigte und zu allen möglichen und unmöglichen Initiativen führte. Letztendlich mußte das Studium verkürzt und die Anzahl der Studienabschlüsse erhöht werden. Nach zwanzig Jahren, vom ersten Geschwätz an gerechnet, ist das Programm der geistigen Verödung fast perfekt. Wilhelm von Humboldt in seinem ganzen Idealismus völlig abgewickelt und erledigt; die windschnittigen und leistungsbereiten Absolventen mit tiefergelegten Hirnen, zu jedem Schnellschuß und geistigen Dünnschiß bereit. Geil nach PR-Kampagnen möchten sie nun endlich ins Berufsleben treten: Germanisten können Talkshows moderieren oder Quizzsendungen; selten stehen ihnen Redaktionsbüros der Tageszeitungen oder Wochenmagazine offen, noch seltener die Verlage mit ihren Lektoraten, die sie aus Wirtschaftlichkeitserwägungen immer mehr abwickeln. Der Schuldienst bietet sich einigen natürlich auch noch an. In dieser öden Atmosphäre der Paukenschlag: gestartet wird eine Medieninitiative: Du bist Deutschland. Darin investieren Verlage Millionen und geben den Menschen mit dieser Initiative das Gefühl, Du bist selber schuld, wenn du arbeitslos bist, hochverschuldet oder schlecht ausgebildet. Okay, die Botschaft ist angekommen: Immerhin läßt sich die unten zitierte Seite nicht einfach nur mit älteren Web-Browsern normal ansehen; nein, benötigt wird ein Flashplayer. Schön, daß Werbekampagnen für Softwareprodukte als Aufmunterungsversuche an das deutsche Volk gerichtet werden können. Jedem seinen Flash-Volksempfänger - die Botschaft ist angekommen. Kurios auch der Grammatikfehler in der rechten Spalte, vorletzten Zeile :-) Die Kampagne, die die Süddeutsche Zeitung unterstützt hat auf ihrer Startseite einen dicken, fetten Grammatikfehler: "Und dafür braucht man keinen Nobelpreis, keine Goldmedaille, oder einer [sic!] Fernsehshow." Anstatt in Flash-Werbung hätte das Geld auch in die Schulen und Universitäten gesteckt werden können. Aber es geht auch anders offensichtlich :-) Immerhin wird der Mann, der so freundlich und kommunikativ Fragen vom Bildschirm ablesen kann und die richtige Antwort verkünden, wenn sie auf dem Schirm aufleuchtet, nun mit dem Entdecker der Relativitätstheorie in einem Atemzug genannt. Mir war die monströse Werbung, in der Roman Herzog dem deutschen Volk einen Ruck abverlangte und dabei so aussah, als wäre er das negative Abziehbild seines Verlangens, fast schon lieber. Unsereinem bleibt fast nichts anderes mehr übrig, als bei Nacht an Deutschland zu denken.
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